: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Samstag, 15. Dezember 2012

Mobilversaut

Am Morgen, trotz Eis und Rutschpartien, sind sie doch wieder alle da und beleben den tristen Raum, den zwei Klassiker des grosskotzigen Fortschrittsversagens einrahmen: Das Rathaus und die Stadtsparkasse. Man hat den Platz so richtig tot gemacht und alle Chancen vertan, die man hatte, weil ja alles modern und der Zukunft zugetan sein muss, damit sich auch Gäste aus aller Welt wie daheim fühlen können. Bezeichnenderweise ist der Platz reine Durchgangsstation, es sei denn, es ist hier ausnahmsweise Wochenmarkt mit regionalen Spezialitäten. Dann ist hier was los. Und alle beschweren sich, dass hier immer der Wind so scheusslich weht. Haben sie toll gemacht, die Stadtoberen.



Da kann sich die Gemürlichkeit nicht richtig entwickeln, also mache ich meine Einkäufe und stapfe, rutsche und tapse zurück nach Hause, wobei, ein kleiner Abstecher zum Buchladen ist eingedenk des Klimas sicher auch keine ganz schlechte Idee. Dort jedoch wartet die nächste unschöne Begegnung mit der Zukunft auf mich: Manche Verlage verlangen jetzt zwei Euro mehr für ihre Bücher; dafür ist auch ein Code dabei, mit dem man das E-Book herunterladen kann. Und alle, die das nicht tun, zahlen das mit. Sprich, der Verlag verhält sich wie ein asoziales Stück Scheissdr die Stromkonzerne eine Bank die GEZ und kassiert von allen für eine Leistung, damit ein paar mobilversaute Nerds einfacher an ihr Wischzeug gelangen. Das ist der Moment, da ich in Kaufstreik gehe und mich anderen Büchern zuwende.



Mobilversaut ist übrigens nicht meine Wortschöpfung, ich habe das von Franziscript übernommen, die das vermutlich berufsbedingt sein muss. Kein Drama, bei mir müsste es ähnlich sein. Ist es aber nicht, ganz im Gegenteil, die paar tausend Leute bei G+ sind mir so egal wie das, was ich gerade bei Twitter erlebe; ich mache den Kanal auf, weil es nötig und für manche praktisch sein kann, und dann tue ich das, was ich am besten kann, und auch nur so lange, wie ich brauche. Bei Twitter bekommt man, viel schlimmer als im Blog, die volle Ladung der Onlineaktivitäten mit, und da fragt man sich als älterer Herr in einer bayerischen Kleinstadt schon, wann die mal Schluss machen. Es gibt so ein Video im Netz von einer Hochzeit, und im wichtigsten Moment klatschen sie nicht, sondern zücken alle ihre Mobiltelefone und machen verwaschene Telefonbilder: Würde ich so etwas machen, müssten die Leute Schusswaffen und Elektrogeräte draussen abgeben. Ich würde Menschen um mich haben wollen, und keine netzwerkenden Maschinenerweiterungen. Ich möchte es mit leuten zu tun haben, die wissen, wann Zeit für die Liebe und das Leben ist, und wie sie sich zu verhalten haben, wenn sie Zeuge der Intimität sein dürfen.



Oh, sicher, das wird die Normalität sein. In Raymond Chandlers "The big sleep" geht es unter anderem um eine Buchhandlung, in der heimlich Pr0neaux verliehen werden; das war damals auf der ganzen Strecke ein komplexes und riskantes Geschäft, und das Anrüchoge hätte man auch vor 20 Jahren sicher so empfunden. Heute ist das unvorstellbar; das, wofür der Buchhändler Frauen unter Drogen setzen musste, wird heute als mit dem Handy erstellte Taschengeldergänzung vertrieben und muss sich mit einer Unzahl von freien Angeboten im Netz herumschlagen. Photos leihen? Heimlich holen? Angst haben? Wegen ein wenig Geschlechtsverkehr im Bewegtbild? Kaum. Mit Geolokalisation, Facebook, Gesichtserkennung und Statusanzeigen wird sich vielleicht auch im privaten Bereich so einiges tun. Es gibt viele Möglichkeiten, gerade für all die gestressten Dauermobilisten; macht das mal. Ohne mich.



Für mich gibt es ein Geschenk, wie immer, man kennt sich aus einer Zeit lang vor dem Mobiltelefon und ist sich guter Nachbar. Ich könnte mir vermutlich auch meine Bücher als rezis beschaffen, wie es abgefyckte Anfangsfyckziger ohne Job aber mit Presseausweis in München tun, aber ich will das auf gar keine Fall. Ich möchte Bücher kaufen und besitzen. Ich habe gar kein Interesse an Downloads und lesen am Rechner, ich will ein Buch und ein Sofa und Tee in einer Silberkanne, und dann Stunde um Stunde nichts von diesem Netz mitbekommen. Und dann, wenn ich dort wieder arbeite, über die Versauten lachen, die in der Zeit wieder 30 wichtigtuerische Tweets veröffentlicht haben und nicht verstehen, warum man sie nicht endlich kauft: Ganz einfach, kulturloses Geschmeiss gibt es im Internet noch grenzen- un kostenloser als alle illegalen Downloads. Zahlen? Nie.



Jeder kann heute E-Book-Autor sein, es ist ganz leicht. Liest das wirklich jemand? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Die Mobilversauten vielleicht. Die digitale Elite, die Fortschrittlichen, zwische zwei Pr0neauxdownloads. Warum auch nicht, das ist eine eigene Welt.

Und meine ist die andere. Ich bin buchversaut. Und ich lache über jene, die Mobilität für ein Feature und keinen Bug halten, und von einem Haus, das wie die Stadtsparkasse aussieht, zum nächsten, das dem Rathaus ähnelt, hasten müssen, mit all den Insignien des Fortschritts, und sich wundern, warum man sie einst so überwischen wird, wie sie selbst Content überwischen.

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