Was dabei herauskommt,

wenn Betriebswirtschaftler ohne geschichtliches Wissen versuchen, diesen Mangel zum Argument zu machen.

Es begab sich also zum Ende der New Economy, dass manchem Verantwortlichen an einer gewissen Hochschule in St. Gallen, bei uns damals nur als "Galle" bezeichnet, der Umstand erkenntlich wurde, dass das bisherige System der Elitezucht angesichts der von Absolventen verursachten Todesraten dieser schwarzen Zeit dringend reformbedürftig war. Statt der reinen Ausbildung zum Unternehmensgründer, Consultant-Partner und Nachwuchsvorständler meinte man den jungen Leuten auch etwas Kultur mitgeben zu wollen, und kaufte dafür Kulturwissenschaftler ein, um ihnen sowas wie "soziale Intelligenz und Kreativität" mitzugeben. Eine dieser Personen ist ein guter Freund, und der meinte, frisch aus der Schweiz zurück, über die dortigen Studierenden: "Die haben zwar alle keine Ahnung, aber das können sie prima in Powerpoint umsetzen."

An diese Zeit musste ich denken, als mir dieser Versuch einer Replik auf meine Antwort auf einen Beitrag einer notorischen Puppe unterkam. Ich möchte keinesfalls bezweifeln, dass diese Person etwas Ahnung von Betriebswirtschaftslehre hat. Aber es wird offensichtlich, dass er vollkommen blank ist auf dem Feld der Geschichtsforschung, und hier nun wird diese Schlacht geschlagen.

Da freut es mich besonders, wenn dann eine Formulierung wie "Kolonialmächten, die bereits vor 1500 nicht-absolutistische Ordnungen hatten" kommt. Vor 1500 war es naturgemäss in Europa schwer, eine absolutistische Ordnung zu haben - der Absolutismus existiert im Mittelalter, also vor 1500 nicht. Im Gegenteil, das Herrschaftsprinzip des Mittelalters kennt die dafür notwendige Einrichtung des weltlichen "legibus absolutus" nicht, des Herrschers, der über den Gesetzen steht. Ironischerweise ist es denn auch das vielgelobte, "freie" England unter Henry VIII, das zu Beginn der Neuzeit sowas wie der Prototyp des Absolutismus in Europa wurde - indem Henry VIII such selbst als Oberhaupt seiner Staatskirche einsetzte und damit über allem stand. Dass es im späten Mittelalter soweit kommen konnte, "verdankt" man in England übrigens den durchaus schaurigen Rosenkriegen, die nicht wirklich die Grundlagen der bürgerlichen Freiheit waren, wie etwa in den deutschen Reichstädten. Im Gegenteil vernichtete dieser Bürgerkrieg den Einfluss der Bürger zugunsten von Warlords und in der Folge eines diktatorischen Regimes, das danach noch anderthalb Jahrhunderte Religionskriege nach sich zog.

Zu denen bemerkt nun besagter Herr: "Wenn es in Augsburg die Fuggers gab und woanders in Deutschland noch die eine oder andere weitere erfolgreiche Kaufmannsfamilie, dann wird aus diesen Einzelfällen noch keine im Hinblick auf institutionellen Wandel einflußreiche Schicht von Kaufleuten, wie es sie in England oder den Niederlanden gab."

Oh Oh. Eigentlich sollte ich hier still geniessen, wie sich da jemand argumentativ selbst meuchelt. Offensichtlich kennt da jemand das Universalreich Philipp II von Spanien nicht, zu dem Spanien, Portugal, Oberitalien, das heilige römische Reich und eben auch die vielgelobten Niederlande zählten. Sprich, das alles war damals ein Herrschaftsgebiet, und Phillip und tat militärisch alles, dass die Bürger dort nicht aus der Reihe tanzten.

Nochmal zur Verdeutlichung: Den Niederlande gelang es erst nach einer blutigen Erhebung gegen die Spanier und einem Handelskrieg im fernen Osten mit den Portugiesen, zur Handelsmacht aufzusteigen. Wobei man auch hier beachten muss, dass es nicht "die Niederlande", sondern die Patrizierschicht der Niederlande war. Davor war ihr nicht geringes Haupteinkommen der Handel mit dem Baltikum.

Und was die deutschen Kaufleute angeht: Im Mittelalter verlief die Geschichte der grossen Handelsstädte vergleichsweise ähnlich, die Händler erstritten sich Rechte, entmachteten Bischöfe und wurden reichsunmittelbar, was faktisch in eine Diktatur der Patrizier mündete, einer Art Oligarchie. Bei relativ ähnlicher Entwicklung der führenden Schichten änderten sich aber die führenden Handelsmetropolen: Im Hochmittelalter waren Köln und Regensburg führend, Regensburg beispielsweise durch das Seidenmonopol seiner jüdischen Bewohner. Im späten Mittelalter stiegen dann durch die Wollwirtschaft Erfurt, Ulm, Brügge und Konstanz auf, die allesamt, auch Brügge, in der frühen Neuzeit von Konkurrenten wie Augsburg, Nürnberg und Amsterdam überflügelt wurden. Gerade hier wäre es aber möglich, die Zusammenhänge zwischen Bürgereinfluss und wirtschaftlichem Erfolg aufzuzeigen, die Königsmacher der Fugger und die Compagnia der Bardi in Florenz sind zwei ganz famose Beispiele für die Macht der Bürger im späten Mittelalter. Insofern war es nur logisch, dass die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts allerorten die bürgerlichen Bestrebungen zerstört wurden - Florenz wurde Herzogtum, Regensburg ging pleite, Erfurt wurde in den Religionswirren zerstört, Konstanz durch Zürich vom Hinterland abgeschnitten, der Städtebund um Ulm gebrochen, die Fugger gaben nach der Erhebung in den Fürstenstand den Handel weitgehend auf, Nürnberg dagegen konnte auch im 17. Jahrhundert noch spielend mit den glanzvollsten Handelsstädten der Niederländer mithalten.

Was sagt uns das alles? Dass Geschichte extrem komplex ist, viel komplexer als irgendwelche Berechnungen. Und von einer enormen Vielzahl von Faktoren abhängt. Es ist nicht zu bestreiten, dass unter gewissen rechtlichen Bedingungen handelndes Bürgertum wirtschaftlich erfolgreicher sein kann als ein absolutistischer Staat. Allerdings kann auch ein absolutistischer Staat wie Frankreich höchst erfolgreich sein - nicht umsonst brechen die angeblich so erfolgreichen Niederlande im 18. jahrhunderte bei aller Freiheit massiv ein, als sich Frankreich politisch führend wird. Und das angeblich so erfolglose Portugal wird gleich zweimal durch seine Kolonien nochmal zum reichen Land: Ende des 18. und Ende des 19. Jahrhunderts durch den Kakaoboom. "Kann" heisst also nicht "muss". Die da von der Gegenseite geforderte Betrachtungsweise ist daher abzulehnen: "Wie viele Nicht-Ökonomen hat auch Herr Alphonso gewisse Probleme damit, reale anstelle von nominalen Veränderungen zu berücksichtigen und vom Einzelfall zu abstrahieren, um durchschnittliche Tendenzen zu erkennen."

Denn diese Forderung ist allein, wie oben erkenntlich, der Unfähigkeit der anderen Seite geschuldet, die Einzelfälle überhaupt zu kennen - da hilft es nichts zu argumentieren, das ginge am Thema vorbei. Erst deren Kenntnis erlaubt so weitreichende Schlussfolgerungen, wie sie im fraglichen Beitrag getroffen und von der anderen Seite zusätzlich überspitzt dargelegt werden. Dem Beitrag und der anderen Seite liegt ironischerweise das gleiche mechanistisch-materialistische Geschichtsbild zu Grunde, das auch einen Karl Marx in die Irre geführt hat, Stichwort "Frühbürgerliche Revolution", in der eine komplexe Situation für die jeweilige ideologie passend geprügelt wird. Marx als Kind seiner Zeit mag man vergeben, aber nicht unseren Zeitgenossen, die es besser wissen könnten und müssten.

Im Kern wird da nämlich nicht die durchschnittliche Tendenz erkannt, sondern genau andersrum die offensichtlich gut laufenden Beispiele so weit wie möglich für die Theorie eines erfolgreich agierenden "Bürgertums" im Gegensatz zu einem reglementierenden Staat zurechtgeschrieben; etwas, das man im England des 16. und 17. Jahrhunderts aber faktisch ausschliessen und bei den Niederlanden selbst nach der spanischen Besatzung im Kern auch mit einigen weiteren Faktoren erklären kann und muss. Allein schon, weil das "Bürgertum" unzulässig gleichgesetzt wird mit der wirtschaftlich erfolgreichen Schicht - kleiner Hinweis noch am Rande, Ursache für die "Bürgeraufstände" in den Niederlanden um 1570 waren vor allem eine Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit und in Folge dessen eine Hungersnot der Bürger, die wirtschaftlich nicht so erfolgreich waren und in der Folge versuchten, die Besitzenden auszuplündern. Die andere Seite bringt in ihren kurzen Texten einfache Gleichungen, ähnlich wie "Lohnnebenkosten runter, Arbeitslosigkeit runter", oder "Spitzensteuersatz runter, Steuerehrlichkeit rauf". Dergleichen ist immer getragen von dieser Vereinfachung, dass Wirtschaft letztlich eine simple, vernüftige Gleichung sei, die eher die Gesellschaft dominiert denn von der Gesellschaft dominiert wird - wenn das so wäre, hätte es wohl keine New Economy gegeben, keinen schwarzen Freitag, keine Flowtex und Comroad, und keinen Wirtschaftskrieg des Dritten Reiches.

Die Forderung nach Abstaktion ist da nichts anderes als der Wunsch nach unzulässiger Vereinfachung. Sicher, mit solchen Methoden kann man eine tolle Powerpoint an die Wand werfen - aber in meiner Wissenschaft sollte man mit dergleichen eher vorsichtig sein, sonst steht man schnell als unwissender Phrasendrescher da. Weniger diejenigen, die in ihrem Artikel Hypothesen aufstellen, über die man debattieren kann - als vielmehr die Person, die dergleichen als Tatsachen darstellt.

Freitag, 30. Dezember 2005, 21:46, von donalphons | |comment

 
Nun ja - es gibt einen Bestseller, nämlich "Kinder der Eiszeit" von den Gribbins, in dem davon die Rede ist, dass im Mittelalter der arabische Indienhandel reine Landwege benutzt hätte und nach Osten das Zarenreich den Zugang zum Orient versperrt hätte. Sindbad war also Karawanenhändler, die Islamisierung der Malayen und Malayisierung der Madegassen hätte nicht stattgefunden, da keine Schiffahrt, die arabischen Daus, denen die portugiesischen Entdeckerschiffe nachgebaut waren, wären Wüstenschiffe gewesen, und Tamerlan bis Babur wären Zaren gewesen, jaja, das Zarat der Goldenen Horde...

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BWL
die etwas mechanistischen Argumentationen im Stil von "mehr freier Markt = automatisch Wohlstand + Arbeit" mit Berufung auf eine fast naturwissenschaftliche Rationalität der Betriebswirtschaft verhunzen den Ruf der ganzen BWL.
Wenn man schon während des Studium nicht mitgekriegt hat, das BWL bzw. Ökonomie eine Sozialwissenschaft ist und keine "Rechenwissenschaft"; spätestens nach ein paar Monaten in real existierenden Unternehmen sollte man es gemerkt haben.
Wenn man denn will...

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Ja wenn BWLer wenigstens rechnen könnten :-( Da muß man nicht mal in die Tiefen der Finanzmathematik einsteigen. Sich durch drei Semester Mathe/Statistik quälende BWLer wissen davon sowieso nichts. Ein Blick auf die durch BWLer und andere in der NE demonstrierte Rechen"künste" reicht. Was haben die Jungs und Mädels sich einen Müll zusammengerechnet. Da wurde sogar Staatsanwälten schwindelig.

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Was daran besonders interessant ist
Die unqualifizierten Äußerungen des besagten "Herrn" sind ungemein symptomatisch für das gesamte Neoconnard-Gschwerl. Bei uns ziehen sie ja offenbar nur hilflose Studenten an der Nase rum, doch drüben, da haben sie Geld und Macht.

Das Irak-Desaster verdankt sich genau dieser geschichtslosen Rumspinnerei mit vereinfachten Wirtschaftstheorien. Jeder Menschen mit etwas historischer und kultureller Bildung hätte (und hat ja auch) das kommende Desaster erkannt, das sich da im Nahen Osten vor unseren Augen vollzieht. Zigtausende Tote, 300 Milliarden versenkt: Hauptsache die Leute haben blaue Daumen (und einen heraufziehenden Bürgerkrieg mit Mullahdiktatur). Und schon machen sie weiter, im Iran, in Syrien... völlig beratungsresistent.

Man könnte das alles amüsiert und kopfschüttelnd verfolgen, wenn es nicht so schlimm wäre und es uns nicht selbst ursächlich beträfe.

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