: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Donnerstag, 5. Juli 2007

Hausbibliothek der Aufklärung IV

Werfen wir doch mal einen Blick in den Bücherschrank. Nehmen wir an, wir leben im 18. Jahrhundert in der besseren Gesellschaft, Bürgertum aufwärts, und es gibt dieses Möbel und auch den passenden Inhalt, der schon damals viel über den Besitzer aussagt. Draussen vor dem Fenster wird vielleicht gerade einer verbrannt, der eine Prozession nicht grüsste, oder man bringt auf einem Karren Leute zur Galeere, die das Pech hatten, wegen des falschen Glaubens denunziert zu werden - das übliche in dieser Zeit, aber wir sind drinnen und gucken Bücher:



Drei Bände Titus Livius über die römische Geschichte, dann ein theologisches Lexikon aus Heidelberg in zwei Bänden, ein einzelner Band der 12-bändigen Erstausgabe des Apostolischen Wörterbuchs für Landpfarrer von Hyazinthe de Montargon, die komplette Polemiken gegen die Häretiker von Sardegna, ebenfalls in der Erstausgabe, dann jesuitische Marienminne, und dann wird es heiss, ganz heiss: Boccaccios Decamerone, gedruckt 1730 in Venedig, und dann die Erstausgabe von Rousseaus Brie... aber halt, so weit sind wir noch nicht - überlegen wir mal - nach welchem Buch würden wir am wenigsten greifen?



Des Augustinermönchs Hyazinthe de Montargon Dictionnaire Apostolique von 1752, avec Approbation & Privilége du Roi, das sich explizit an die Pfaffen wendet, die auf dem Kaff bitte die Schäfchen bei der Stange halten sollen, verspricht allergrösste Langeweile und theologische Debatten auf niedrigstem Niveau. Das mag der Grund für seinen grossen Erfolg sein, denn das auf Französisch abgefasste Werk erfreut sich vieler Nachdrucke bis ins 20. Jahrhundert. Ein Grund mag auch die Stellung von Montargon gewesen sein: Er war der Hofprediger von Ludwig XV., und damit am Hof der direkte Gegenspieler von Diderot, Voltaire und vielen anderen fortschrittlichen Geistern.



Kurz, Montargon ist einer der religiösen Fanatiker, die zu der Zeit langsam ins Hintertreffen geraten und zu retten versuchen, was zu retten ist. Schon das Inhaltsverzeichnis macht klar, dass es hier um einen Kampf ohne Rücksicht auf Verluste geht. Die Pfaffen in den Käffern sollen die Hölle anheizen und den Leuten die Schrecken des jenseits grell auspinseln. Montargon hat nichts Neues zu bieten, er gibt nicht nach, er will das eigene Klientel mit Druck und Zwang gefügig machen. Die beliebte Form des Wörterbuchs verkommt unter seiner Feder zur Waffe der Gegenaufklärung, und die geneigten Leser werden sich nun fragen: Was hat ein Scheusal wie Montargon in einer Serie über Aufklärung verloren?



Nun, auch Montagon kann sich den modernen Fragen nach dem Bewusstsein des Menschen, seiner Fähigkeit zu Gut und Böse, nicht wiedersetzen. Es ist die Zeit, da Emilie de Chatelet - eine Frau! Eine Frau und damit etwas, das Montargon nicht einmal in sein Wörterbuch aufnehmen wird! - mit ihrem Discours sur le Bonheur das menschliche Bewusstsein als Unterstützer und Helfer der weltlichen Freuden definiert. Ein unfassbarer Affront, soll doch das Bewusstsein allein der Erkenntnis der Religion, der richtigen Religion dienen. Montargon verbeisst sich in das Thema "Conscience", belegt mit Bibelzitaten und älteren, kanonischen Schriften, wie es zu sein hat und was das Bewusstsein darf - bis Seite 54.

Ich weiss nicht, wem das Buch im 18. Jahrhundert gehört hat. Wer immer es war, er hatte eine diabolische Intelligenz und überhaupt kein Verständnis für Montargon, aber sehr viel bösen, zynischen Humor. Denn von Seite 55 an wurde das christliche Bewusstsein aus dem Buch herausoperiert, und statt dessen Platz für ganz andere Zeugnisse des menschlichen Bewusstseins geschaffen:



Wie gesagt: Draussen vor dem Fenster bringt man zu dieser Zeit Menschen um, wenn sie das Falsche glauben, oder auch nur das falsche Buch lesen. Justiz und Kirche lesen nicht Voltaire, sie machen kurze Prozesse. Mitunter gibt es Freiräume, aber viele Bücher erscheinen in Holland oder fingierten Druckorten. Kommt ein neues Skandalbuch, distanziert sich der Autor sofort. Nicht aus Koketterie, sondern wegen der Gefahr. Bücherverbrennungen sind ganz normal, wer Aufklärer ist, lernt oft für ein paar Monate das Innere der Bastille kennen. Da ist es gar nicht dumm, einen öden Montargon zu entdärmen, um sicher zu sein. Denn wer sollte schon nach so einem Langweiler greifen?



Selbst ich, der ich alte Bücher um ihrer selbst willen mag, hätte es beinahe wieder weggelegt. Ich habe schon ein Wörterbuch zum Thema, das mich nicht sonderlich interessiert. Nur der Einband erschien mir so prächtig und atypisch für diese banale Bauernverarsche, dass ich darin blätterte.

Und dann diese feine Gemeinheit entdeckte, und aus den Seiten fast das Kichern hörte, das in einem Salon des 18. Jahrhunderts erklungen war, wenn der elende Pfaffe endlich verschwunden war, im dummen, durch die Ansicht der Buchrücken genährten Glauben, man hätte dort wirklich Interesse am geistigen Ausfluss der römischen Krankheit.

... link (30 Kommentare)   ... comment



: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Mittwoch, 27. Juni 2007

Fundamentalopposition

Es gibt etwas, das ich nicht kann. Und nie können werde: Bücher wegwerfen. Ich habe nach meinem Weggang aus Berlin keinem Verlag ausser meinem eigenen die neue Adresse gegeben, um endlich aus der Bemusterung mit Rezensionsexemplaren zu fliegen. Das Schlimme ist, dass die liebevoll "Rezis" genannten Praktikantenzubrote die Latte der ungelesenen, schlechten Bücher erweitern, ohne dass man daran Schuld hätte. Und wenn Besuch kommt und ein Werk sieht, das wenig positive Rückschlüsse auf den Hausherrn zulässt, hat man den doppelten Schaden. Dennoch, Bücher zerstören? Kein Machwerk der Gegenreformation kann nach 300 Jahren so veabscheuungswürdig sein, dass ich es nicht doch erwerben würde, also wäre es zutiefst ungerecht gegen die miesen Gedanken aus Literatur und Politik, das gleiche mit ihnen zu tun.

Wenn ich etwas besprechen will, kaufe ich es mir selber. Lieber zahle ich 20 Euro, als dass ich mich danach noch mühselig mit Verlags-PR wegen fehlender Belegexemplare meiner Beiträge herumschlage. Ich habe mir in Berlin schon eine andere Strategie einfallen lassen, wenn die Bücher auf Events verteilt wurden: Liegen lassen. Einfach liegen lassen. Irgendjemand nimmt es dann schon. Liegen lassen ist ein gangbarer Weg. Denn bei der Alternative Bookcrossing finde ich das Abgeben nicht nett; die Welt hat ein Recht darauf, nicht zufällig mit diesem Mist verpestet zu werden. Falls es aber jemand gezielt haben will, ist liegen lassen das probate Mittel.

Das war nicht immer möglich, manche Bücher muss man dennoch mit wachsendem Groll auf Verlag und Autor lesen, um dann eine Meinung dazu zu entwickeln. Bislang habe ich für diese Störenfriede und Langweiler eine Ecke hinter einem Sessel im dachgeschoss, wo sie keiner sieht. Es ist eine Ansammlung des Grauens:



Ja, das sind sie, die Opel Astras des gedruckten Wortes, reife Leistungen des Buchmarketings und versagender Lektorate, hier gammelt das wirkliche Grauen vieler Jahre journalistischer Arbeit. Mit dem Schwarzbuch des Kommunismus hätte ich beinahe mal dessen Autor in München gezüchtigt, Frau Hacker hat sich tief in die schwarzen Sphären meiner Seele geschrieben, Für immer Casablanca wartet auf den Tag, da es heissen wird, für immer Papiermühle. Dazu noch ein paar Berichte aus dem Irrenhaus der New Economy, gekaufte PR für marktradikale Anliegen und weiteres Ungemach.

Doch nun habe ich eine Lösung gefunden: Unten muss neben das grosse Bett noch ein altes Buchregal, das nicht recht passen will, denn dahinter verlaufen am Boden die Rohre der Heizung. Unten ist es ohnehin verdeckt, und so wäre es gut, es anzuheben, statt das nun doch schon 220 Jahre alte Holz auszusägen. Gestern hatte ich beim Baubedarf schon den passenden Gipsstein in der hand, da erinnerte ich mich des Regals der Schande: Auch ein schlechtes Buch kann noch als Basis eines Regals taugen. Damit verschwindet es aus den Augen, erfüllt einen guten Zweck für gute, andere Bücher, und landet nicht auf dem Müll.

Hinab in das Dunkel also neben der Schlafstatt, auf dass sie keine bösen Träume machen, vor allem nicht das letzte Buch des Jürgen W. Möllemann. Das letzte Buch, das er bei seinem letzten Auftritt in München signierte, möglicherweise das letzte überhaupt. Als ich kurz darauf den Stern kaufte, weil sich dort die erste gedruckte Rezension von Liquide fand, war Möllemann als Fallschirmspringer auf dem Cover. So kommt alles zusammen, oder auch nicht: Falls einer der hier mitlesenden Neoliberalen Interesse an diesem Stück Zeitgeschichte hat, in dem Möllemann von Mossad und Westerwelle das vermunkelte, was heute jeder weiss - mailt mich an.

... link (26 Kommentare)   ... comment



: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Freitag, 5. Januar 2007

Hausbibliothek der Aufklärung III

Mit dem Absolutismus, der Ausrichtung aller Staatsbestrebungen auf den Herrscher, werden im Frankreich des späten 17. Jahrhunderts alle anderen gesellschaftlichen Grenzen vergleichsweise irrelevant - und damit leicht durchlässig. Handel und Gewerbe sind eine Möglichkeit, am neuen Staatsgebilde zu partizipieren. Natürlich gibt es auch Leistungen, die für besondere Protektion sorgen, und das durchaus in der verknöchertsten aller Institutionen: Der gallikanischen Kirche, die - im Gegensatz zu den romhörigen und erfolgreich agierenden Jesuiten - in besonderer Weise neben dem Papst auch dem französischen König verpflichtet ist.

Der 1649 geborene Adrien Baillet war so ein kirchlich geförderter Aufsteiger. Seine Eltern waren schlichte Bauern aus der Picardie, aber als Schüler zeigte er überdurchschnittliche Leistungen, was ihm die Zuneigung und Förderung durch den Bischof von Beauvais einbrachte. Seine weitere Karriere - Besuch eines Theologieseminar, Tätigkeiten als Lehrer und schliesslich Bibleothekar einer der grössten privaten Buchsammlung - lassen eigentlich nicht darauf schliessen, dass hier ein radikaler Aufklärer am Werk ist. Baillet ist pedantisch, akribisch, ein Sonderling und Bücherwurm, und die Bücher, die er verfasst, sind meist historische Arbeiten über lang vergangene Zeiten.

Aber die Geschichte ist dominiert von der Geschichtsschreibung der Kirche, und mit der kommt Baillet schnell in Konflikt. 1685 lobt er die Janseniten, eine bürgerlich-katholische Sekte, die einem stenges Glaubensideal vertreten und alleinseligmachende kirchliche Institutionen ablehnen. Besonders die Gesellschaft Jesu empört sich über ihn, und als er 1701 das Leben der Heiligen kritisch hinterfragt und deren Existenz teilweise ablehnt, ist der Skandal komplett. Als er 1706 im Ruch des Ketzertums stirbt, ist die Bombe aber noch gar nicht gezündet.



Das Buch, das Baillet zu Lebzeiten nicht publiziert sehen wollte, kommt eher unscheinbar daher: Histoire des démeslez du pape Boniface VIII avec Philippe Le Bel roy de France, erschienen a Paris, Chez François Barrois, rue de la harpe im Jahre 1718. 12 Jahre nach seinem Tod also ein historisches Werk über den Konflikt zwischen Papst Bonifaz VIII und Philipp dem Schönen. Eigentlich ist es nur eine Erweiterung und Überarbeitung eines Vorgängerwerkes des Gelehrten Pierre Dupuy von 1655, und die Handlung selbst spielte sich 1303 ab, lag damals also schon vier Jahrhunderte zurück. Entsprechend sachlich liest sich auch die Ankündigung des Druckers, der ganz auf irgendwelche Widmungen und Bücklinge verzichtet: das Buch hat das Privileg des Königs, das ist alles.



Trotzdem kommt es 1718 darüber zum grossen Skandal. Denn der Konflikt zwischen König und Papst war für keine Seite eine Ruhmestat. Im Prinzip ging es um einen banalen Steuerstreit: Philipp war ein gewissenloser Gewaltmensch, nach heutigen Massstäben ein Verbrecher auf dem Thron. Er hatte gerade die für Frankreich katastrophale Schlacht von Courtrai verloren, die allgemein als Beginn vom Ende des Rittertums gilt: Flämische Fleischhauer hackten auf sumpfigen Grund 700 Ritter von ihren Pferden und schlitzten sie gnadenöos auf. In der Folge hatte Philipp das reiche Flandern verloren, und brauchte dringend Geld. Also beschloss er, den bislang von Abgaben befreiten Klerus zu besteuern. Papst Bonifaz VIII. war der damalige moralische Tiefpunkt dieser religiöse Einrichtung. Er hielt sich dennoch für den Stellvertreter Gottes und antwortete mit der Bulle "Unam Sanctam", einem Höhepunkt des päpstlichen Machtanspruchs.

Die Bulle enthielt nicht weniger als die Forderung nach der irdischen Universalmacht, und war in der Folgezeit die Grundlage für alle derartigen Begehrlichkeiten der Kirche, und ihren Kampf gegen die Demokratie auch im 20. Jahrhundert. Stand da doch geschrieben: "Nun aber erklären wir, sagen wir, setzen wir fest und verkünden wir: Es ist zum Heile für jegliches menschliche Wesen durchaus unerlässlich, dem römischen Papst unterworfen zu sein."

Zumindest dachte man das theoretisch. Praktisch sah es 1303 erst mal anders aus: Philipp liess auf Bonifaz mutmasslich ein Attentat verüben, an dessen Folgen der Papst starb. Der übernächste Papst Clemens V. war dann nur noch eine Marionette von Philipp, und leitete das Papsttum von Avignon ein. Und Baillet erzählte diese Geschichte nicht ganz ohne Hohn, Kritik an der Kirche und leichten Sympathiebekundungen für Philipp. Im hinteren Teil des Buches standen dann noch die nicht wirklich schmeichelhaften Quellen, auf die er sich bezog. Jeder konnte jetzt lesen, wie man 1303 so mit Päpsten und der kirchlichen Allmacht umging. Wirklich jeder. Das war der eigentliche Sprengstoff.



Verbrennen konnte man Baillet nicht mehr. Das Buch war ein Anschlag auf die Macht der Kirche und des Papsttums. Posthum liess der Autor damit den damals um die geistliche und weltliche Vorherrschaft ringenden Jesuiten die Hosen runter. Minutiös schilderte er das Wesen der damaligen Kirche, und wer wollte, konnte Parallelen zu den Bemühungen der Gesellschaft Jesu erkennen. Das Buch wurde der literarische Skandal des Jahres 1718, und das Geplärre der Jesuiten sorgte nur weiter für die Popularität des Buches. Mit Baillet konnte man zeigen, was man von den Ansprüchen der Kirche hielt: Nichts.

Weshalb viele Exemplare - wie auch meines - einen sehr feinen Einband haben. Baillet lesen und besitzen, namentlich dieses Buch, war ein Plädoyer für den säkularen Staat und ein politischer Standpunkt gegen die christlich-reaktionären Kräfte, die in den nächsten Jahrzehnten die erbittertsten Gegner der Aufklärung werden sollten. Davon - bald mehr.

... link (13 Kommentare)   ... comment



: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Donnerstag, 7. Dezember 2006

Hausbibliothek der Aufklärung II

Die Aufklärung des europäischen, durch christlichen Fanatismus verdorbenen Kontinents kommt durch die Hintertür. Die Aufklärung braucht mehr als nur Ideen und Begriffe, die eigentlich bereits seit Jahrhunderten und Jahrtausenden bekannt und bei den Herrschenden verbreitet sind: Sie braucht auch ein grosses Publikum. Pietro Aretino war ein Freigeist, Gilles de Rais war gottlos, und Lucretia Borgia kümmerte sich mit ihren Freunden nicht um die Regeln der Kirche; Kardinal Bembo lachte über den Aberglauben und Castiglione vertrat Ideale der Vernunft. Doch allen war ihnes eines gemein: Dir Trennung vom Pöbel, von der Mehrheit; sie selbst waren die winzige Führungsschicht, und ihre Ideologie galt bestenfalls ihresgleichen. Die anderen, wie wir gesehen haben, sollten besser mal dumm bleiben, und brav zahlen, damit sich die Spitzen weiterhin ihre Notdurft in luxuriöser Seide verrichten konnten. Was letztlich ihr Untergang wurde.

Denn, und damit kommen wir zur Aufklärung, Seide ist komplex in der Herstellung und entsprechend teuer. Zwar war es bereits im Mittelalter gelungen, Seide auch in Südeuropa herzustellen, der Hauptabnehmer aber waren die Länder des Nordens, und besonders das prunkliebende Frankreich mit seinen streitlustigen Fürstenhöfen. Alle staatlichen und kirchlichen Verdammungen gegen das teure Material halfen nichts: Wer es sich leisten konnte, griff für Kleidung zur Seide. Wams, Mieder, Mantel und Barette waren damals die Repräsentationsmittel schlechthin, und nur wohlhabende Menschen hatten mehr als ein Kleid. In Frankreich führte der Import der Seide zu einem enormen Aussenhandelsdefizit.

Und das war ein Problem in den Augen eines gewissen Herrn Colbert. Genauer Jean-Baptiste Colbert, Marquis de Seignelay. Den Titel bekam Colbert erst später; seine Karriere begann der Sohn eines Händlers aus Reims während der französischen Volksaufstände zwischen 1648 und 1659. Er war ein Gefolgsmann und Günstling des verhassten Kardinal Mazarin, dem Erzieher des unmündigen Königs Ludwig des XIV., geschickt im Verhandeln und erfahren in den Ränkespielen zwischen dem Hof und den aufsässigen Adligen. Als Mazarin 1661 starb, begann Colberts kometenhafter Aufstieg. Unter Ludwig XIV erhielt er volle Kontrolle über alle wirtschaftlichen Belange der Reiches.

Colbert entwickelte eine effektive Besteuerung, ging gegen sinnlose Zölle und Beschränkungen vor, und versuchte, das Aussenhandelsdefizit zu begrenzen. Unter der auf Edelmetall basierten Wirtschaft erkannte man, dass mit dem Import von Waren der Reichtum in Edelmetallen verloren ging. Also musste man teure Importe stoppen, sei es nun mit Strafzöllen - oder mit der Einführung der Produktion im eigenen Land. Das Luxusgut Seide stand ganz oben auf der Tagesordnung von Colbert. Und deshalb gab er ein Buch in Auftrag, das schon 1665, kurz nach seinem Amtsantritt erschien:



Christophle Isnard ist der Autor dieses Werks, das hier mit Wasserschaden zerfleddert vor uns liegt. Der Titel ist nicht zu entziffern, er ist, wie im Barock üblich, etwas ausführlicher: "Memoires et Instructions pour le Plant des Meuriers blancs, nourriture desVers a Soye: Et l'Art de filer, mouliner & aprester les Soyes dans Paris &lieux circonvoisins, sur l'Establissement qui s'y fait des Manufactures de Soyes, à l'exemple de celuy que le Roy Henry IV avoit estably dans la plusgrande partie de la France". Ich weiss nicht, ob es das einzige Exemplar in Deutschland ist, jedenfalls ist es sehr selten. Es hatte damals einen recht bekannten Besitzer und ist im Originaleinband des 17. Jahrhunderts. Es ist ein Buch, das ich selbst eher selten aufschlage; es tut ihm nicht gut, und es gibt nicht mehr viele davon. Ja, es ist teuer. Nein, ich habe nicht viel dafür gezahlt, obwohl es mir fast das Leben gekostet hätte. Mein Herz blieb beinahe stehen, als ich es öffnete, und raste, bis ich den Preis erfuhr. Denn dieses Buch ist eine Höllenmaschine der Kulturgeschichte, seine Publikation veränderte das Wirtschaftssystem Europas, die Gesellschaft Frankreichs, das Bewusstsein der Frauen und ist ein früher Sargnagel für die Kirche.



Davon wussten natürlich weder Colbert noch Isnard, als zweiterer es dem ersterem widmete - sie hätten es wohl eher verbrannt, als es anderen zu empfehlen. Vorergründig geht es "nur" um den Merkantilismus, um die bestimmende Form der Wirtschaft vor dem eigentlichen Kapitalismus. Die Grundidee ist einfach: Frankreich braucht Geld, also züchtet man Maulbeerbäume, setzt Seidenraupen daran, wartet, bis sie sich verpuppen, kocht sie und gewinnt damit den feinen Faden, aus dem Seide gewebt wird. Die verkauft man dann gewinnbringend an andere Länder, bekommt Gold, und hat damit die Mittel für den König, um Dinge wie den Spanischen Erbfolgekrieg zu finanzieren, oder Schlösser wie Versailles, oder Grafschaften für Herrn Colbert.



Angesichts der Folgen kommt das Buch, das die Grundlage für den Aufstieg Frankreichs zur führenden Modenation der Welt ist, niedlich und beschaulich daher. Der Drucker etwa gibt dem Leser treffliche Hinweise - wer meinen Roman kennt, weiss jetzt, woher ich die Idee mit dem Vorwort des Druckers habe. Sodann hebt Isnard an zu einem längeren Aufsatz, einer wirtschaftspolitischen Vision von blühenden Landschaften in Frankreich, deren Sprengkraft er sich nicht vorstellen konnte. Denn nicht nur - wie bei diesem Exemplar - Reiche bekamen dieses Buch, es gelangte in billigen Nachdrucken in die Hände von Unternehmern, die sich staatlich gefördert daran machten, die Empfehlungen zum Kultivieren der Maulbeerbäume und Seidenraupen umzusetzen.



Erkennbar gelesen wurde mein Exemplar nur im repräsentativen vorderen Teil, der sich an die Staatsmänner wandte. Die Besitzer der Nachdrucke aber, die sich an Isnards treffliche Ratschläge zur Zucht hielten, erschufen die französische Seidenindustrie, die wenige Jahrzehnte später den Weltmarkt dominieren sollte. Aus diesen Seiten entsprang mit den Seidenraupen der Phoenix, den Isnard in seinem abschliessenden Gedicht pries, aber mehr noch, auch eine vermögende Schicht von Bürgern, die zunehmend den räuberischen Adel der Bürgerkriege verdrängte und die feinsten Tücher für dessen verschwenderisches Dasein im goldenen Käfig Versailles lieferte.

Seide war plötzlich nicht mehr verdammenswerter Luxus, sondern ein Mittel zur Stabilisierung des Staatshaushaltes. All die Lust an rüschigen Kleidern und prächtigen Stoffen diente von nun der heimischen Wirtschaft, die französische Mode, der andere Höfe nacheiferten, zog Exporte und Gewinne nach sind. Plötzlich konnte es gar nicht mehr frivol, bunt, verspielt und aufwändig genug sein, die Kleidung verspottete Jahrhunderte von christlicher Entsagung, das Laster und die Verschwendung wurden zum Wohle der Wirtschaft zur Tugend, und alle Monate änderte sich die Mode, alles zugunsten des Heimatmarktes. Isnard bekam damit die Seidenzucht, Colbert schaffte es, sein Aussenhandelsdefizit zu begrenzen, aber statt nach Italien zu gehen, finanzierte der Boom eine neue Gruppe von Staatsbürgern, die der eigentliche Träger der Aufklärung werden sollte: Das Bürgertum, das sich mit wachsendem Reichtum nicht mehr vo Kirche und Staat gängeln lassen wollte, und das dereinst das Blutgerüst für die nachfahren Ludwig XIV. austellen sollte. Dazu dann mehr im nächsten Teil.

(Falls ich heute Nacht nicht von habgierigen Volkswirtschaftlern ausgeraubt und erschlagen werde)

... link (32 Kommentare)   ... comment



: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Montag, 4. Dezember 2006

Hausbibliothek der Aufklärung I

Diese Serie habe ich schon lange geplant, und immer wieder verschoben. Sie sprengt den Rahmen normaler Blogschreiberei, und befasst sich mit Themen, von denen ich nicht weiss, ob sie die Mehrzahl der Leser auch nur ansatzweise interessiert. Die Erfahrungen der letzten Wochen lassen mich ohnehin daran zweifeln, ob das Buch und die Aufklärung ihre Zukunft nicht schon lange hinter sich haben. Vielleicht aber ist meine Auffassung dieser Welt schon immer die verschobene Perspektive eines Menschen mit bayerischem Abitur, Latinum, kulturwissenschaftlichem Studium und weit über 5.000 Büchern gewesen. Dennoch scheint es mir geboten, ein wenig auf die Entwicklung einzugehen, die - im Gegensatz zum Christentum und ähnlich totalitären Konstrukten - ein wirklich vornehmer Ursprung unserer Gegenwart ist: Die Aufklärung, dargestellt anhand von originalen Druckerzeugnissen der Zeit. Es wird eine Weile dauern, bis wir am Ende angelangt sind, aber ich hoffe, doch kurzweilig einige hübsche Bücher aus meinem Besitz zeigen zu können.

-------------------- o --------------------

Wenn man über Aufklärung redet, die Zeit also zwischen dem 30-jährigen Krieg und dem Nachklang der franzöischen Revolution, zwischen dem Absolutismus eines Ludwig XVI und dem Diktat Metternichs, empfiehlt es sich, mit dem Gegenteil zu beginnen, um die gesamte Wegstrecke der Entwicklung aufzuzeigen. Beginnen wir also in einer Region, die auf immer fern sein wird vom Lichte der Vernunft, die zu allen Zeiten schon dumm und rückständig war, nicht nur aus Pariser, nein auch aus bayerischer Sicht - beginnen wir im Passau des Jahres 1650.



Es ist ein schmuckloses Buch im Kleinoktav, gebunden in isabellaweissem und senfgelbem Pergament, Reste umgearbeiteter, noch älterer Handschriften, die hier nochmal neues Leben erhalten. Proprium Sanctorum steht als Titel auf dem wurmzerfressenen Titel. Das Proprium beschreibt die Teile der Messe, die sich jeden Tag, je nach Anlass ändern, im Gegensatz etwa zur Eucharestie und anderen immer gleichen, monotonen Verrichtungen des Katholizismus, stur und einfallslos. Doch auch das Proprium ist nicht wirklich eine Erlösung vom Trott; vielmehr ist es eine Handlungsanweisung zum mühseeligen Schreiten durch ein Kirchenjahr voller Pflichten, die sich im Bistum Passau angesammelt haben.



Kaum ein Tag ist frei, an dem nicht irgendwelchen Heiligen, Seligen, Märtyrern oder verdienten Gestalten der Donaustadt, die genug für ewige Messen gezahlt hatten gedacht werden muss. Jeden Tag eine Messe, jeden Tag das gleiche Ritual in den vielen Kirchen der Stadt, jeder sollte kommen, um sein Untertanentum unter die Religion zu beweisen, seine Gebete sprechen, während die da vorne etwas in unverständlichem Latein murmelten, sie aber waren die die Klingelbeutel zu füllen hatten, denn der Krieg war vorbei und die Kirche brauchte neues Geld. So viele Stunden stehend und knieend in den hohen Sälen, denn Bänke gab es damals nur im Chor, die normalen Besucher mussten stehen oder knien, im Winter sicher kein Vergnügen und auch im Sommer zu früher Stunde eher eine Pflicht denn eine Freude. Doch der Druck der Gruppe, der verbindliche Glaube, der in den Jahrzehnten davor jedes unvorstellbare Leid über das Land gebracht hatte, kannte keine Ausnahmen und kein Erbarmen, egal wieviel von den Heiligen in dem Büchlein versprochen wurde.



Es ist eine düstere Zeit, aus der diese Seiten stammen, die Texte sind stilistisch einfältig, Märchen für Dumme, und die Rubrizierung erinnert nicht zufällig an heute Gossenzeitungen. Wer dieses Buch besass, wusste nur so viel, wie er wissen musste, um andere dumm zu halten. Jeder Tag ein neuer Heiliger für andere Sorgen und Nöte, die Kirche lieferte Immaterielles und Hoffnung frei Haus, für den Preis eines Lebens unter ihrem Joch, reguliert und bestimmt durch dieses wenig schöne Buch mit seinem schlechten Papier.

Und doch trägt es in sich den Keim der Vernichtung des Aberglaubens. Denn der Religionskieg hatte alle bisherigen Regeln für ungültig erklärt, der Fanatismus dieser Zeit eröffnete Chancen für die, die von ihm profitierten. Besonders raffgierig war der Mann, der als Autor des Buches genannt wird: Erzherzog Leopold Wilhelm von Österreich, Bischof von Passau und zusätzlich von Olmütz, Halberstadt, Magdeburg, Breslau und Straßburg, Hochmeister des deutschen Ordens und, vor allem, Heerführer der Katholiken. Diese Aufgabe war es, die ihn wirklich lag, die Bistümer waren die Pfründe, die ihm bei der Finanzierung des späten Krieges halfen. Leopold Wilhelm und sein Buch stehen für den Höhepunkt der kirchlichen Macht, die sich völlig vergessen hat und jede noch so miese Schweinerei duldet und fördert, von den Untertanen jeden Verzicht und totale Unterwerfung unter das System fördert, und sich selbst jeden Luxus und alle Verbrechen leistet, die die Welt damals erkennen musste. Es hat Zentraleuropa entvölkert und ruiniert, die Menschen unterdrückt und entmündigt, und gerade aus diesem Krisen erschaffenden Gegensatz zwischen oben und unten, zwischen Allmächtigen, die bestimmen und verprassen, und Ohnmächtigen, die sich fügen und zahlen, entstand, weit entfernt von Passau, die Erkenntnis, dass es so nicht auf immer sein könnte. Und schuld waren natürlich - die Frauen.

... link (50 Kommentare)   ... comment