: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Dienstag, 24. Mai 2005

Sehr zu empfehlen III: Dropleaftable in der ersten Zone, 2035

Man erkennt, dass sie nicht hierher gehören. Nicht sehr viele Leute aus der zweiten Zone gehen noch in die erste Zone. Was sollen sie auch hier. Sie dürfen sich zwar auch alles kaufen, denn die Märkte sind die Grundpfeiler des Liberalismus, aber sie können es sich sicher nicht leisten. Ausserdem stören sie das Strassenbild. Menschen aus der zweiten Zone haben prinzipiell das Recht, hier zu sein, aber ob sie den Bürgersteig und die Strassen einfach so betreten können, hängt von den Eigentümern ab. Deshalb huschen die meisten Bewohner der zweiten Zone schnell, ängstlich durch die Passagen und Alleen, und es ist eigentlich an der Zeit, da etwas zu ändern. Sagt zumindest Innenminister Haedke von der CED. Was genau, steht in einem Gesetzesentwurf zum Schutz von Handel und Gewerbe, der zwar noch nicht bekannt ist, aber von SpiegelFAZBild und ihren Digitalablegern in der zweiten Zone als unverzichtbar für das wirtschaftliche Wachstum propagiert wird.

Es ist eine kleine Familie, Vater, Mutter, Tochter. Typische Intellektuelle, die man nicht unbedingt verfolgt, aber schon genau beobachtet, zumal der Vater 2006 bis 2009 in Berlin auf der Verliererseite eine Kampfgruppe im Wachstumskonflikt geleitet hat, der damals noch "Verteilungskrieg" hiess. Vor einem Antiquitätengeschäft bleiben sie stehen, und der Vater sagt zur Mutter: Schau mal Steffi, der Dropleaf-Tisch... Erinnerst Du Dich?

Was ist los, will ihre Tochter Walburga wissen. Walburga liebt solche Geschäfte, nachdem sie ihre drei Jahre kostenlosen Sozialdienst bei einer erstklassigen Familie in der Munich Area abgeleistet hat, sie kennt diese Möbel vom Putzen. Und manchmal, wenn die Familie in Urlaub war, hat sie sich sogar auf diese Möbel gesetzt. Seit sie wieder da ist, hat sie sich verändert, ist unzufrieden mit ihrer Lage und schaut den ganzen Tag nur Telenovelas wie "Gute Zeiten, Grandiose Zeiten", die von Werten, Moral, Tugend und Glück unter der Herrschaft der CED, der christlichen Einheitspartei erzählen.

Na der Tisch, sagt ihr Vater, den gleichen hatte ich mal. In der Auslage steht ein britischer Dropleaf-Tisch, mit geschwungenen Beinen, und Löwentatzen mit Rollen unten dran. So einen hatte ich mal. Das war, oh Gott, das war am 22. Mai 2005, am Tag, als der Krieg begann...



Und er erzählt. Er erzählt, wie er als Student versucht hat, sein Studium durch Flohmarkthandel zu finanzieren. Er ging zu Zwangsversteigerungen von Leuten, die sich in der New Economy oder im Immobiliensumpf Berlin verspekuliert hatten, kaufte billig Möbel, richtete sie wieder her, und verkaufte sie mit Gewinn. Ein gutes Geschäft, Berlin brach damals zusammen, das Bürgertum ging in Massen vor die Hunde, und auf den Flohmärkten trieben sich die Schnäppchenjäger aus dem Süden der damaligen Bundesrepublik herum, die solche Möbel suchten.

Er hat ihn an einen Journalisten verkauft, der für ausländische Medien hier war und bald wieder in den Süden zog. Der war begeistert von dem Tisch und wollte ihn für seine Bibliothek. Die englischen Sachen, erzählte er, hätten es ihm angetan. Weil sie so praktisch sind: Die runden Seitenteile eines Dropleafs lassen sich runterklappen, und man kann den dann kleinen, quadratischen Tisch an die Wand stellen, wo er nicht stört. Die Briten haben diese Möbel im 19. Jahrhundert für kleine Junggesellenwohnungen entwickelt. Die Form mit dem Balusterfuss, den Löwenbeinen und den hellen, schlichten Intarsien auf Mahagoni ist prächtig und trotzdem so zeitlos, dass sie durchgehend produziert wurden. Der Tisch war also kein Replika, kein Stilmöbel, sondern ein damals gut 80 Jahre altes, praktisches Gebrauchsstück.

Einen Moment haben er und seine heutige Frau, die damals auch auf dem Flohmarkt war, überlegt. Ob es wirklich eine gute Idee ist, diesen Tisch zu verkaufen. Weil er wirklich schön ist. Ausserdem - der LEKSVIK-"Leckmich"-Tisch beim heutigen Monopolisten der zweiten Zone Ikea kostete damals eigentlich das Doppelte. Der Journalist ging darauf mit dem Preis hoch, Studenten ausbeuten wollte er ja auch nicht, und so wurde man am Ende doch "pari", wie der Bayer sagte. Das war schon so ein schräger Vogel... aber eigentlich hat er einen verdammt guten Kauf gemacht, denn so ein Tisch ist eingeklappt klein genug für einen Beistelltisch beim Lesen in der Bibliothek, oder auch für ein intimes Frühstück, und ausgeklappt gross genug für einen Speisetisch für vier Gäste oder einen Teetisch für 6 Personen - ein wirklich sinnvolles Möbel, und so eine Mahagoniplatte hält locker ein paar hundert Jahre. Das war eine gute Sache für den Ausbau seiner Bibliothek an der Donau...



Damals, am Tag, als der Krieg begann...er krampft seine Hände zusammen. Warum haben sie damals nicht den Bundestag gestürmt und die Schweine verjagt, 2006, als das Wahlrecht "reformiert" wurde...

Sag mal, will Walburga wissen, Du kennst also jemanden aus der ersten Zone, aus der nördlichen Munich Area? Wow. Kannst Du mit dem nicht mal wieder Kontakt aufnehmen?

Nein, kann ich nicht. Der war im Krieg auf unserer Seite, ein Sozialdemokrat, ein Blogger, den haben sie mit Wachstumsförderungsgesetz und Medienkonformitätserlass verfolgt, der emigrierte dann in die Schweiz...

Was machen Sie da, werden sie von einem Wachmann angeherrscht. Das ist der Bürgersteig des Geschäfts, machen sie, dass sie verschwinden - die Familie zieht weiter, jetzt schneller, hastig, und der Vater denkt zurück an die Zeiten seiner Jugend, als er gegen solche Büttel mit Molis und Steinen gekämpft hat, sie hatten damals ja nichts anderes, als die Merkel den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes hat modifizieren lassen.

Am Abend ist Walburga bei ihrem Freund Karl-Gustav. Sie sitzen in seiner Wohnung in einem Hochhaus am Rande von Hamburg, mit einem grandiosen Blick über die bröckelnden Bauten der zweiten Zone hinweg, bis zur ersten Zone und der breiten, nur für Bewohner der ersten Zone gebauten Hochautobahn zu den anderen Zentren der ersten Zone, Bonn Area, Frankfurt Area, Munich Area, Stuttgart Area. Da will Karl-Gustav hin. Dafür hat er seine drei Jahre Dienst in der Dritten Zone Verwertungs AG gemacht, arbeitslose Leute aus der zweiten Zone deportiert, administrativ, und was da so getuschelt wird in der zweiten Zone stimmt alles gar nicht, sagt er. Zum Beispiel die Sache mit den Boden-Boden-Raketen. Die sind nur zur Abschreckung, wenn sich da drüben mal wieder kriminelle Banden zusammenrotten. Und man kann ja wohl nicht erwarten, dass sich Angehörige der zweiten Zone in Gefahr bringen wegen diesem Pack.

Walburga erzählt Karl-Gustav, wie dumm ihr Vater war. Karl-Gustav hält ohnehin nichts von ihm und sagt, dass das ja mal wieder typisch sei für den alten Trottel. Ohne die Fürsprache seiner Familie wäre der sicher von Anfang an deportiert worden, wegen seiner Rolle im Wachstumskonflikt. Und dann auch noch sowas, so einen Tisch könnte er dringend brauchen, um seinen Chef aus der ersten Zone zu erfreuen. Verkauft an einen Dissidenten, der nach dem Konflikt in die Schweiz emigriert ist, unfassbar. Manche von denen sind immer noch aktiv, aber das bringt denen gar nichts, ihre Blogs - wie konnte man das damals überhaupt erlauben? - sind in den Zonen nicht erreichbar. Walburga will seine Hand ergreifen, aber Karl-Gustav ist wütend und steigert sich hinein, sie sollte ihren Vater doch einfach anzeigen, dann bekäme sie einen guten Vermerk in ihrer Akte als treue Staatsbürgerin, dann könnte sie auch dauerhaft in der ersten Zone arbeiten, für Geld.


Aber er weiss, dass es ihr am Will2Success mangelt, sie würde das nie tun. Er schaut sie an und weiss, dass sie es nie schaffen wird, sie wird immer zweitzonig bleiben, und dann in 40 Jahren alt und hässlich sterben, kein Wunder bei der medizinischen Versorgung, die sie sich hier leisten können wird. Karl-Gustav geht zum Fenster und schaut hinüber in die dritte Zone, zu den Asozialen, den Arbeitsscheuen, den Kriminellen, den Fremdrassigen, die hinter dem drei Kilometer breiten Sperrgürtel leben, eingekesselt zwischen den Raketenstellungen im Westen und der Woitilla-Freihandelszone im Osten, wo manche von denen die Fussböden putzen. Erbärmliches Pack, denkt er, er will nach oben, und langsam wird es Zeit, Walburga zu verabschieden und zu versuchen, eine Frau zu finden, die ebenfalls auf dem Weg in die erste Zone ist, wo die Leute aus feinstem Porzellan echten Kaffee und Tee an antiken Tischen trinken. Die haben noch die Zeit, im Gegensatz zum Gehetze der 60-Stunden-Woche hier in der zweiten Zone, und dann noch der Milizdienst danach...

Walburga, sagt er schneidend, sie zuckt zusammen, so wie er das seit seinem Einsatz bei Frauen mag, und dann zuckt sie gleich nochmal, denn plötzlich knallt es, auf dem Grenzstreifen steigt eine Rauchsäule auf, und vor dem Haus feuert eine Raketenstellung der Dritten Zone Verwertungs AG vollautomatisch Socialpeace-Geschosse vom Typ Koch-Wulff III ab, die fauchend in den Abendhimmel ziehen.

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Sonntag, 22. Mai 2005

Sehr zu empfehlen II - Ausstattung Arzberg 1382

Berlin im Frühjahr 2005. Erna Kowalski räumt die Wohnung ihrer Mutter Berta, die ins Altersheim gezogen wurde. Überall der alte Plunder... Und Meike Kowalski, ihre Tochter, ist auch keine Hilfe, die steht draussen auf dem Balkon und handyniert mit ihrer Freundin, wo sie heute Abend hingehen. Erna durchstöbert die Küche, da sind überall diese furchtbaren Sachen, und da hinten ist auch das Hochzeitsgeschirr, das, das ihre Mutter dann nie benutzt hat. Kein Wunder, ist ja auch, naja, also jedenfalls zu langweilig. Nicht mal bunt, wie das, das sie so supergünstig von Lidl hat. Das kann man auch in die Spülmaschine tun, das da hinten hat Goldrand, das geht nicht. Das kriegt alles der Entwümpler, obwohl...

"Meike? MEIIIKEE!"

"Ja, ich komm ja schon, wat isn?"

"Kieck ma, da is det alte Jeschirr, det is eijentlich noch janz jut wa, kannste det nich brauchn?"

Meike schaut nicht genau hin, ein Blick reicht ihr. Ne. Ganz bestimmt nicht. Das ist nicht weiss, sondern so gelb. Bäh. Ausserdem, das alte Zeug, die winzigen Tassen, Meike will sowas nicht. Sondern, wenn sie jetzt bald ihre eigene Wohnung bekommt, so coole Becher wie 365+ von Ikea, kostet nur drei Euro und die sind dann so richtig robust, dann noch irgendeine Kanne, mal schaun. Teller fürs Frühstück, dazu hat sie zwar keine Zeit, aber wenn sie mit Mutti zu kea fährt, nimmt sie doch welche, damit die nicht schon wieder wegen ihrem Untergewicht und der Figur und dem Piercing jammert, also noch 6 Teller aus der gleichen Serie, dann hat sie alles für nicht mal 50 Tacken, ist doch super...

"Ne, Mama, echt nicht, das ist superunpraktisch, schau doch mal wie dünn das Geschirr ist, das geht ja sofort kaputt. Gib´s dem Entrümpler, da kriegen wir schon noch 5 Euro dafür."

"Die Oma wird det aba jahr nich mögen. Dit war sicher mal wat teures, det hat der Onkel Jakob geschenkt, det wees ick noch, der hat nur jute Sachen jehabt."

"Der Oma kannste ja sagen, dass ich es genommen habe..", sagt Meike, und geht zurück auf den Balkon, um ihrer Freundin was vorzujammern, mit was für einem alten Dreck man ihr weiteres Leben verunstalten wird.

Ich weiss nicht, ob es wirklich so abgelaufen ist, aber jedenfalls betrat ich heute morgen die Gallerie der lächelnden Menschen an der Strasse des 17. Juni. Die Gallerie der lächelnden Menschen ist eigentlich eine Ansammlung von griesgrämig dreinschauenden Entrümplern, deren Geschäfte nicht allzu gut gehen, aber wenn ich komme... Ich bin Bayer, und sie wissen: Hier kommt der Don. Der skrupellose Don, der hier schon mal ein lahmes, reiches Rentnerehepaar bein Brieftaschenzückduell ausgeknockt hat - der Siegespreis, ein Seidenteppich, liegt jetzt bei meiner Schwester. Hier kommt der Don, der scheinbar unendlich viel Platz in seinen Wohnungen hat. Wir kennen uns, und wenn ich komme, lächeln sie. Wir verhandeln hart, wir machen gute Geschäfte, wir sagen einander: Leben und leben lassen, Habibi. Ich gebe ihnen hartes bayerisches Geld, sie geben mir die Trümmer der Berliner Bürgerlichkeit. Heute begrüsste ich einen von ihnen, wir sprachen über alles mögliche, und nebenbei fiel mein Blick auf das hier -



mutmasslich das Teeservice von Berta Kowalski, anders kann ich mir diese Anwesenheit nicht erklären. Das Service, das für teures Geld von Onkel Jakob gekauft wurde. Der lächelnde Händler fragte, ob ich es haben wollte, und ich sagte sehr überzeugend Nein - schliesslich habe ich erst vorgestern Teeservice Nummer 7 gekauft, KPM, ein Traum... Und Nein heisst Nein, ich habe keinen Platz mehr. Aber - ein Blick unter die Tasse - tatsächlich: Porzellanfabrik Arzberg. Der lächelnde Händler meinte, es sei auch recht billig, 25, na gut 20 Euro, Habibi, und ich sagte Leben und Leben lassen, sagen wir - ach was, ok, machen wir, mal schaun wo ich das mit seinen 8 Tassen und Untertassen und 10 Tellern und der Keekanne noch hin tue. 27 Teile, 20 Euro. Für das hier:



Das ist es, wenn man es ordentlich hinstellt, was Meike Kowalski nicht getan hat. Das ist die berühmte Serie Arzberg Form 1382, die der Inbegriff des Bauhaus-Designs bei deutschem Porzellan ist. Steht auch im Museum of Modern Art in New York, nebenbei bemerkt. Gibt es in diversen Farben, hier in Creme mit Goldrand. Der Designer, Herrmann Gretsch, hatte ein Faible für das Biedermeier, und entwickelte zeitlose Formen. Form 1382 passt zu allem, vom USM-Haller-Tisch bis zum Empire. Was zur Folge hat, dass Arzberg die Form 1382 bis heute liefert. Wenn auch zu nicht ganz geringen Preisen. Aber immer noch mit den gleichen Nummern, die hinten mit einem goldenen Stempel aufgebracht sind.



Das ist Customer Relationship Management, von dem die Computerbranche noch was lernen kann - man schaue sich nur mal die Beschriftung auf Bauteilen an. Was meike Kowalski so gestört hat, das dünne Porzellan, ist ein Qualitätsmerkmal. Wenn man Porzellan gegen das Licht hält, und die Stempel darunter sind deutlich erkennbar, ist es nie schlechtes Porzellan. Das Service geht mit in die Provinz, Berta Kowalski braucht sich keine Sorgen machen. Und Onkel Jakob, der damals extra mehr als die üblichen 6er-Sets gekauft hat - man weiss ja, wie schnell sowas mal zerbricht - kann in Frieden ruhen, denn jetzt ist es an einer Stelle gelandet, wo es geschätzt wird. Was bei Meike Kowalski eher nicht der Fall gewesen wäre, spätestens beim Polterabend, wenn sie im 6. Semester schwanger und doch lieber Geschwaderführerin beim Sportbuggyeinsatzkommando Berlin Mitte wird, dann wäre es vorbei gewesen mit der Herrlichkeit.

Natürlich brauche ich das Service nicht mehr. Es ist ein kleiner, billiger Luxus, es wäre zu schade gewesen, es war der Sport, was in England unter dem Begriff "Bargain Hunting" in höchstem Ansehen steht. Aber es ist ein guter Grund, später nächsten Monat hier im Blog zu erklären, wo man in historischer Bausubstanz selbstgebaute Einbauschränke für das Porzellan unterbringt - und das, liebe Leser, die Behauptung, dass ich es eigentlich nur für Euch tue, ist eine phantastische Ausrede. Und falls ich irgendwann wirklich keinen Platz dafür mehr haben sollte, dann wird es vielleicht irgendeine Elitesse, ein New Economy ideal oder sonst eine Gespielin beim Frühstück sehr schön finden und haben wollen - aber das wird dann nicht gebloggt.

Mehr aus der Ausbauserie.

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Donnerstag, 19. Mai 2005

Sehr zu empfehlen I: Stuck 2

Nachdem wir uns also einig sind, dass die weitere Gestaltung unseres Daseins ohne Stuck uns in die Niederungen von Ikea und Roller Möbelmarkt drückt, oder zumindest diesen Absturz nicht a priori auszuschliessen in der Lage ist, blicken wir in unsere Brieftaschen und stellen fest, dass der uns erhebende Stuck leider, leider, hoffnungslos teuer ist.

Als ich vor 8 Jahren den ersten Raum gemacht habe, gab es noch keine Online-Shops. Ich ging zum lokalen Stuckateur, fragte nach den Preisen und entschied mich dann für eine Minimalvariante mit einem Gesims im Vorraum und zwei Spiegeln im Hauptraum (zur Erklärung: Gesims sind die an den Kanten zur Decke umlaufenden Leisten, Spiegel bilden die direkt an der Decke oder Wand befestigten Leisten). Alles andere hätte mich damals nach dem Magister ruiniert., bei einem Meterpreis von schlappen 40 Mark für die schlichtesten Einsteigermodelle.

Nun, die Zeiten des Mangels sind vorbei, nicht dank Preisvergleich im Internet, sondern dank einer Neueröffnung in einem Lagerhaus in Berlin a. d. Spree, da, wo früher mal Startups reinsollten.



Jetzt wird dort Stuck verkauft; viel und günstiger Stuck, und nach dem für uns umgeschriebenen Wittelsbacher-Motto

Zu München will ich zehren
in Ingolstadt verkehren
zu Berlin die Schätze mehren


ertönen bei derartig grossen Fassadenschildern und kleineren 20%-Neueröffnungsrabatt-Zetteln an der Tür die bayerischen Reifen unseres Puntos mit einem giergeilen Quieken, wir halten an und gehen hinein:



Hier gibt es viel. Nicht alles vielleicht, aber zumindest das, was man in den üblichen Grössen von unserer Dachkammer werdenden Bibliothek bishin zur Grossbürgervilla braucht, und Palastbesitzer sind ohnehin nicht die Zielgruppe dieses Blogs, die machen sowas ja nicht selbst. Es gibt eine grosse Auswahl an klassischen, gekehlten Gesimsen in allen Grössen zwischen 5 und 20 Zentimetern - wer mehr braucht, nimmt entweder Gesims mit floralen Motiven, was dann aber etwas in Richtung Historismus geht, oder kombiniert die Gesimse mit einer parallelen Leiste an der Wand. Das ist klassisch, trägt nicht weiter auf und ist zudem günstiger, denn Leisten sind auch in grossen Mengen da, inclusive aller nötigen Abschlüsse:



Wir entscheiden uns für Gesims mit Balusterkehlung, was recht zurückhaltend und neutral ist. Generell wirkt es ruhiger und nicht so protzig, wenn in einem Raum nach oben hin die Dekorelemante abnehmen, und gerade niedrige Räume sollte man am Übergang zwischen Wand und Decke nicht überfrachten. Aber ganz ohne Luxus soll es nicht bleiben, und deshalb setzen wir an die Decke einen Innenspiegel mit ebenfalls extrem klassischen, in der Antike entwickeltem Eierstabmotiv und Palmetten in den Ecken. Diese Kombination ist zeitlos und taugt eigentlich für so ziemlich jeden Stil ausser Roccoco. Und harmoniert auch mit dem Medaillon des grossen, ca. 40 Jahre alten Täbriz-Teppichs, den wir für den Boden erworben haben:



Das ganze kostet uns für 20 Meter Gesims und 10 Meter Leisten und 8 Eckelemente in echtem Gips weitaus weniger, als damals die paar Meter bei uns daheim - weniger als 100 Euro. Wer Interesse hat: Hier ist der Laden zu finden. Die Leisten mit 2,44 Meter Länge passen genau in das Auto.

Ein Wort noch zum Material: Es muss nicht Gips sein. Auch frühere Zeiten haben geschummelt, man findet im Biedermeier viel Pappmachee oder verputzte Holzstückchen, und das einzige, was zählte, war der optische Eindruck. Dauerhaftigkeit spielte bei den sich ständig ändernden Moden keine Rolle, Arbeitskraft war billig, und man hätte im Reich des Sonnenkönigs sicher auch Styroporstuck genommen, denn 20 Jahre später hat man die Dekoration neu gemacht - unser Konservativismus, der auch noch dem letzten bröckelnden Farbrest nachjagt, hätte man damals als ziemlich exzentrisch empfunden. Für Louis XIV. täte es auch Styropor. Zudem ist Kuststoff erheblich leichter zu verarbeiten, solange es um das Anbringen geht.

Kann man also machen. Wenn man alles in 10 Jahren sowieso wieder neu macht. Nach dem zweiten Mal ist es auch ohne Arbeitszeit schon teurer als echter Stuck. Und spätestens, wenn von oben mal Wasser durch die Decke kommt, hat man mit Styropor ein echtes Problem - da hilft dann nur noch wegmachen und entsorgen. Echter Stuck ist erst mal etwas teurer und schwerer zu befestigen, aber danach hat man ein paar Jahrhunderte seine Ruhe.

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Mittwoch, 18. Mai 2005

Sehr zu empfehlen I: Stuck 1

Stuck zuerst, weil man beim Restaurieren immer an der Decke anfängt und sich dann nach unten vorarbeitet.



1908 erschien eine bitterböse Abrechnung mit dem überladenen floralen Prunk des Jugendstils: Der Aufsatz "Ornament und Verbrechen" des Wiener Architekten Adolf Loos: "Evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande". Was Loos an Verdammung von Blümchen, Muster, Schnörkel und Stuck forderte, war nicht weniger als die Revolution, die später im Bauhaus ausbrach und heute bei Ikea als totale Pervertierung, als neues Verbrechen sowohl an Nachhaltigkeit, Ästhetik als auch an den Idealen von Loos zu bestaunen ist. Prunk, Dekoration und Ornament wurden aus Kostengründen abgeschafft, aber billiges Pressspan, Wegwerfmöbel und Rosina-Wachtmeister-Drucke waren noch weitaus weniger im Sinne der Revolutionäre, die zu früh gestorben sind, um die fatalen Folgen ihres falsch verstandenen Tuns noch erleben zu müssen.

Loos - Bauhaus - Skandinavische Einrichtung - Ikea - Ikea goes Kitsch, so lief das ab, und heute ist es an der Zeit, wieder die Nihilistenbombe zu nehmen und sie unter den Müll werfen, der uns heute als Einrichtung aufgeschwatzt wird, obwohl es eine Hinrichtung ist. In Ikea wohnt man nicht, man vegetiert im immer gleichen pastelligen Alptraum, es ist ein aufgesextes Cubicle, anpassungsfähig wie ein Grossraumbüro und der beste Grund, sich mit einem 107-cm-Display ein Fenster in eine andere Welt zu kaufen, denn draussen, vor den Löchern in der Wand, sind nur andere Löcher als Eingang in weitere 1-Personen-Ikea-Slums.



Auch wenn Loos es nie zugegeben hätte: In Wirklichkeit war er ein Reaktionär. Seine eigenen Entwürfe sind aus heutiger Sicht ein Rückgriff des Jugendstils auf Klassizismus und Biedermeier, versetzt mit den leicht organischen Formen des Jugendstils. Auch er machte seine Ornamente, nur waren die unauffällig und scheinbar funktional. Aus Sicht des Ikea-Menschen sind Loos-Interieurs keinesfalls schlicht, sondern ziemlich intensive Raumeindrücke. Loos wollte kein Slum, sondern in sich geschlossene, gestaltete Räüme, und es ist im Gegensatz zu Ikea nicht möglich, irgendetwas anderes zu stellen, und sei es nur ein schlichtes Bauhaus-Möbel. Loos hasste im Kern die Beliebigkeit, deren Symptom das Ornament war, und wenn wir uns heute aufmachen zum ersten Schritt des Aufbaus der Bibliothek, dann strippen wir Loos von seinen rhetorischen Ornamenten, seiner Galle, und denken daran: Keine Beliebigkeit, und vor allem - Nichts darf Ikea sein. Deshalb Stuck.

Ab Raumhöhen über 3 Meter ist Stuck keine Geschmacksfrage mehr, sondern eine simple Notwendigkeit zur optischen Gliederung des Raumes. Gesimse und Leisten, die nicht im Mindesten überladen sein müssen, fangen die Linien auf und verbessern den räumlichen Eindruck. Stuck ist in seiner Reinform erst mal kein Ornament, sondern Teil der Architektur, und das in unseren Breiten seit der späten Jungsteinzeit. Die Tempel der griechischen Archaik und Klassik haben seit dem 8. Jh. v. u. Z. Gliederungselemente entwickelt, die bis heute vor dem Auge des Betrachters bestehen können. Im Gegensatz zum heutigen Bauen scheint es beim Besuch in Athen, Syracus und Milet so, als ob die Hellenen generell ihre Ornamente nur in Stein ausgeführt hätten - aber das ist nur eine Legende, denn schon damals wurden kleinere Stücke nicht in Marmor gemeisselt, sondern aus Ton gebrannt, aus Gips geformt oder aus Holz geschnitzt. In Marmor ausgeführt wurde vor allem, wenn es um Repräsentation und Tragfähigkeit ging. Ansonsten neigte man schon während der kretischen Hochkultur zu Show und Deko. Will sagen, wenn es um Stuck geht, befinden wir uns historisch in allerbester Gesellschaft. Und komme mir bitte keiner mit den reinen, klaren Linien des teutschen Mittelalters, als Gotik und Romanik die reine Architektur verkörperten: Sobald man technisch konnte, sah Gotik so aus:



Und wenn man sich dieses Stück Donauschule jetzt noch quietschbunt rot, blau, weiss und gold bemalt vorstellt, hat man in etwa den Originaleindruck von 1530.

Nun ist der fragliche Raum im Dachgeschoss und nur 2,40 Meter hoch, hat Dachschrägen und ist in seiner letzten Ausbaustufe gerade mal 50 Jahre alt, und damit anders als alle anderen Räume des Gebäudes, die spätestens um 1900, wenn nicht 1780 ihre endgültige Form erhielten - der Gang im Erdgeschoss ist noch ca. 1450 mit Originalbemalung. Und damit stehen wir vor einem Problem: ist es legitim, einer "neuen" Kammer, die erst seit 120 Jahren nicht mehr als Speicher genutzt wird, mit Stuck einen fraglos "falschen" Eindruck zu geben, ein Aussehen, das eine Nutzung seit mindestens 200 Jahren vorspielt?

Die Antwort auf diese Frage finden wir in einem der Räume im Erdgeschoss dieses Hauses, gebaut vor 1400, gewissermassen der Kernbau. Als die Gesellschaft Jesu gegen 1600 einen Palast in der Stadt wollte, kaufte man dieses Haus und die Nachbargebäude, zog sie alle 5 Stockwerke hoch, und machte bei der Gelegenheit gleich noch die Innenräume. Ein Maler aus Italien legte sich auf den Rücken und bepinselte die ganze Decke mit Ornamenten, als sei das hier eine italienische Kirche und nicht der Arbeitsraum eines alten Bürgerhauses. Niemand hat sich daran gestört, auch wenn´s ein enormer Stilbruch war, und heute bekommen Kunsthistoriker von den Resten feuchte Höschen. Insofern: Wir dürfen. Solange wir Mass halten und das Alte respektieren. Schliesslich hat die Gesellschaft Jesu hier auch nicht alles untergepflügt, sondern Vorhandenes miteinbezogen, so, wie es jeder Denkmalschützer liebt, und genauso werden wir auch verfahren.

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Montag, 16. Mai 2005

Vorschau

In den nächsten Wochen wird sich dieses Blog ziemlich ändern. Plötzlich werden Aspekte wichtig, die nur hier und dort durchschimmerten, es geht um so seltsame, uns Digitalen reichlich unbekannte Dinge wie "Nageln", "Stoff" und "Fenster", ohne dass es etwas mit dem Verbreiten von unter Drogen aufgezeichneter Pornographie im Internet zu tun hat. Wie Iihr wisst, kennen wir uns ja nicht, oder zumindest nicht wirklich, und vorgestellt wurden wir uns auch nicht; ich erzähle Euch was mehr oder weniger Wahres, Ihr lest es oder auch nicht, kommentiert oder verlinkt oder tratscht es Euren Bekannten weiter. Das sind die Regeln des Spiels.

In den nächsten Wochen nun werden die Regeln geändert - Ihr sollt mich kennenlernen. Die, die mich schon kennen, werden Euch sicher gern bestätigen, dass ich entsetzlich dünkelhaft sein und gleichzeitig zynisch überzogene Manieren haben kann, ein Ergebnis von guter Erziehung und schlechter Moral, und das wird dann sicher für einige Zeit enorm auf die Texte durchschlagen. Denn etwas, das ich jetzt schon seit 8 Jahren vor mir herschiebe, wird jetzt in Angriff genommen:



Das hier ist mein zweites Zimmer in unserem alten Haus, das derer 3040 (oder so) hat, die eigentlich alle inzwischen restauriert sind, bis eben auf diesen Raum im jüngsten Teil des Hauses, der aber im Kern auch schon 405 Jahre alt ist. Aus diesem Raum, von meinen Eltern gerne auch ihres Sohnes Saustall, Kammerl oder Zeugnis für seine Inkonsequenz genannt, wird eine vorzeigbare Jungesellenbibliothek.

Man stelle sich einzelne Passagen des obigen Textes auf Englisch vor, schon herrenmenschelt und dünkelt es aus allen Ecken und Enden. Ich werde mich gezwungenermassen in den Problemen von Brokatstoffen als Wandbespannung ergehen und über die Vorteilhaftigkeit von Holz schreiben, das 20 Jahre lang gelagert wurde, und das alles im Umfeld einer enorm eingebildeten Provinzstadt, deren ästhetische Bildung leider nicht im Einklang mit dem plötzlich über sie gekommenen Reichtum verlief. Kurz, dieses Blog wird über Wochen den bitteren Geschmack eines ungeniessbaren Cocktails aus unerträglicher Arroganz, Making of the Munsters Castle und Kaufberatung für Schnösel annehmen.

Nur damit sich nachher keiner beklagt, aus dem weiteren Leben im Kiez, irgendwo, wo das Wort "Leben" nach "vegetieren" klingt.


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