: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Mittwoch, 10. März 2004

Help!

Sollte sich einer der Recken aus den Kämpfen des Jahres 1968ff, ganz gleich ob rot oder schwarz, in der Befindlichkeit sehen, Berlins Selbstmordrate in der kalten Spree zu erhöhen, findet sich an repräsentativer Stelle ein Hilfsmittel, um sie der Gesellschaft zu erhalten.



An den schlammigen Gewässern weiter draussen, an den Häfen und Kanälen, wo eher alleinstehende Mütter, arbeitslose Philosophiestudenten und Barpersonal ohne Zukunft der Wunsch nach Auslöschung überkommt, gibt es dergleichen nicht.

Es gibt ja so viele von denen, und nur so wenig wirklich verdiente Etappenkämpfer der grossen Zeit der kleinen Barrikädchen.

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Dienstag, 9. März 2004

Der Tee schmeckt noch genau so,

wie damals als Kind, wenn ich krank war, und kommt aus der alten Glaskanne, die in den frühen 70ern entworfen wurde . Salzletten sind auch noch da, wo sie früher waren. Soweit ist nichts neu.

Nur der Laptop ist eine Veränderung, die nachweist, dass dieses Haus in der Privinz im frühesten dritten Jahrtausend angekommen ist. Allerdings: Die Adressenliste im Explorer ist noch genau so wie vor drei Wochen. Auch bei den Dokumenten hat sich nichts getan. Eigentlich braucht hier niemand dieses Ding; nur ich, wenn ich hier bin.

Aber auch dann ist das Internet hier nicht das gleiche wie in München oder Berlin. Internet findet im alten Arbeitszimmer statt, zwischen unbeliebten Historismusmöbeln und einem angegrauten Chefschreibtisch aus einer Firma, die in dieser Stadt seit Jahrzehnten Marktführer ist. Mag sein, dass das Netz eine eigene Welt ist, aber hier sieht man an der Position und der Nutzung des Interfaces, dass es eine Welt ist, die vielen Leuten am Arsch vorbei geht. Weil sie es nicht wollen und brauchen.

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Dienstag, 2. März 2004

Übrigens, sagte der Mann,

der es nicht mehr nötig hat, im Alter von knapp 60 noch zu arbeiten, wissen Sie, das mit der New Economy habe ich über die Freunde meiner Tochter mitbekommen. Leute von Pixelpark sind das. Waren das, besser gesagt. Die haben grösste Probleme, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Und wie es bei Pixelpark aussieht, will ich gar nicht wissen. In Berlin sind nur noch 80 Leute.

8o, frage ich.

80, sagt er, vielleicht auch etwas weniger. Und denen geht es auch nicht gut, was man so hört. Naja.

Und er streichelt die fette Katze, die sich anschickt, sich in die Polster der Stühle zu krallen. Dann erzählt er aus seiner Zeit in der Studentenbewegung.

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Samstag, 28. Februar 2004

Club der schönen Mütter

Alleinstehende Frauen, die um 1960 herum Mitte 20 waren, hatten es nicht leicht. In der Stadt, aus der ich stamme, hätte man ihnen kein Zimmer gegeben - und wenn, hätten sie keine Männer mitbringen dürfen. Falls doch irgendwie einen Kerl ins Bett gebracht hatten, begann das Drama mit der Schwangerschaft. Hoffentlich nicht, und wer kann dann helfen, wenn...? Oder, grauslig, austragen und heiraten? Aber wie soll es sonst gehen, vom Geld her betrachtet?

Dann kam erstmal Carl Djerassi, ein netter jüdischer Ex-Österreicher, der die Pille erfand, aus der die Alpträume der Lebensborn- und Christenzuchtfanatiker sind. Und dann kamen die 68er, und traten die selben Typen kräftig nochmal in den Podex. Nicht kräftig genug, dass die Weltrevolution kam, aber doch so nachhaltig, dass die meisten Studentinnen heute die Pille schlucken und erst mal Single bleiben. Nicht alleinstehend, sondern selbstbewusst.

Bis dann der Trend zu den schönen Müttern kam. In den Redaktionen mancher Gazetten hatten die Lebensbornfreaks überlebt. Was Anfang der 90er bei der Tempo noch zu gehöriger Verachtung der Weicheier führte, die so ein Drecksthema wie Blagen auf den Titel hoben, wird heute akzeptiert. Der Zeitgeist ist einfach so. Hauptsache, man kann es schön wirtschaftlich begründen:

Karin Bayer-Ortner, Theologin und Sozialpädagogin und ihr Mann Michael, Volkswirt aus Köln sprechen über die ökonomische Theorie von Ehe und Familie (u.a. Nobelpreis von US-Ökonom Gary Becker) und die "Operationalisierung" mit Blick auf den erst wenige Monate alten kleinen Johannes.

Von hier.

Dann kann man sich ja sowas altmodisches wie die Pille sparen. Ist ja auch ungesund, im Gegensatz zum Joggen mit dem sportlichen Buggy. Dann kann man, gestählt wie ein BDM-Mädel, auch mit dem Finger auf so einen alten Sack wie Don Alphonso zeigen, der nach dem Lesen der Ankündigung am liebsten eine Tour durch die Kneipen machen wollte, Saufen bis das Schwein pfeift, und morgen um 18 Uhr neben einer netten Frau aus Ungarn aufwachen will, die für die Stunden davor seine letzten 400 Euro vom Vorschuss für das nächste Buch bekommt.

Gut, ich bin Antialkoholiker. Mein Liebesleben ist keinerlei finanziellen Folgen unterworfen. Aber manchmal würde ich einfach gern...

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Donnerstag, 26. Februar 2004

Eames Chair

Der Inbegriff der New Economy. Darauf sitzen sie alle, die was zu sagen haben wollten. Den brauchte man, wenn man es geschafft haben wollte. Klassisches Aluminium, keine offenen Schraubenköpfe, Leder, auch nach 20 Jahren noch in Form, wenn das Startup schon 18 Jahre pleite ist und der Entrepreneur sich fragt, wie wohl die Rente als Kellner so sein wird.

Ein Eames Chair muss es sein. Ausser natürlich für den inzwischen etwas älteren Mann, den ich heute traf. Der weiss nicht, was ein Eames Chair ist, auf dem die jungen Hüpfer sitzen.

Ist ihm wohl auch nicht so wichtig, mit ein paar hundert Millionen auf der hohen Kante.

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Mittwoch, 18. Februar 2004

Der Spontispruch

Enteignet Springer!

Der hört sich auch nach 35 Jahren immer noch verdammt gut an, heute Nacht.

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Sonntag, 15. Februar 2004

BC

BC stand früher mal für "before christ" und umschrieb eine Zeit, in der nach Ansicht einiger Leute das Heil noch nicht angebrochen war.

Dann, Ende des 2. Jahrtausends nach Christus, stand BC für Beisheim Center. Ein Gebäudekomplex mitten in der Wüste des Potsdamer Platzes, und hier sollte das heil auf all diejenigen Vertreter der 68er warten, die es sich nach dem Gang durch die Institutionen leisten konnten.



Für mich steht BC heute für before catastrophe, für den Irrsinn, der dem Niedergang vorrausging. Und im BC der zweiten version brennen nur wenige Lichter. Es sieht sehr still aus, fast möchte man sagen: Tot. PC im Sinne von post catastrophe.

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Sonntag, 8. Februar 2004

Deadlined

Irgendwann musste es ja schief gehen, würde Mama sagen. Damals, in den 60ern, in ihrer Jugend, war alles noch so normalspeed, da gab es Puffer und kein Puffdasein für unsereins Medienhuren und kein just in time. Sie hatten beim Marsch durch die Institutionen 1 Job zu tun, und nicht 5, wie sie unsereins to do hat. Konzept Businessplan Text Meeting über 2 Kontinente und natürlich eine Deadline dabei gekillt, mit blöden Konsequenzen. 5 Jobs istgleich 5 Möglichkeiten zum verrecken, und Fuckit ist unser Morgen- und Abendgebet.

Das hätten sich die 68er mit ihren siffigen Joints nicht träumen lassen, diese Welt, die sie da mehr oder weniger erschaffen haben. Aber sie müssen es ja nicht ausbaden.

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Freitag, 6. Februar 2004

Rosa Haare

Er ist ein Restbestand. Ein Fragment einer zertrümmerten Kultur. Herabgeschlunzt wie die meisten in dieser Stadt, in diesem Viertel, das sie hier "Kiez" nennen, weil es so heimatlich klingen soll, wie es garantiert nicht ist, mit den Drogendealern an den Telefonzellen, den Gebrauchtmärkten, bei denen es keine Rechnungen gibt, und den strategisch verstreuten Thai-Bordellen.

Inmitten dieses unspektakulären Dauerniedergangs steht also der Typ an der Kasse, gebückt, in den frühen 60ern, vielleicht auch jünger und durch den Lebenswandel vorzeitig gealtert. Er dreht Zigaretten selbst, wie damals vor dem Springer-Hochhaus. Und die Haare sind rosa gefärbt. Bis heute.

Er hat es nicht rausgeschafft zu den noblen Vororten, wo seine Mitkämpfer von damals heute residieren. Er hat den Zeitpunkt verpasst, zu dem man sich am Besten eingliedert und von der Reaktion gut bezahlen vulgo kaufen lässt. Seine Haare sind so fettig wie die der meisten älteren Männer in Berlin a. d. Spree, wo Körperpflege wenig gilt, aber die Haare sind rosa, und das macht den Unterschied zu den Kotzfressen der Blockwartclone, die sonst in diesem Viertel den Ton angeben.

Hin und wieder schnieft er die Nase bewusst proletarisch und laut hoch. Die alte Schachtel vor ihm im falschen Lammfell schaut angedisst. Den Wodkaflaschen nach zu schliessen, hat er ein erhebliches Alkoholproblem. Vielleicht ist das dafür verantwortlich, dass er den Marsch durch die Institutionen nicht geschafft hat. Und weiter an die Revolte glauben muss, bis das Vergessen im Wodka einsetzt.

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Mittwoch, 28. Januar 2004

Real Life 27.1.04 - 13. Stock

Dass er die Fliegeruhr deutscher Bomberpiloten des 2. Weltkriegs trägt, hat nichts zu bedeuten. Die gleiche trage ich seit Jahren auch, denn es ist Krieg da draussen, in meiner New Economy und seiner inneren Sicherheit. Die Uhr passt zu uns, denn wir haben nicht viel Zeit. 20 Minuten bis zum Ziel.

Links neben uns geht das ssk ssk der Kamera los. Wir beide sind nach vorne gebeugt, niemand weicht dem Blick des anderen aus. Wer in Wackersdorf war, hat keinen Respekt vor Innenministern, und wer in Stammheim war, kennt seine Journaille. Fragen schwirren durch den Raum, gekürzt, abgehackt, schnell, der PR-Chef hat das so nicht besprochen, aber egal, es ist wenig Zeit, da wird gehobelt.

Die Quotes sitzen, er geht manchmal aus der Reserve, wie man das als Journalist mag. Wir schlagen ein paar Haken um das Thema Zuwanderung, irgendwann gibt er den ganz Harten, wie man das von ihm kennt: Er sagt es leise, und mit genau dem Blick, bei dem der Photograf den Film nur so durchjagt, ssk ssk ssk. Klasse Sache, wenn es so im Interview läuft. Jeder Satz ein Präzisionsabwurf, nur manchmal ist da etwas Unsicherheit, aber wenn man das Gespräch ernst meint, gehört das dazu.

Nach 21 Minuten 57 Sekunden sind wir fertig, und 5 Sekunden später platzt der Assisten rein - der Wagen wartet.

Komisch, meint mein 10 Jahre jüngerer Photograf, als wir unten an der Wache des Bundesgrenzschutz vorbeigehen, ich habe wirklich versucht mir vorzustellen, wie der mit den Leuten der RAF gesprochen hat, aber es geht nicht.

So sind sie nun mal geworden, die 68er, sage ich.

Warum eigentlich? Muss das immer so laufen?

Vielleicht. Entweder man stirbt als Rebell, oder der Rebell stirbt in einem.

Und dann verlassen wir Alt-Moabit. Irgendwo dahinten verlieren sich die Doppeltürme des Innenministeriums im dunkelgrauen Nebel des Berliner Nachmittags. Im 13. Stock brennt kein Licht mehr.

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