: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Montag, 30. Oktober 2006

Vorsätze und deren Brechung im Web2.0

Ich war gestern Abend bis inne Puppen etwas länger aus, mit Leuten, die ich teilweise kannte. Andere kannte ich noch nicht. Eine bunte Mischung von der sattsam bekannten Iris über deren Umfeld bishin zu ein paar Leuten der Elitehochschule, die am gleichen Tisch im überfüllten Lokal sassen und dann dabei blieben. Vielleicht, weil sie das Auto von Iris Mama draussen vor dem Lokal gesehen haben und dachten, das ist ihr späteres Chefklientel. Dass wir ein Haufen Arbeitsloser, Geschiedener, Gestrandeter und obskurer Tätigkeitsnachgeher, vor allem aber Söhne und Töchter sind, haben sie nicht erkannt. Es war ein lustiger Abend, und während die anderen den Elitessen die Hucke volllogen, blieb ich einigermassen bei der Wahrheit: Autor mit zwischenzeitlichem Irrweg in der Beraterszene der Munich Area in ihren besten Tagen 1999-2001.

Warum ich niht weiter gemacht habe, wollte man wissen, und nachdem ich keine Lust hatte, die Zeit und ihre Schöpfung "Don Alphonso" mit all den scharzen Geschichten zu erklären, beliess ich es bei den viertelwahren Standardausführungen - dass ich genug Irrsinn gesehen habe, dass ich Beratung für komplett sinnlos halte, weil man diese Naturprallis jede Hilfestellung geben kann und sie trotzdem beim ersten Schritt in die Mine treten: Oberflächliche und falsche Markteinschätzung, Produkte ohne Vertrieb, unzureichende Planung, gnadenlose Überforderung. Aber, kam der Einwand, das ist doch jetzt vorbei, mit Webtuu-oh sind jetzt neue Rahmenbedingungen da, die Leute haben dazu gelernt. Keine Ahnung, sagte ich, und wechselte das Thema. Schliesslich bin ich der höflichste Mensch von der Welt und versuche das auch zu bleiben, egal was meinen Weg quert.

Heute aber bin ich auf ein perfektes Web2.0-Startup gestossen. Kein Name, kein Link, ich erklär´s mal: Kleinstfirma für hochwertige, trendige und gesunde Nahrungsmittel, extrem kleine Nische mit recht hohen Preisen, das Thema ist von den Grossen noch nicht besetzt, das Ganze läuft aber in einem anderen Land bereits prima. Klassische Copycat-Situation, ähnliche Märkte, gleiches Geschäftsmodell, und dazu eine extrem offene Kommunikation über Blogs und Kommentare. Ausserdem ein Wettbewerb für das Logo und den Namen mit Geldpreis, Testangebote für Blogger, zackige Logos, und die Website dürfte auch mit Ruby on Rails programmiert sein. Die Produkte werden in Eigenregie produziert und inzwischen auch an die ersten Läden vertrieben. Und ich wollte unbedingt wegschauen, aber ich habe es nicht geschafft.

Nun denn. Aktuell lässt der Web2.0-Gründer, der mit jeder Faser seines Seins die als "digitale Boheme" hochgejazzten urbanen Penner ohne Festanstellung, aber mit massig Kreativität und Mut repräsentiert, das gesamte Internet wissen, dass er ein Problem hat: Der kostenintensive Versand seiner Waren. Echt fies, wo er doch der ganzen Welt sein Produkt erst mal fast umsonst im Netz anbieten kann. Der Versand aber ist so teuer, dass letztlich bei ihm kaum was hängen bleibt. Weshalb er die Leser seines Blogs nach Tipps für den deutschlandweiten Vertrieb fragt.

Jetzt. 6 Monate nach Start. Da tut sich einer wegen der Verpackung und dem Namen monatelang ab, aber erst jetzt kommt ihm die Idee, dass das Zeug irgendwie zum Kunden muss, und dass sowas nicht wirklich billig ist. Wie er aber in aller Unschuld mitteilt, muss da eine Lösung her, weil der stationäre Verkauf in einem halben Dutzend Szeneläden finanziell, oh grosses Wunder trotz Web2.0, nicht reicht.

Das ist so, als ob ein Soldat monatelang nur Kugeln rausgesucht hat und auf dem Schlachtfeld dann fragt, wie er jetzt eigentlich so ein komisches Gewehr bekommt, daran hat er nicht gedacht, aber es ist schon wichtig, oder? Das ist absolut bitter, weil es zeigt, dass da absolut nichts gelernt und begriffen wurde. Firmen sind nun mal kein verficktes Beta, wo man irgendwas rumfrickeln und mit den Nutzern faseln kann, bis es schon irgendwie läuft. Ein Produkt und einen Onlineshop zu haben und keinen Vertrieb und kein Preismodell für diesen Vertrieb ist der sicherste Weg in die Pleite, egal ob da einer was kauft oder nicht. Wenn keiner kauft, fressen ihn die Fixkosten, wenn einer kauft, fressen ihn die Versandkosten. Daran ändert auch web2.0 nichts.

Es ist so ein abartiges Elend, die Kommentare durchzulesen. Arschkriecher und mit dem Zeug gekaufte Lutscher ohne Ende, die das alles prima finden und nicht mal auf die Idee kommen, dass da was grundsätzlich schief läuft. Ist ja alles so schön bunt dort, super Idee, und so offen mit Blogs und so. Nirgendwo ein kritischer Partner, der die Sache mal abklopft. Kuscheln bis in die Grube. Social Software, Du und Deine Freunde. Die sicher auch noch einen netten Kommentar schreiben, wenn Du beim Amtsgericht aufläufst. Web New Economy 2.0 halt, früher hatte man 20 Millionen VC und drehte eine Gründersoap, heute hat man viel Zeit, ein paar tausend Euro gespart und schreibt ein Blog. Die digitale Boheme als low cost Ausgabe des Entrepreneurs, das abgewetzte Barcamp statt Anzug auf Schloss Elmau, Küchentisch statt Loft und allen anderen Kumpels geht es heute ähnlich, aber besser als Festanstellung ist es immer. Und Successtories gibt es ja auch.

Richtig. Das Unternehmen, dessen Idee hier kopiert wurde. Dem geht´s prima, schon lange. Da gab es noch nicht mal das Internet als Massenmedium, geschweige denn Blogs. Aber vermutlich einen, der sich lange Gedanken über profitable Geschäftsmodelle gemacht hat. Die richtige Planung hatte, und den Krempel nicht in 6 Monaten übers Knie brechen musste. Ganz ohne Web2.0 und dem Bohei. Dieser jemand hat auf seiner Website übrigens unten eine deutsche Flagge. Wenn man da drauf drückt, kommt ein Text, in dem eine baldige Expansion nach Deutschland angekündigt wird. Dafür suchen sie einen Country Manager, 7 Jahre Berufserfahrung und MBA und noch einige andere furchtbar stressige Dinge, die in keinem Buch über angewandtes urbanes Pennertum vorkommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass damit einen Blogger mit einer geklauten Idee meinen. Sondern einen Verkäufer, der sich auf dem Markt auskennt. Und mitbekommt, wenn plötzlich ein Gigant auftaucht, um den Markt mit einem erprobten Geschäftsmodell zu übernehmen.

Solche Gestalten rennen da draussen rum, mit dem long Tail sind sie die Geilsten, das mit dem Cash Flow positiv packen sie schon, wenn sie ihre Serverkosten bezahlen können, machen heute doch alle so, und irgendwann wird schon einer kommen und das alles aufkaufen. Naturprallis. Kannste nichts machen. Die sind so. Die werden wieder auf die Schnauze fallen, und in 5 Jahren haben sie sich wieder neu erfunden.

Irgendwelche Fragen, warum ich nicht mehr berate? Ja? Bitteschön: Weil ich der höflichste Mensch von der Welt bleiben möchte.

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E-Paper in der Offlineversion.

Ich möchte hier nur kurz zum Ausdruck bringen, dass gewisse Ideen der Verzahnung von Online und Print meines Erachtens niemals funktionieren werden. Aber nehmen wir einfach mal an, dass die folgende Information über das geplante Online-Portal der WAZ-Gruppe kein Übermittlungsfehler oder Missverständnis ist, sondern zutrifft:

Während die regionalen und überregionalen Nachrichten-Seiten vom Online Team [...] gefüttert werden, sollen die Print-Lokalredaktionen aus ihren Bereichen die digitalen News beisteuern.

Ja macht sich dann der gedruckte Lokalteil so nicht auf lange Sicht überflüssig? [...] Nein, im Gegenteil, versuchte Online-Chefin Borchert einem besorgten Lokal-Redakteur den Wind aus den Segeln zu nehmen. Es sei geplant, nicht mehr wie bisher, die Print-Artikel 1 zu 1 ins Netz zu stellen, sondern lediglich kurze Anreißer mit Hinweis auf die Druckausgabe zu veröffentlichen.


Ah ja. Mhm. Also, immer vorausgesetzt, das stimmt so, wie es beim angeblichen Whistleblower Wazsolls dargestellt wird. Die Vorstellung, dass mir einer sagt, er habe hier und jetzt diese und jene Information, die mich interessiert, und jetzt (oder nach dem Druck) solle ich bitte loslaufen, zum Kiosk latschen und mir die Zeitung mit allen anderen, völlig uninteressanten Themen kaufen und somit an die Information kommen - die Vorstellung empfinde ich als feindlichen Akt. Mit sowas bin ich ruckzuck weg und komme nie wieder. Ich mein, dass es die Zeitung am Kiosk gibt, ist mir durchaus klar.


bei so einem kiosk würde ich kaufen, aber hey, die waz ist im ha esslichen essen

Aber wer ernsthaft glaubt, ich wäre zu doof, mir danach GoogleNews anzuschmeissen und mir die Nachricht woanders zu holen, hat das Spiel hier draussen nicht kapiert. Die Idee einer begrenzten Information als Kaufanreiz funktioniert vielleicht bei hochwertigen Zeitschriften mit exklusiven Bildern - aber da auch nur für den meines Erachtens zu hohen Preis, dass sie keinerlei Internetmarken werden.

Information wants to be free, das ist das Grundgesetz der Internetkommunikation. Die WAZ ignoriert völlig, dass sie die Nachrichten am Tag nach dem Abdruck mangels Zeitung sowieso nicht mehr verkaufen kann. Die einzige Verwertungsmöglichkeit ist zu zeigen, dass man Kompetenz besitzt, und dazu muss der Beitrag online stehen. Nur so kann man Leser binden, alles andere bringt einem null Kunden und treibt alle weg zu demjenigen, der die Information anbietet. Was die WAZ da plant, ist faktisch E-Paper in der Offlineversion. Und das bringt weder den Online- noch den Offlineredakteuren irgendwas.

Man wird irgendwann nicht mehr umhinkönnen, den Leuten ein paar grausame Wahrheiten zu sagen. Jenseits von Special Interest, besonders bei Tageszeitungen gehen die Lichter aus. Nicht weil der Kunde so böse ist, sondern weil sich die Gesellschaft ändert. Zeitungen und allen voran Neoconwürmer wie an mancher WAZ-Stelle haben für die Wirtschaft und ihre Arschkriecher der Politik seit 15 Jahren das Hohelied der Mobilität, Flexibilität und der sozialen Ungerechtigkeit gesungen - jetzt, mit dem Niedergang des klassischen Kleinbürgertums, bekommen sie die Rechnung serviert. Es ist verdammt hart zuzugeben, dass die Redakteure im Internet keine vollwertige Alternative finden weden. Es kostet massenhaft Stellen. Aber es bringt einen um, sich gegen die Entwicklung zu stellen und die Leser in vorgegebene Bahnen zu zwängen. Das geht hier draussen nicht mehr. So verscheucht man die Leute. Wer ficken will, muss nett sein. Wer Leser will, muss erzählen.

Alles andere ist vorbei, Freunde der Blasmusik. 2 cent Beratungsgebühr.

So, und jetzt ganz ruhig, bitte: Keine persönlichen Geschichten in den Kommentaren. Es geht hier um die Strategie der WAZ und nicht um Blogger.

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