: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Freitag, 1. Februar 2013

Überkultur

Wer Blogs schon nicht schätzt, sollte sich auf gar keinen Fall Twitter antun. Wenn Blogs der Strassenanzug sind, dann ist Twitter eher sowas wie die dreckige Unterwäsche. Im Blog erzählen sie, dass sie Interesse an Kunst haben und Diskriminierung hassen. Und bei Twitter, was sie sich sonst so anschauen. Und wie Don Dahlmann komme ich überhaupt nicht damit klar, dass das eine das andere nicht ausschliesst, sondern einfach nebenbei miteinander läuft.

Die belustigten Reaktionen auf solche Formate befremden mich aber noch mehr. Und das sich offenbar niemand fragt, über was und warum er gerade lacht.





Im Palazzo Schifanoia in Parma ist unter den Monatsbildern auch eines vom Karneval, bei dem die Misshandlung der Anderen gezeigt wird: Zur allgemeinen Belustigung hat man damals psychisch Kranke, körperlich Entstellte und sozial Ausgegrenzte zusammengetrieben und nackt durch die Strasse gejagt. Dieses Detail ist innerhalb eines riesigen Saales mit umfassendem Bildprogramm nur ein kleiner Streifen, und viel grösser ist natürlich das dargestellt, was die Este in dieser Jahreszeit der Hochreinaissance tun. Man muss sich vielleicht etwas weniger über solche Bildprogramme wundern, wenn man weiss, mit welchem Menschenbild die Este ihr Fürstentum eroberten und beherrschten. Noch weniger wundern muss man sich jedoch, wenn man unsere Gegenwart kennt, die auch mit so einer sozialen Schnittstelle aufwartet. Und vieles, das man heute mit der Frage "Wie konnten sie nur?" der Vergangenheit vorwirft, wird man bei ähnlicher Gelegenheit auch bei uns tun. Und davon liefern wir reichlich. Eine Folge von zu vielen Menschen, die sich ihr kulturelles Weltbild frei zusammenstellen.

Der wirklich spannende Aspekt in dieser Sache ist in meinen Augen die Sozialkontrolle. Denn die gibt es natürlich weiterhin, und das, was das TV zeigt, sind nachgerade Experimente für ein Verhalten, das die Beteiligten vehement ablehnen würden, wenn man es auf sie anwenden würde. Was sich wirklich ändert, ist also der Kontrollmechanismus und seine Reizmuster, weg von "so etwas tut man nicht" hin zu "geh weg das langweilt mich". Was das ist, wird vorgegeben von Zeremonienmeistern, die, wenn sie sterben, von Panegyrikern besungen werden, die es so auch in der Renaissance gegeben hat. Und es finden sich auch genug Menschen mit moralischer Attitüde, die sagen: Ich kenn die. Das sind okaye Leute. Traut ihnen. Ganz ehrlich, ich empfinde historisch fundiert begründet keine Trauer um das Aussterben der Hauptlinie der Este, und bei TV-Mitarbeitern und ihren Helfern ist das auch nicht anders.





Sozialkontrolle ist auch der Aspekt, weshalb man sich damit vielleicht doch auseinannder setzen sollte, denn natürlich sind solche Veranstaltungen nur die Übungsgelände. Glaube bitte keiner, dass man das nur mal eben so macht, und dann geht es wieder ganz normal weiter. Sonderlich weit scheint mir der Weg von "Den mag ich nicht der soll Maden fressen" hin zu "Die sind anders die sollen mit einem Schild um den Hals die Strassen schrubben" nicht zu sein. Es wäre deshalb ganz famos, wenn diejenigen, die dergleichen so sehen, unter sich blieben und das unter sich ausmachen würden. Vor allem, weil das mittelfristig sicher zu einem Überdenken solcher Methoden führen wird. Anders werden sie es kaum lernen. Solange kann man ja schon mal ein paar Bücher lesen und noch welche nachkaufen, so lange es sie noch gibt; in München etwa hat die Buchhandlung Goltz geschlossen, was wirklich ein harter Schlag für "mein" Viertel ist, das schon lange nicht mehr meines ist.

Damit ich noch mehr unterbringe, habe ich meiner Wohnung zum 5-jährigen Jubiläum so einen passenden Schrank geschenkt. Eigentlich wollte ich ein eingebautes Regal haben, aber der Besuch beim Schreiner brachte zu Tage, dass er so etwas kann und zwar so gut, dass ich mich bitte ganz hinten anstellen möchte: 6 Monate Lieferzeit momentan. Und dann habe ich eben für einen Bruchteil und einen noch kleineren Bruchteil des OVP eine Buchvitrine in einem Münchner Vorort ersteigert.So baue ich mir langsam meine Alpenfestung zusammen, und so wunderlich man die Menschen hier finden kann, sie haben andere Themen und Interessen und irgendwie nettere Methoden der Sozialkontrolle.





Zu Zeiten der Este musste man sich übrigens ständig überlegen, wie man kulturell Abstand bewahrte. Man musste Bibliotheken anlegen und Musiker an den Hof holen und menschlich nicht ganz einfache Autoren betreuen. Heute reicht es eigentlich schon, exakt so zu bleiben, wie man ist; dem Rest wird ein Unterhaltungsprogramm geboten. das exakt auf seine Wünsche zugeschnitten ist und sie auch nicht zum Schleppen schwerer Bretter zwingt, die all die Kunstbände ettragen. Die Gesellschaft bricht auseinander, eine übergeordnete Identität gibt es nicht mehr, wir spielen Elite ohne die dafür nötige Unterschicht, und die Abgehängten üben Abhängen.

Der Bücherschrank jedenfalls hat genau die richtige Grösse.

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