: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Dienstag, 15. Oktober 2013

Kostenlos mitzunehmen

Obwohl ich Züge zutiefst hasse - oder vielleicht sogar deshalb - sind sie gar nicht schlecht zum Abgleich mit dem, was man so landläufig als "Realität" bezeichnet. Also das, wo Menschen weisse Decken und Wandtattoos haben und Nespresso trinken und dabei freudeerfüllt im Ikeakatalog blättern in der Hoffnung, dass sie sich irgendwann so weit hoch gearbeitet haben, dass sie sich einen Tiefgaragenstellplatz leisten können.



In Wirklichkeit ist das alles natürlich noch viel schlimmer, meine Visionen der Finsternis sind deren elitäre Tagträume, wenn überhaupt. Zum Beispiel bin ich der einzige, den es offensichtlich reisst, wenn im Bordbistro jemand um 11 Uhr vormittags über das Boulevardblatt hinweg ein Bier und dann noch eines bestellt. Ich würde dem ja die Krankenkassenbeiträge raufsetzen, dass er sich nicht mal mehr eine Dose leisten kann. Schön, wieder daheim zu sein! Pakete sind da, und der Inhalt ist hoffentlich auch eine Versicherung, dass es mir dereinst nicht so gehen wird.



Interessanter aber fand ich den jungen Mann, der mir auf der Heimfahrt gegenüber sass. Wegen dem muss ich mir wirklich Gedanken machen, denn er hatte ein sehr teures Notebook, ein sehr teures Mobiltelefon, eine offensichtlich grössere Sammlung von Musik und einen sehr teuren Kopfhörer. Lauter Zeug, bei dem ich bei aller Gewissenserforschung genau weiss, dass ich mir das in seinem Alter nicht hätte leisten können. Der Computer, den icn dabei habe, hat inzwischen kein sichtbares N mehr und das M ist auch schon lädiert; mit so etwas würde so einer erst gar nicht aufkreuzen; gebraucht bei Ebay würde er weniger kosten, als seine umgedreht aufgesetzte Baseballkappe. Ich gehe also mal grob davon aus, dass das meiste, was er an finanziellen Mitteln hat, in solche Gerätschaften geht. Oder auch, gehen kann. Das Irre ist, mein kleiner eeePC wäre für alle Anwendungen vermutlich auch nicht schlechter, denn ich habe schon auf einem 233er Notebook mit 4 GB Festplatte einstündige Radiosendungen gebaut, und heute wären auch 24-Stunden-Features möglich. Mit so einer kleinen Kiste bliebe einem, dessen Mittel qua Lebenssituation zwangsläufig begrenzt sind, viel für Alternativen übrig - aber das macht der nicht. Vermutlich, weil er weiss, wie er den Rest dieses Lebensstils kostenlos bekommt, wenn er sich nur auf das Netz konzentriert.



Als ich mir min erstes Rennrad neu kaufte (damals gab es noch keinen Gebrauchtmarkt), hatte ich etwa 2500 Mark auf der hohen Kante. Und mir war vollkommen klar, dass ich mit jeder Mark meine zukünftigen Möglichkeiten beschneiden würde. Würde das Rad 1400 Mark kosten, wäre weniger Geld für Urlaube vorhanden. Würde ich 2500 ausgeben, wäre jede Art von grösserer Tour schlagartig unmöglich. Das ist auch heute noch so, selbst in einem grösseren Massstab muss ich Spielräume freihalten, denn wenn ich Biedermeierdame 1 nicht zu einem gewissen Limit bekomme, werde ich mir Barockdame 2 mit Sicherheit nicht leisten können.

In meinem Bereich muss ich immer ein, wenn nicht gar zwei Augen auf die Folgekosten haben. Das wurde mir auch so beigebracht, und das war eigentlich ganz gut, selbst wenn es nicht immer freudenreich ist. Aber im Lebensraum Internet sieht die Sache ganz anders aus, da wird am Anfang wirklich viel Geld ausgegeben und dann eben genommen, was man kriegen kann, im Sinne einer "Ich habe so viel bezahlt und jetzt will ich Belohnung"-Mentalität. Ich denke, das sind so die Gründe, warum all diese Träumereien von der Paywall nicht funktionieren werden: Die Leute geben irrwitzige Summen für das Technikzeug aus. Und weil sie das tun, hören sie danach zwangsweise auf mit dem Bezahlen.



Ich kann das insofern verstehen, als manches, für das man zu zahlen gezwungen ist, wirklich unerfreulich ist. Ich habe den Fehler gemacht, mir auf der Messe ein Ciabatta zu kaufen. Mit Mozarella wie Gummi und steif gefrorenen Tomaten, und das Brot war auf eine eklige Art geschmacklos.Nicht die italiensiche Art des zurückgenommenen Geschmacks, sondern diese deutsche Art der minderen Qualität und der Unfähigkeit, das Wesen des Brotes zu verstehen. Das könnte sich ein Anbieter jenseits solcher Zwangsräume nicht leisten. Ich habe dann daheim erst mal gekocht, weil ich es gerne mache und besser kann. Ich zahle ungern für Ungutes. Aber da ist immer noch ein Unterschied zu jenen, die nicht zahlen, weil es sich finanziell in ihren Rahmen nicht ausgeht. Und da hilft es meines Erachtens auch nicht, wenn man die Paywalls bunt anpinselt und Sonderfunktionen in den Vordergrund stellt.

Es sind einfach die falschen Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten geschaffen worden. Die Zeitung steht wie die Paywall vor dem gleichen Problem, es gibt einen Wandel bei dem, was man für unverzichtbar hält. Computer, Essen unterwegs aus Plastik, Nespresso, Ikea alle 5 Jahre. Und dem, was darüber hinaus mit den verbleibenden Mitteln optional zu ergattern ist. Ich sehe nicht, wo das Leben dabei besser oder praktischer wird, denn es ist teuer, so teuer, dass sogar ich Bauchschmerzen bekomme, wenn ich die Preise sehe. Aber diese Verschiebung der Bedürfnisse ist einfach da, die haben die Medien mit den neuen, wirtschaftlich besser verwertbaren Lebensmodellen selbst mitgeschaffen, und wenn da irgendwo Platz für bezahlte Texte sein soll, dann sollte man mir den zeigen.

Oder sich überlegen, bei welcher Zielgruppe man überleben kann.

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