Real Life 1.1.2008 - Besser als jede Vorabendserie

Du gehst gern zu dem Konditor im Ort, wenn Hochbetrieb ist. Bei Hochbetrieb, sagen wir mal, so gegen halb vier an den Sonn- und Feiertagen, kann man immer fünf Minuten spannende sozioethnologische Beobachtungen machen. Armutsforscher gehen in Obdachlosenasyle, Reichtumsforscher, die es in einer vergleichbaren Form nicht gibt, sollten das hier besuchen: Eine etwas teurere Konditorei mit schweren, wirklich schweren Torten an der Strasse zwischen einem Casino und drei Millonärsvierteln, an einem Feiertag um halb vier.



Neben den üblichen Rentnerinnen in Gucci und Chanel, die sofort den Wunsch nach selektiver, gegenläufiger Rentenanpassung in unterschiedlichen sozialen Schichten aufkommen lassen, drücken an solchen Tagen die Nachfolger rein. Besonders herzig in diesem Kontext zwei Clans, zwischen denen eingepfercht du auf deine Torte wartest.

Da ist also die städtische Kleinfamilie, Eltern etwa in meinem Alter mit einem Sohn im niedrigen Grundschulalter. Papa in Schwarz mit dunkelgrauem Lodenjanker, Mama in Schwarz mit diesen beschnallten Stiefeln, die sowas wie Durchsetzungskraft ausdrücken sollen und immer arg bemüht wirken, beide den Eindruck erweckend, man habe gleich in der Villa einen grossen Empfang zu geben, und bräuchte neun Stück Kuchen. Es ist voll, es ist eng, von hinten schiebt die zweite Familie heran, und so wäre es angeraten, die Extremitäten dem Umfeld entsprechend zu kontrollieren. Nicht aber bei Mama. Obwohl auf der Sachertorte fett "Sacher" draufsteht, wippt sie dynamisch in die Knie, lässt die Hand dynamisch in Richtung Torte sausen, ungeachtet des Umstandes, dass du genau dorthin gedrückt wirst, und weil die Torte weiter unten ist, kommt es zu einer Kollision von Hand und einer deiner Körperregionen, das dir, würde dir es bei einer Frau passieren, so peinlich wäre, dass du dich sofort im See ertränkest. Zumindest würdest du daran denken, und dich danach, dunkelrot vor Scham wie eine Himbeertorte, entschuldigen. Sie jedoch nutzt dein instinktives Zurückweichen, um mit dem manikürten, geisterweissen Fingernagel auf das Glas vor der Torte zu tippen. Du findest konservative Leute erträglich, wenn sie sich konservativ benehmen, aber diese Vermischung, Kassieren wie ein Ausbeuter und privates Benehmen wie im antiautoritären Kindergarten, macht dich fertig. Denkst du.

Und drehst den Kopf zur Seite, denn du hast genug gesehen, und wirst jetzt bedient. Du musst nicht deuten, du kennst hier die Torten,du kenne sie alle, leicht und effektiv erbittest du das Gewünschte, einen Kontrast zu setzen gegen Herr und Frau Neokonservativ, da erblickst du den Block, der dich gegen sie drängte: Noch eine Familie, diesmal eindeutig altkonservativ, so, wie man das fette Balg in eine ladenneue Bauerndeppenuniform gezwängt hat: Ladenneue Lederhose mit Hirschhornlametta, Dorfseppelhut, Haferlschuh, Wadlsocken und ein kariertes Hemd. Von Ralph Lauren.

Dergestalt angetan, unternimmt das Balg seine erste Klettertour an den Metallstangen von der Tortenvitrine. Es werden wohl die einzigen bezwungenen Berge sein, eine Ernährung, die das Breitenwachstum im Auge hatte, dürfte selbst die Besteigung des Gasteigs oder des Osterberges bei Gmund unmöglich machen. Seine mutmasslichen Eltern sind möglicherweise gerade aus dem Musikantenstadl ausgebrochen, Kirschbombe und Tegernseetorte werden farblich gebleicht durch die Farbenexplosion von Dirndl und seiner zwischen dem Janker hervorberstenden Weste. Und sie unterhalten sich auf bestem Mitteldeutsch mit hessischem Einschlag über ihre Auswahl. Der Farbschock lässt nach, du erkennst eine üppige Moschinotasche in Glanzleder an der Seite des Dirndls, und der Mann spielt mit seinem Porscheschlüsselanhänger. Draussen steht das passende SUV. Hanauer Kennzeichen, wie du beim Verlassen des Cafes sehe. Konservativ bis in die Knochen ist auch Scheisse.

Sie wiederum werden sich gedacht haben: Äh. Noch so ein Berufssohn, mit seinem mittelbayerischen Tonfall und dem Smalltalk mit der Bedienung, die jetzt zum gefühlt zwanzigsten Mal in der Öffentlichkeit lautstark betont, wie günstig doch diese Wohnung war und wie schön es da ist, wo du wohnst, nicht wissend natürlich, wie dich derzeit die Grunderwerbssteuer schmerzt.

A saubere Bagasch, die da drin war, sagt man dazu in Bayern. Man erfährt hierzulande sehr viel über die tatsächliche Armut, und sehr viel über eine hinkonstruierte Oberschicht und ihren telegen gestalteten Reichtum. Es gibt eine Realität hinter Bunte, Gala, Managermagazin und RTL2-Dokus, sie verschliesst sich, weil sie doch nicht so schön ist, aber ab und zu muss sie raus, und sich was zum Essen beschaffen. Um halb vier, an der Strasse zwischen drei Millionärsvierteln und einem Casino, da kann man sie beobachten, in freier Wildbahn, an der Futterstelle. Danach weiss man mehr über dieses Land, das unseres ist, wenn wir oben stehen.

Freitag, 2. Mai 2008, 13:36, von donalphons | |comment

 
Viel besser als jede Sielmann-Natur-Doku :)
Schöner Text!

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Geier und Hyänen - die unbekannte Tierwelt des bayerischen Oberlandes.

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Wenn sehr viele, sehr feine Herren der Geschäftswelt (auch der Adel war vertreten) in halbprivatem Rahmen zusammenkommen, klingen auch dauernd Handys, und es wird um jeden Sitzplatz geschachert. Vor einigen Wochen genau so beobachtet.

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Die unerfreulicherweise rausgelassene Schweizer Ferrarifraktion auf dem Rückweg vom Autobahnbrennen, die am See sassen, ihre Autos auf dem Bürgersteig abgestellt hatten, und zum Klingelton eines Handies Luftgitarre zum Thema "Smoke on the Water" spielten, habe ich noch gar nicht erwähnt.

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aeh, ja - aber: Kind nicht Balg ... man sagt ja auch Fruehrentner und nicht vergreister Sack ...

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Nicht?

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Lerne Klagen ohne wirklich zu leiden. Das ist eben das Schöne, das auch die Stadteier sich auf dem Land als Landeier verkleiden. Das ist auch der Hauptgrund weshalb der Don sein Sommerdomilzil/Altersruhesitz an jenen See gelegt hat.

Es macht einfach Spaß sich von diesem Dumpfbiedermaier des schönen Scheins abzusetzen und ist zugleich so leicht. Der Sohn mit dem Breitwachstum soll essen so viel er mag, für ihn werden andere Zeiten kommen. In und um Hanau herum, wo der Leasinggeber sich freuen würde, wenn die Anzahlung des SUV nur in die Nähe der abzuführenden Grunderwerbsteuer gekommen wäre.

Solange die noch mit ihrem mehr oder weniger guten Namen bezahlen können, sieht alles ja noch halbwegs heil aus, aber im Hintergrund der Augen ist das Flimmern der Angst zu sehen. Genießt den Krieg, denn der Friede wird schrecklich sein.

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Will man etwas über die erfahren, die sich als eine Art Halbadel betrachten bzw. als die einzigen ansehen, auf die es wirklich ankommt, will man etwas wissen, über eine Elite, die kaum selbstgerechter ausfallen könnte, so lenke man seinen Blick auf diesen Lebenslauf, gerne auch in Verbindung mit den damit einher gehenden und vertretenen Haltungen.

Aufsteiger. Prächtige Vorbilder, jedenfalls - beim Tortenkauf.

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schon. das amerika-buch der verlinkten dame konnte sich immerhin bis heute in meiner bibliothek zwischen ernst vollraths grundlegung einer philosophischen theorie des politischen (1987) und panajotis kondylis der niedergang der bürgerlichen denk- und lebensform (1991) behaupten.

wie die aufsteigenden indischen mittelklassen shoppen, kann man hier nachlesen.

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