Aus der Requisite
Ich war kurz wegen eines Rades dort. Eine Fahrt in der Nacht, drei Erlebnisse. An einer Ampel bleibt ein Fussgänger (POC) auf der Strasse stehen, wartet, bis es rot wird, legt sich hin und macht Liegestützen, während seine Begleiterin Geld fordernd zu den Autos geht. Und als wäre das schon nicht schräg genug - es ist der Altstadtring, und hinter mir staut es sich, der Druck ist enorm - dreht der Audifahrer, in dessen Weg der Mann seine Körperertüchtigung macht, durch, brüllt, dass ich es durch beide Glasscheiben hören kann, ignoriert das Mädchen und fährt hupend auf den Mann zu. BGE trifft Leistungsgesellschaft, hinter dem Audi rollt der Verkehr an, Frau und Mann fliehen von der Strasse.
Und dann war da noch an der Takstelle die alte Frau, die die Mülleimer nach Flaschen durchsuchte. Ich bin gern unverheiratet und ohne Kinder glücklich, und ich bin mir aus Erfahrung mit Alter und Tod - das ist bei uns nämlich sehr traditionell, ganz im Gegensatz zu anderen - auch recht sicher, dass all die heutigen Turbomütter im Prenzlauer Berg später nicht weniger einsam als ich sein werden. Aber das ist das Schicksal, das uns droht, in unseren Singelmetropolen, deren Anonymität wir so geschätzt haben. Ich bin dann mal der Alte, der verbotenermassen alte Räder reparieren wird, trotz des Gesetzes für den Totalkonsum, dem aber nicht jeder wird Folge leisten können. Und zu Advent werde ich vielleicht Kränze machen. Aber genau das, was ich da an der Tankstelle sah, ist nichts, was man Rentnern zugemutet sehen möchte. Es ist eben diese Singlestadt mit ihrer Raumverschwendung für Einzelmenschen: Da kann ein Rentner nicht mehr mithalten. Aber wohin sollte er in diesem Alter noch gehen? Oder woher einen Kredit bekommen? Also gehen sie Flaschen sammeln. Die Stadt wurde an ihnen vorbei reich, und das wird vielen auch heute so gehen: So lange es gut geht, sind sie noch dabei, aber wenn sich das ändert, wird es eng. Vielleicht sollte ich auch Höllenangst haben. Zumindest verstehe ich, warum es anderen so geht. Bei mir ist es nur das Gefühl, das München verberlinert. Andere werden für die Anonymität einen hohen, einsamen Preis zahlen. Bei der FAZ war ein Blog zur Biopolitik, das sich vor allem mit Sterbehilfe beschäftigte. Es ging um den guten Tod, aber nicht mehr um das gute Leben. Das sind so die Dinge, die mir, zusammen genommen, die Luft rauben.
Nach München musste ich für ein altes Rad. Nach Hausham konnte ich anstelle des Marktes in Pfaffenhofen, denn lieber habe ich ein mieses Angebot in der Sonne denn ein weniger mieses Angebot im Nebel. Hausham, das ist aufgrund der Vergangenheit als Kohlenrevier sowas wie der Ruhrpott der Region, die Preise sind noch nicht so irre, die normalen Menschen sind noch nicht ethnoökonomisch weggesäubert, wie das am Schliersee wohl gerade wieder einsetzt, weil
Keine Sorge, ich verbayere nicht. Es ist nur so, dass es bald kalt werden wird, und Loden, das muss man zugeben, passt hier zum Wetter. In der Stadt kann man einen Mantel tragen, der die Brust frei lässt; in den Bergen versucht man am gleichen Kleidungsstück immer, es bis ganz oben geschlossen zu halten. So ein Lodenmantel mit Stehkragen hilft wirklich. Und die Knickerbocker brauche ich zum Bergsteigen. Ich beruhige mich im Laufe des Tages, Finden macht glücklich, in Hausham ist man nicht reich, aber man sucht auch keine Mülltonnen ab, es ist warm, und während ich bei Francesco neben dem Kamin sitze und die Trüffelravioli kommen, tritt alles andere zurück. Das Holz prasselt, ich bin sicher, ich habe ein Auskommen und noch ein anderes, ich muss nicht, ich kann. Ich muss mit meinem Wissen kein Profilschärfer und Markenkommunikator werden, ich muss mich keinen Kunden anbiedern und versuchen, das Letzte aus meiner kleinen Inselbegabung herauszuholen, um dem Druck der Erfolgreicheren zu widerstehen. Ich bin, wo ich sein möchte, der Mond scheint und der Föhn ist auch in der Nacht sehr mild. In der FAS steht ein Beitrag, den viele nicht mögen, und in den kommenden Tagen werde ich viel Zeug lesen, aus München und von anderswoher, in dem sich ereifert wird, als wäre alles bestens, und nur die Printschreiber müssten zittern. Aber da war die Frau an der Tankstelle und der Liegestützler auf dem Altstadtring. Ob der Mantel dann aus der TV-Requisite kommt, oder die Ravioli von Francescos Nichte, ist nicht bedeutsam. Das einzige, was wirklich wichtig ist, für alle und jeden ist, dass das Münchner Elendsverhältnisse in dieser Gesellschaft nicht der Normalfall werden - aber dahin treiben sie wahrscheinlich alle, die heute noch so internetverständigen Experten, die immer oben sein müssen. Nur weil der eine in den Medien krepiert, heisst nicht, dass die anderen überleben.
Früher habe ich nochmanchmal etwas gesagt, wenn Füße auf die Polster gelegt wurden oder Müll auf den Boden geworfen wurde. Anfangs sah man als Reaktion einen schuldbewußten Blick und es wurde der Dreck aufgehoben. Später wurde die Bitte ignoriert oder gemault.
Mittlerweile habe ich aber Angst, etwas in die Fresse zu bekommen und schweige.
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Zu dem Zeitgenossen mit den Liegestützen: ist es erheblich oder erwähnenwert, daß er POC war?
Macht doch eher keinen Unterschied, wenn er Eingemohrener war?
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Mittlerweile habe ich aber Angst, etwas in die Fresse zu bekommen und schweige. "
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Als Berliner S- und U-Bahnfahrer muss ich leider bestätigen: Hier ist es schon lange so. Und schlimmer. Auch ich habe diese Angst...
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Ganz ehrlich: im Vergleich dazu geht es hier in München sehr gesittet zu.
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Ich erwähne das mit dem POC, weil ich mich frage, was es war: Weiss gegen Farbe, Geld gegen Armut oder einfach nur schlechtes Benehmen gegen schlechtes Benehmen? Man weiss es nicht, vielleicht war es der Versuch, einer aktuellen Not zu entgehen, vielleicht wollte man einen draufmachen oder es sollte einfach nur dreist sein. Es geht mir einfach an die Nieren. Weniger der Mann als vielmehr der Audifahrer. Wegen der Eskalation.
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Und eigentlich ist es im Straßenverkehr auch nicht anders, als in der S-Bahn. Die Zahl rücksichtsloser, ungezogener Menschen nimmt zu.
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Ich reagiere darauf inzwischen mit einer extrem defensiven Fahrweise (hätte ich vor zehn Jahren auch noch nicht von mir gedacht). Aber ich möchte da draußen jedem Ärger aus dem Weg gehen und einfach nur entspannt und heil ankommen. Leider kann man selbst auf diese Weise kaum den Leuten entgehen, die es auf Krawall abgesehen haben. Aber es hilft zumindest etwas…
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Gut, gelegentlich gleicht die U-Bahn einem Panoptikum, aber das war früher auch schon so. Was sich geändert hat ist das Personal, dass nach diversen Lohndumping Runden sichtlich keine Lust mehr auf den Job hat. Aber dafür werden jetzt Kundenbefragungen in den Bussen durchgeführt, damit wird bestimmt alles besser.
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Eine alte Frau aus der Schweiz fragte ihren Enkel per Skype, wann sie wieder nach Hause dürfe. Antwort: Es sei ja eigentlich so gedacht, dass sie bleiben könne, solange es ihr gefiele. Es gefiel ihr aber offensichtlich gar nicht (mehr), sie wollte nach Hause.
Der globalisierte Finanzkapitalismus sourct alles out.
Der Wind kommt von Norden und riecht nach Schnee.
Mir ist kalt.
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Bzgl. Verelendung: ich vermute eher, dass in den kommenden Jahren massiv in sozialen Wohnungsbau investiert werden wird. Rund um die ganzen Ring-Übertunnelungsprojekte und die Industriebrachen am Ostbahnhof ist noch Verdichtungsraum für tausende Wohnungen vorhanden. München kann sich's leisten.
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Die Auslagerung dagegen nimmt natürlich auch den Wohndruck weg. Ich höre im Moment, dass 10.000 oder gar 20.000 für freiwillige Entmietung mittlerer Wohnungen in München bezahlt werden. Dafür bekommt man in Deutschland ein halbes jahr Pflege. Und in Thailand das restliche Leben. Ansonsten sähe es mit dem Erben bitter aus.
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Ich kämpfe noch, will den Traum nicht verlieren. Aber ich gebe zu, es wird jedes Jahr ein Stückchen schwerer.
Wobei ich nicht weiß, was Verberlinerung ist, ich war seit der Wende nicht dort.
Was ich aber merke ist, dass die Identität der Stadt vor lauter Geld, Arbeitsnomaden und Investorenbau immer mehr verloren geht. Das Gerede gabs zwar schon zu Charlie Häusler Zeiten und der Lehel-Sanierung, aber die Globalisierung hat da nochmal sauber nei ghaun.
Naja, dann halt zurück ins Ammertal.
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Von mir aus bin ich in 35 Minuten in der Innenstadt, und dennoch ist es vom Gefühl her so weit weg, als wären es 35 Tage.
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Ich komme mindestens einmal die Woche an den Neubauten in der Karlstrasse vis à vis St. Bonifaz vorbei und bin auch schon öfters durchmarschiert. Das Ding ist eine Geisterstadt, ich schätze pro Etage kommt man auf eine bewohnte Wohnung. Es ist aber alles verkauft. Und so ist es innerhalb des Rings mittlerweile öfters.
Den Metzgern geht es bei uns allerdings prächtig, auch den Blumenläden und die Bäcker machen Sonntags bis 17 Uhr auf nicht weil sie müssen, sondern weil die Leute so lange bis auf die Strasse anstehen.
Der Autor hat seine Wohnung ja irgendwo im Dunstkreis Pinakotheken? Ich finde in der Gegend Theresienstrasse runter von der Schleißheimer bis zur TU hat sich die Maxvorstadt noch viel Charme bewahrt, Türkenstrasse ist natürlich mittlerweile eine no-go Area...
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Hart ist das, was auf der Theresienhöhe geschah, und was sich jetzt an der "Neuen Balan" wiederholt. Da werden ganze Quartiere umgepflügt, und die Architektur sagt schon: Verschwindet oder passt Euch an.
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Ich weiß von Bekannten, dass die Betonbunker in der Messestadt schon am Bröseln sind, Renditemaximierung machts möglich.
Das wird auch noch interessant, wenn das bei den ganzen 2000€/qm Buden kommt, und es wird kommen.
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Da verschwinden die alten Villen oder es wird verdichtet wie wild.
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Rage ist noch untertrieben. Seit Beginn der "Krise" ist die ganze Stadt deppert.
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Natürlich verstehe ich andererseits auch die Erben.
keiner will aus o.g. oder anderen Gründen das Objekt übernehmen. Irgendeiner will immer Bares sehen und dann wird an den meistbeitenden Bauträger verkloppt!
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http://www.sueddeutsche.de/muenchen/buch-ueber-muenchner-immobilienmarkt-londoner-verhaeltnisse-1.1525393
Es war dort vor kurzem auch mal was von den Leitern des Bauamtes zu lesen, die die Genehmigungen für die Verdichtungen machen. Sie sagten, sie wägen sehr genau ab.
Eine Stadt ändert sich so alle 10 Jahre, ist mein Eindruck. Darum erkennt Don auch sein altes Viertel nicht mehr. Ich finde es auch nicht mehr so angenehm wie früher. Die netteren Dinge verschwinden und es kommt selten was besseres nach.
Etwas das sich aber zum Positiven geändert hat, ist das Problem mit der Hundescheisse. Die Hundehalter entsorgen die tatsächlich. Wer hätte das vor 10 oder mehr Jahren gedacht?
Es ist auch schön, dass man inzwischen an die Isar kann.
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q.e.d.
Man geht nicht mehr nach München, weil das irgendwie verheissungsvoll ist, eine Magie darüber liegt, vom Gärtnerplatz zum Schlachthof, durch das Westend in die lauschigen Alleen von Gern. Das ist nicht mehr Manhattan, wie der in meinen Augen große Provinzkenner und -versteher F.X. Bogner das ganze mal tituliert hat. Ein Wahnsinn in dem alles möglich und magisch ist, wenn man irgendwo in Pfaffenhofen oder Murnau aufm Kaff hockt.
München ist heute ein Ort, wo man eben hingeht weil da alle studieren und da Arbeit ist. So stirbt der Traum, der vielleicht nie einer war?
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Wobei das ja nicht verlorene Zeit war, sondern gelebtes 'non scholae sed vitae discimus'
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In einer Stadt wie Frankfurt, hatten früher alte Hessen und deren assozial-geniale Nachkommen das Sagen.
Ja, ich meine es, wie ich es sage :Assozial-Genial.
Daraus entstand Musik. Daraus entstand Handel. Daraus entstand Wahrheit und Direktheit. Daraus entstand eine Art „Wucht“ für das Leben der Menschen.
Heute sind sie tot. Die alten Hessen und die meisten ihrer assozial-genialen Nachkommen.
Übrig bleiben die Global-Gleichen.
Sie bevölkern die Stadt.
Schwaben im Exil und globale Euro-Punk-Penner.
Während die Einen betteln und professionell jammern, fahren die Anderen mit Überfahrmichbittenicht-Neonweste, einem Survival-Helm und Ohrenschützern ( gegen die bittere hessische Kälte ) auf ihren Rädern zu ihren Büros. Und nach vollbrachtem Nichtstun wieder zurück in ihre teuren Kämmerlein in ihrer „City of Mainhattan“, von der sie nichts begriffen haben, mit der sie nie eine Verbindung haben werden. Aber, das ist ihnen egal. Sie scheinen gegen nahezu Alles resistent.
Und die Stadt Frankfurt ?
Sie sieht aus, wie alle anderen Städte. Ja, fast wie ein Industriegebiet im Nichts. Daher wird kein Impuls mehr kommen.
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Grumpy Old Men we are.
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Der Gastgeber z.B. hat ja explizit auf die braunen Zustände in seiner Heimat hingewiesen.
Und wenn ich sehe, wie
der Vorbewohner in L. jahrzehntelang bis Anfang der 1970er ohne fließend Wasser, Bad, Strom und Heizung lebte, war auch nicht alles so wünschenswert!
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Die, die ich kenne sind zum studieren oder arbeiten hergekommen und sie wollen bleiben, dabei kommen sie aus der eher gehobenen Mittelschicht in ihren Ländern. Sie sind tatsächlich von München begeistert. Der Lebensstil ist freier als in ihren Herkunftsländern. Für sie ist eine Stadt wie München durchaus noch verheissungsvoll.
Die Provinz hat nicht annährend das kulturelle Angebot wie München und wird es auch nie haben.
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Die große Frage ist dann natürlich, was kann man selber tun. Leider oftmals viel zu wenig.
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Probleme, Probleme, Probleme.
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Mein Opa ergänzte diese berückende Weisheit gerne mit "und das war schon immer so".
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Als sich die Gesellschaft und meine Stadt verändert hatten, gab's dann nur noch zwei Möglichkeiten: Mit der Zeit zu gehen oder zu gehen mit der Zeit...
Hatte mich dann für ersteres entschieden: Zweitstudium im IT-Bereich und Anpassung an den neuen, effizienzschwangeren Zeitgeist.
Und die Moral dieses kleinen, bescheidenen Lebenswegs? Arbeit im IT-Sektor, um die Stadt weiterhin bezahlen zu können, ein Magisterstudium, währenddessen ich Dinge erlebt und gelernt habe, die man dank Bologna bald nicht mal mehr vom Hörensagen kennen wird und die Erkenntnis, dass gesellschaftliche, strukturelle Veränderung nicht aufgehalten, sondern nur bedauert werden kann.
Vielleicht hätte ich gegen sollen? Aber wohin? Wobei mich eine Sache dann doch wieder in meiner damaligen Entscheidung bestärkt: Ich komme beruflich leider zu oft nach Berlin, hin und wieder auch nach Hamburg, Köln und andere deutsche Großstädte. Wenn ich die dortigen Entwicklungen dann mit meinem München vergleiche, weiß ich wieder, was es heißt, auf hohem Niveau zu jammern.
Die alte Dame, die gezwungen ist, im Müll zu wühlen, hat mich beim Lesen sehr mitgenommen. Das sind die Dinge - metaphorisch betrachtet wie tatsächlich - die mich Berlin immer so schnell wie möglich wieder verlassen lassen. Eine solche Entwicklung in München zu erleben, macht mich unendlich traurig.
Ich glaube, wir können den Schaden noch gar nicht bemessen, den uns der neoliberale Zeitgeist durch Hartz-Gesetze, Bologna-Reformen und anderem Wahnsinn noch alles nachhaltig beschert hat...
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