: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Samstag, 25. Dezember 2004

Für Christen wenig geeignetes Real Life 25.12.04

Pünktlich um ein Uhr kommt der grosse Andrang. Sie riechen nach Kälte, schlechter Luft und Quartals-Frömmigkeit. Ihre Eltern, die allein nach Hause fahren, wollen es so, und bekommen jetzt schon seit Dekaden ihren Willen. Das gehört sich so, das war schon immer so, und wenn sie doch noch die Torschlusspanik kriegen und ihren Eltern auch noch den Wunsch nach Nachwuchs erfüllen - denn wo sollten sie dann später mal mit all dem zusammengerafften Vermögen hin - dann werden sie auch ihre Kinder in dieses grosse, rote Lügengebäude zwingen, wo sie ihre provinziellen Werte in schlechtes Liedgut verpacken und in die Gewölbe krähen, zum Lobe der Welt, wie sie ist, für die Unsterblichkeit der Dummheit, für das Fortbestehen von Kirchensteuern und Dienst-BMWs für die Religionsbeamten.

Ich habe in dieser Stadt nur wenige Leute kennengelernt, die die SS, die Sondereinsatztruppen und die Massaker an der Ostfront oder in Kroatien verteidigt haben. Einer war ein bekannter Rechtsextremist, die anderen beiden waren katholische Religionslehrer, anerkannte Stützen des Systems, die ihre einschlägigen Erfahrungen an der Ostfront den Schülern in epischer Breite berichteten. Ich bekam damals nur die halbe Dröhnung im Lateinunterricht ab. Als es doch mal ein paar Beschwerden gab, hiess es, die seien eben alt, da könne man nichts machen. Man kann hier nie etwas machen, es wird immer so bleiben, man muss damit leben, oder gehen, oder zumindest dagegen anschreiben.

Im zweiten grossen Schwung ist Iris dabei. Wie eigentlich jedes Jahr, bis vor vier Jahren - damals hat sie geheiratet. Ich glaube, die meisten aus ihrem Bekanntenkreis haben ihr gesagt, dass es nicht klappen würde; genauso, wie die Freunde ihres Mannes sie im Wunsch nach geregelten Verhältnissen unterstützten. Letztes Jahr war sie dann schon von ihm getrennt. Jetzt ist die Scheidung durch, über die restlichen Fragen streiten sich die Anwälte. Deshalb wieder Weihnachten bei den Eltern, deshalb Christmette, deshalb aber auch nachher gleich hierher, wo es mit Leuten überfüllt ist, deren Lieblingsbegriffe "Damals" und "Erinnerst Du Dich" sind. Sie haben ziemlich viel Vergangenheit, aber wenig Zukunft.

Ich erzähle ihr vom Draussen, das auch nicht zwingend besser ist, vom Kommenden, das vielleicht richtig gut werden kann. Sie hört sich das leicht ungläubig an, aber sie mag die Geschichten. Es gab ein halbes Dutzend Leute, von denen man damals annehmen konnte, dass sie Schriftsteller werden könnten. Der einzige, der dieses grosse Ziel der AG Literatur geschafft hat, ist der, der damals ganz sicher nicht auf der Liste stand. Weil er nach den Literaturbegriffen der Privinz nicht schreiben konnte. Es gibt im Leben keine Evolution, nur ein Abschmieren in die Illusionslosigkeit und die Unterordnung im System, und auch keine Revolution, sondern nur ein chaotisches Irrlichtern von Chancen, die man für den Preis von Brüchen und Klippen im Leben nutzen kann.

Wenn man das mag, sagt Jürgen, der nochmal später dazugekommen ist, und der unter Alk ein erhebliches Balzverhalten in Richtung Iris entwickelt. Sein gesichertes Leben, sein Haus in der Vorstadt, sein Auto, seine Nichtigkeit und Leere im Leben, sein Jahresurlaub, seine Einsamkeit, seine Position, seine Chance, es hier, in dieser Nach an Iris nochmal auszuprobieren, und ich steige nur zum Spass ein, halte dagegen, nicht um sie ins Bett zu kriegen, sondern um ihr nochmal das Gefühl zu geben, wie ist ist, begehrt und umworben zu werden. Zumindest sage ich mir das so gegen drei Uhr, als ich anfange, das Grau ihrer Augen in Richtung eines gefährlichen Grüns zu interpretieren. Es dauert lang, so gegen halb fünf stehen wir dann draussen vor der Tür, die Entscheidung steht an, und irgendwer da oben hasst mich, denn zu den beiden nicht sehr undeutlichen Angeboten kommt in Form eines engelsweissen Taxis die dritte, keusche, mutmasslich gottgewollte Option vorbei. Tschüss, Umarmung, hmpf, sie hat so verdammt gut gerochen, da fährt sie hin.



Falls damals wirklich so ein Messias geboren worden sein sollte, hat er jedenfalls die Religionslehrer bekommen, die er verdient. Sage ich so gegen sechs Uhr zu Jürgen, als wir auch noch aus der letzten Kneipe rausfliegen.

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Freitag, 24. Dezember 2004

Real Life 24.12.04 - House Cooling Party

B. verlässt Berlin. Aus den drei Monate, auf die sein Arbeitgeber das Projekt festgesetzt hat, wurden fünf. Mit dem Ergebnis, dass alles, was B. gemacht hat, jetzt in die Tonne wandert, weil sich die Rahmenbedingungen geändert haben. Die Kunden versuchen es jetzt auf die komische Tour und sagen, dass sie nur die drei Monate zahlen werden; für den Rest ist B.s Firma verantwortlich. Die will sich wehren, hat B. aber schon mal vorsorglich mitgeteilt, dass da, wo nichts ist, nichts zu holen ist. B. hasst Berlin und ist froh, wieder weg zu kommen. Und gestern Abend hat er das in seiner auf Zeit gemieteten, unpersönlichen Wohnung gefeiert.

Nur ein Dutzend Leute sind gekommen; Kollegen, die unvermeidlichen Freunde, die nach Berlin gegangen sind und sich hier durchschlagen. Sie reden viel über die Chancen des nächsten Jahres, einer will ein Buch machen, zwei andere denken über ein Webprojekt nach, nachdem Slate einen Exit geschafft hat. Sowas müsste man, runterskaliert, doch auch in Deutschland hinbekommen, lean, mean, smart. Als sie hören, dass ich privat ein paar Zeitungs-Verleger kenne, machen sie einen improvisierten Pitch, der gut klingt und chancenlos ist. Allein schon, weil ich mit ihren Zielpersonen nie geschäftlich zu tun habe. Ich versuche, es ihnen schonend beizubringen, aber sie haben mich schon als Türöffner abgespeichert. Nach drei Stunden schlägt man sich dann in die überraschend milde Nacht.



Die beiden begleiten mich noch zum Auto, durch die bröckelnden Fassaden und Baumgerippe der Lychener Strasse. Sie sehen nicht den Zerfall, sondern nur ihre Pläne und die Zukunft. In ihrer Zukunft, die sie propagieren wollen, ist alles sauber, klar, offen, hell, modern.

Wenn ihr es wirklich macht, sage ich zu ihnen, dann macht auch eine Rubrik für Vintage Computer. Sagt den Leuten, warum sie mit einem IBM T41 auch nicht wirklich schlechter da stehen. Bringt die kleinen Dinger, die wenig oder nichts kosten. Vergesst das Premium-Segment. Und schaut euch die Welt an, in der ihr lebt. Das hier ist eine Realität, für die ihr schreiben müsst. Die Idioten, die Daheimbleiber in der Provinz sind auch so eine Welt. Und versucht nicht, denen eine Welt aufzuzwingen, die sie gar nicht wollen. OK? Schöne Feiertage.

Ich steige ins Auto, und weiss, was sie jetzt gleich sagen werden: Dass sie das sowieso machen werden, der Typ sieht das alles viel zu negativ, aber sie werden ihm recht geben, weil sie ihn erst mal brauchen. Aber wenn sie dann selbst bei den Verlegern sitzen, werden sie so richtig auf den Putz hauen. Die Typen da oben, die werden Sie verstehen. Garantiert. Sie nehmen ein Taxi, in dem sie weiter planen können, ohne durch so lästige Realitäten wie die Bettler in den U-Bahnen und die Junkies an den Haltestellen gestört zu werden.

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Freitag, 17. Dezember 2004

Real Life 16.12.04 - Wie ich das mit Haffa finde,

will der Anrufer wissen. Gut, natürlich. Ich war bei der Grundsteinlegung der Zentrale in Unterföhring und bei einer Party für Junior Web, der interaktiven Internet-Glotze von EMTV, die wahrscheinlich kaum jemand kennt, weil das Projekt versenkt wurde, bevor es online ging. Spassigerweise wollen die Kläger jetzt die Millionen, die in Junior Web verbrannt wurden, nein wie witzig, trotzdem hätte ich gern die Gesichter der Haffas heute gesehen, just like the bad old times.



Bei der wilden Hatz im Nebel sind sie bisher immer gut davongekommen, wenn es gekracht hat. Jetzt erst bringen sie die umherfliegenden Trümmer der Katastrophe zum Stehen. Nicht alle werden ihre Klagen gegen die Haffas gewinnen, aber die, die durchkommen, werden die Haffas im Kern treffen. Das kann richtig übel werden. Es wir noch lange dauern, aber es wird kein Vergnügen, kein Rasen auf dem Highspeed-Track, sondern das Schliddern auf eisigen Fahrbahnen, und vor dem Abgrund gibt es keine Leitplanke.

Damit es mir trotz Freisprechanlage nicht genauso auf der A100 geht, würge ich das Gespräch ab und fahre weiter nach Neuköln, Britzer Damm. Geschäfte voller Ramsch, Barockrahmen aus Kunststoff, Heiligenbilder, billiges Besteck in edel scheinenden Koffern, knallbunter Unterhaltungselektronikschrott aus Sweat Shops, Mangamonster, Plastikblumen und Fabrikteppiche, und die Leute kaufen wie blöd.

Na also, Herr Haffa. Es geht doch, Geld mit Ramsch zu machen. Nur der Vertriebsweg war falsch, und die Kosten zu hoch. Der Markt, die Kundschaft existiert, also weiter für den Fortbestand des Goldenen Zeitalters.

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Dienstag, 14. Dezember 2004

Real Life 13.12.04 - Warum ich nicht gekommen bin,

will er wissen, als wir uns eher unzufällig im Odeon treffen. Das Odeon war früher eine Filiale der Vereinsbank, die dem Merger mit der Hypo zum Opfer fiel. Der Umbau war gerade so pünktlich zur einsetzenden Krise fertig, dass es dem scheiternden Jungvolk als ziemlich exklusives Vergnügen erschien, auch wenn die Preise hier nur unwesentlich über dem ohnehin schon hohen Niveau der Theresienstrasse liegen. Der Macher des Lokals muß gemerkt haben, dass das Tresznjewnsky und das Puck zwei Blocks weiter auch nach einem Jahrzehnt mit BWLern und Kreativpublikum überfüllt waren, und wollte auch seinen Teil von den umliegenden Siemansianern, Startups und VC-Gesellschaften abbekommen. Es hat nicht wirklich geklappt; das Publikum ist zu glattrasiert-seriös, so semmelblond und pickelig, hektisch wie Streber-Azubis und Grossmaul-Trainees, es quatscht zu sehr von Assets und To dos, und trotz der Gestaltung in Braun und Gold wirkt der Laden irgendwie – bemüht exklusiv, ungemütlich, möchtegern-schick.

Was das Lokal, im Umkehrschluß, zum idealen Rahmen für Treffen mit ehemaligen Celebrities der Munich Area, geldsuchenden VCs und den wenigen anständigen Business Angels der Stadt macht. Ich gehe langsam daran vorbei, schaue rein, und fast immer ist dort einer meiner früheren Bekannten an der Theke beim Smalltalk. Vielleicht kenne ich zu viele Leute, vielleicht sollte ich sie einfach ignorieren und aus meinem Gedächtnis streichen, aber das ist nicht leicht, denn an der Oberfläche sind sie nicht nur smart, sondern auch nett, und die Jahre der Krise haben zudem ihre Umgangsformen verbessert. Man ist nicht mehr Buddy wie 99, man herrt und fraut sich wieder an. Es fällt mir schwer, ihre Einladungen abzulehnen, ich kann Grüße nicht ignorieren, und es wäre sehr unhöflich zu betonen, dass ich mit ihrer Szene direkt nicht mehr viel zu tun haben möchte. Ich habe das Buch geschrieben, um mich mit den Gemeinheiten und Indiskretionen über den Kern des Business nachhaltig aus dieser Szene herauszubomben, und was tun sie? Sie rufen mich an, winken mich herein, fangen mich ab, sagen, ich soll nachher schnell mitkommen, sie wollen das Buch zu Weihnachten verschenken, es ist schon im Büro, ich möchte es doch bitte signieren.

Und da stehe ich dann wieder, gut angezogen unter Wölfen, falle wieder in den typischen Slang; es ist wie Fahrrad fahren, wenn man mal den Bogen raus hat, kann man es. Es ist mir unangenehm, denn eigentlich wissen wir alle, dass ich nicht an die Bedeutung ihrer Claims und Buzzwords glaube, dass wir hier nur Phrasen und Selbstverständlichkeiten a la Mode austauschen. Aber mit mir im Odeon stehen bedeutet, dass man lesson learnt hat, dass man das Frühere kritisch sieht und deshalb für das Kommende gut aufgestellt ist - auch wenn es nicht gut wird, wie mir mein Bekannter erzählt. Ich hätte dabei sein sollen, beim 8. Münchner Venture Summit, traurig sei es gewesen. Ich weiß. Kein stotternder Staatsminister diesmal, kein Dinner im Nymphenburger Palmengarten, noch mal die alte SuseLinux-Geschichte als erfolgreichen Trade Sale gepowerpointed.

Und dazwischen, erzählt er, die große Angst, dass es wirklich bald vorbei sein könnte. Die alten Fonds sind noch lange nicht ausgegeben, aber die Laufzeiten gehen zu Ende, eigentlich müsste man jetzt wieder Geld einsammeln. Oder sich überlegen, ob man nicht doch besser Mittelstandsfonds auflegt. Die Google-Euphorie ist hier nie richtig angekommen, statt dessen füttert man zwangsweise die Überlebenden weiter, mit 4. Runden und Bridge Loans und, wenn man Glück hat, über Projekte mit dem Staat. Exits über IPO in nennenswerter Zahl erst wieder 2006, da waren sich alle einig. Allerdings, als ich 2002 dort war, hiess es, 2004 würde das Bizz wieder anspringen. Irgendwie logisch, dass man unter sich blieb - die Banken, die Journaille, das alles blieb diesmal weitehend aus, mal wieder, wie immer. Es hätte dir gefallen, besonders das Panel zum Thema Neustart aus der Insolvenz oder wie wird man seine Schulden los, sagt mein Bekannter, und gibt zu, dass er selbst eigenlich schon auf dem Absprung wäre, wenn er was Gutes finden würde. Wir gehen in sein Büro, und ich unterschreibe die Bücher, und mache mich auf den Weg in die Provinz.



Unterwegs kann ich es rauslassen, das Grinsen darüber, dass es einer der Beschenkten hassen wird, weil er sich in einer miesen Figur selbst erkennen kann. Aber wahrscheinlich verschimmelt es bei ihm zwischen anderen Geschenken wie Investor Relations für Startups und den ungelesenen Exemplaren des Manager-Magazins. Ich vermute ohnehin, dass der durchschnittliche deutsche VC allenfalls Executive Summaries kognitiv durchdringt. Nur der Umstand, dass sie diesmal in einer nur gut bürgerlichen Wirtschaft ihr Abendessen zu sich nehmen mußten, und nicht mehr ins Schloß rausgekarrt wurden, um dort mit Spitzenpolitiker - oder was sich im bayerischen Wirtschaftsministerium dafür hält - zu networken – dieser Umstand wird sie wirklich geschmerzt haben. Das ist Niedergang, Baby.

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Montag, 13. Dezember 2004

Real Life 13.12.04 - Spin in again

Es gibt hier in München einen speziellen Munich Area Account, auf dem alle Botschaften aus der Region auflaufen. Früher kamen da täglich 20, 30 Pressemitteilungen rein; inzwischen sind es in der Regel nur noch ein paar Adressänderungen, nach dem Motto: "ab jetzt im Home Office zu erreichen", "stehe als selbstständiger Berater", "bleibe meiner alten Firma aber weiterhin beratend verbunden".

Was es überhaupt nicht gibt, ist das, wovon immer mal wieder in den einschlägigen Gazetten zu lesen ist: Die erwachsen gewordenen New Economisten, die plötzlich mitsamt ihrer alten Outlook-Datenbank als Jungmanager in der Old Economy auftauchen und dort den Laden rocken. Die einzige Ausnahme aus den letzten Monaten ist jetzt bei einer Telco. Sie verkauft die Erwartungen des Business Developments, das fest an Glotze auf dem Handy glaubt, und die junge Frau mit ihrer innovativen Startup-Vita als adrette Fassade vorblendet.

Von ihr stammt der - damals auf dem Höhepunkt der UMTS-Euphorie enorm mutige - Spruch: Video auf dem Handy ist ein Exponat for the Museum of the Future that never happened. Sie hatte dafür sehr rationale Argumente, und ich frage mich, wie sie jetzt den gegenteiligen Irrsinn verkauft. Mit ihrer Schönheit, vielleicht. Sehr schade.

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Samstag, 11. Dezember 2004

Real Life 11.12.04 - Was noch fehlte

Es gab eine Zeit, erste Hälfte der 90er Jahre, da hatte diese Stadt Discotheken und Clubs, die sich einigermassen mit München messen konnten. Das heisst, importierte DJs, eine ordentliche Selektion an der Tür, was in der bayerischen Provinz wirklich ein Muss ist, ordentliche Locations irgendwo im Keller am Rande der Altstadt, Publikum die lokalen Berufskinder, die auch nicht jeden Abend ins P1 konnten.

Mitte der 90er geschah das, was auch in München Insitutionen wie das Parkcafe ins Trudeln brachte: Megadiscos wurden eröffnet, die jeden reinliessen, der genug zahlte und nicht zwangsläufig die Besitzer kennen musste. Die, wenn man so will, familiäre Atmosphäre von Clubs wie dem BaBaLu war nicht mehr gefragt. Die Tanztempelchen der Provinz wurden dicht gemacht, die Leute versuchten ihr Glück in der Grossstadt. Ein Laden mit dem Namen "Cloud" steht jetzt seit fast 7 Jahren leer, ein anderer ist heute Teil des Königreichssaals der Zeugen Jehovas.

Aber die Ankunft von ein paar hundert zukunftsbewusster, afterworkübender Elitessen dreht das Rad der Geschichte zurück.



Gleich neben dem idealtypischen Sausalitos, dem Must-Go der hier auf das Überleben im Management Getrimmten, wurde eine alte Garage aufgebohrt. Neues Design, ein grandioser Stilbruch zur Umgebung mit den spitzen Giebeln und den Kastenfenstern. Am Wochenende sind davor lange Schlangen, und an der Tür schaut jemand, dass sie unter sich bleiben. Und über ihre Zukunft reden, von der ich weiss, dass sie ebensoviel Markt hat wie meine in die Metropolen geflohenen Bekannten, die inzwischen alle wieder da sind.

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Donnerstag, 9. Dezember 2004

Real Life August 2000 - Schwarzes Gold

Sie hatte sich für den Juniorposten beworben, wurde aber gleich als Senior mit Juniorgehalt genommen. Dass sie noch nicht mal den Magister hatte, war egal, einfach rein und los, das mit der Prüfung geht auch nebenbei. Es stellte sich heraus, dass es so einfach nebenbei doch nicht ging, aber egal, 1999 war das schon fast die Lebensanstellung, es ging unaufhaltsam nach oben. Es gab auch Wochen, in denen sie unter 70 Stunden arbeitete. Der Stundenlohn war auch nicht so das Thema; wenn man die Optionen wieder reinrechnete, war alles bestens. Ich bekam manchmal ein Mail, alle zwei Monate trafen wir uns auf einem Event, und ich wunderte mich, dass sie mit 25 den Druck, die Aufgaben und den Skalierungsirssinn aushält.

August 2000 rief sie bei mir an und fragte, ob wir uns mal treffen können. Sie hatte eine Idee gehabt, die ihr sehr vielversprechend erschien, die sie aber noch nicht in der Firma verschreien wollte. Zu viele Neider, zu viele, die plötzlich Angst um ihren Job hatten und anderen Leuten den Stuhl unter dem Hintern wegziehen wollten. Es war nicht mehr so richtig lustig, was sie erzählte. Jedenfalls hatte sie einen Plan, eine aus der Not geborene Kooperation mit einer grossen, alten Firma, die erst auf die Idee kam, dass sie im Internet was tun musste. Sie hatte in ihrer Abteilung heimlich ein Projekt dafür ausarbeiten lassen, und ich sollte da mal einen Blick drauf werfen.

Es war auf einem Thinkpad, 2 GB gross, viel Ton und Streams, und es war keine dumme Idee, ganz im Gegenteil. Sie wusste nicht, wie sie es ihren Chefs verkaufen sollte, denn es brach mit einigen Tabus. Sie brauchte Argumentationshilfen, und einen 20-seitigen Wisch von einer möglichst toll klingenden Beratungsklitsche, die natürlich erst mal nichts kosten dürfte, weil sie kein Budget dafür hatte. Aber dazu hat man bekanntlich Freunde, die einem das auch so, nebenbei mal schreiben - Leute wie mich. Den Thinkpad könnte ich mitnehmen, sagte sie, da ist alles drauf.



Das Cafe Puck ist gelblich gestrichen, und vieles, was dort im Licht der Kerzen ist, erscheint golden. Thinkpads, Ideen, die Zukunft, das alles bekommt im Licht des Cafes einen Wert, eine Logik, den Anschein von Sinn und Vernunft.

Ich schrieb den Bericht nie fertig. Drei Wochen später wurde ihre Abteilung eingestampft, und ihr selbst bot man als einziger die Weiterbeschäftigung an, als Senior, aber zu einem Gehalt, bei dem 20% Lohnverzicht schon inbegriffen waren. Sie erfuhr es am Telefon, während der ersten Urlaubswoche seit einem Jahr, in der sie ihr Auto zum überfälligen TÜV brachte, die Wohnung putzte und versuchte, mal wieder einen Text zu lesen, der länger als ein Executive Summary war.

Sie ging den ganzen Weg. Sie wollte dagegen ankämpfen. Aber die Kündigungen waren schon unterwegs, die Räume leer, und in den Mülleimern stapelten sich die Tastaturen und Floppies. Es muss sehr hart für sie gewesen sein, und wahrscheinlich war es die Beiläufigkeit, mit der man ihr das antat, schlimmer als der Rausschmiss selbst, der nach ein paar Stunden Vorhaltungen von ihren Chefs kam. Immerhin erlaubte man ihr, sich noch am Firmentelefon und von ihrem Firmenaccount von den Kunden zu verabschieden.

Sie rief mich dann erst sehr spät in der Nacht privat an. Sie erzählte mir, was die Buschtrommeln der einzigartigen Munich Area schon am Nachmittag verbreitet hatten.

Was soll ich mit dem Thinkpad machen, fragte ich sie.

Ist doch nur ein altes, überflüssiges Notebook. Es gibt das Ding doch schon gar nicht mehr. Kein Thinkpad, keine Abteilung, keine Idee, alles aufgelöst, abgeschrieben.

Wertberichtigt, warf ich ein.

Du hast keinen Thinkpad von mir. Lösch es runter, mach damit, was Du willst, schick ihn an die Firma, behalte ihn, niemand wird ihn wollen, oder Dich danach fragen, sagte sie. Und dann erzählte sie, wie ihre Chefs inzwischen diese dem Virtuellen verpflichtete Abteilung real zerstört hatten. Ich habe den Thinkpad, Modell 390e, Baujahr 7/99, 333 Mhz PII, 6,4 GB, 256 MB Ram behalten. Niemand hat je danach gefragt. Er hat die Firma am heutigen Tag fast 2 Jahre und 7 Monate überlebt.

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Mittwoch, 1. Dezember 2004

Real Life 01.12.04 - Kreuzung der Verdammten

Unten sitzen die Depressiven, die Abgearbeiteten, die in irgendeinen westlichen Teil des Slums müssen, oben drüber schlurfen sehr viele junge Menschen, die nicht wirklich glücklich aussehen. Halt so, wie Leute aussehen, die kurz vor acht noch mal schnell zum Einkaufen gegangen sind, weil sie sich das teure Zeug beim Nachtkauf nicht leisten können. Dann doch lieber Plus, Aldi und schnell vorbei an den bettelnden Punks. Kein Wechselgeld, brauchen sie selber.



Manchmal bleibt jemand auf der Brücke stehen und blickt in Richtung der heranbrausenden Züge, angespannt und aufgerichtet, und hier, 20 Meter entfernt, rattert im Hinterkopf der Alptraum los, was, wenn, das Geländer ist nicht besonders hoch, wie lange dauert es wenn, wie lange bräuchte man dann, da kann man nicht einfach so auf das bescheuerte Bild warten, jetzt sofort lossprinten, ansprechen, verdammt nochmal irgendwas tun, denn manchmal entscheiden Sekunden, Worte, der Zug löst sich hinten von den Arkaden und fliegt durch die Nacht, und auf der anderen Seite kommen ein paar abgerissene Typen, betrunken schon um diese Tageszeit, laut und vulgär, die Gestalt am Geländer schaut sich um, dreht sich schnell weg und eilt weiter, und unter der Brücke knallen die Lichterreihen ins Nichts der Bahntrassen.

Ich hasse diese Stadt, diesen nie endenden Winter wegen der Filme in meinem Kopf, und dem Wissen, dass diese Filme gerade irgendwo laufen. Real Life und in Echtzeit.

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Real Life 01.12.04 - Vetternwirtschaft

Da gibt es ein gutes Buch von Hunter S. Thompson. The Rum Diary.

Da gibt es einen engagierten, kleinen Verlag, der die Rechte bekommt. Der Blumenbar Verlag.

Da gibt es dann noch einen Müncher Autor, der nach dem Verlangen muffelt, ein grosser deutscher jüngerer Gegenwartsautor zu sein, und auch als Christian-Kracht-Epigone in München als solcher gilt, weil München an Autoren wenig zu bieten hat, und er ausserdem in den einschlägigen Kulturbetriebs-CamorKreisen wie dem Zündfunk oder gewissen Lesereihen der Stadt abhängt - in ersterem steckt übrigens auch jemand von Blumenbar. Und obendrein schreibt Oswald auch noch für Blumenbar. Und für die SZ - und in einer Rezension des Buches von Thompson bei Blumenbar so, dass es selbst dem Perlentaucher zu viel wird, der dann milde festhält, dass Oswalsd "lobhudelt".

Und ich stelle mir vor, wie Thompson die halbseidenen Absprachen zwischen runtergekommenen, moralisch abgewrackten Provinzkulturbetrieblern im US-Mittelwesten beschreiben würde, die sich in einer unterdurchschnittlichen Bar auf Kosten einer öffentlichen Einrichtung betrinken und ein kleines, dreckiges Geschäft auf Gegenseitigkeit machen, um irgendwas in einem lokalen Käseblatt wie dem Nutbush Evening Standard unterzubringen. Die Beschreibung des Zerfalls, der lakonische Ton, die kleinen, brutalen Details, das alles ist eine schöne Vorstellung.

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Dienstag, 23. November 2004

Real Life 22-11.04 - Beste Unterhaltung

Was könnte es Schöneres für die Spiesser der Provinz geben, als sich einen Abend in die hochmodern ausgerüstete Volkshochschule zu setzen, und mit dem lokalen Bischof zu diskutieren, ob und wie der Hedonismus jetzt endlich, glücklicherweise GOTTSEIDANK tot ist.



Schluss mit lustig heisst auch: Alte Werte, alte Tugenden, Achtung vor den Autoritäten. Weg mit dem ganzen Dreck, der in den letzten Jahrzehnten durch TV/die Amis/die Linken, auch bekannt als Vaterlandsverräter aufkam. Zurück zu all das, was die älteren Spiesser noch gelernt haben. Wo? Ach so, bei der HJ oder beim BDM, oder vielleicht bem Werwolf, aber da wird ja auch viel übertrieben, jedenfalls hätte es damals den ganzen Schmutz und die Kriminellen nicht gegeben.

Lustig ist schlecht. Lustig kommt von Lust = Sünde, und wenn das erst mal weg ist, kommt die Union an die Macht, und dann lacht erst mal keiner mehr, und die Bischöfe bekommen einen gerechten finanziellen Ausgleich für die Schäfchen, die ausgetreten sind. Wie sie auch jetzt schon Geld für ihre Form der "Schwangerenberatung" wollen.

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