Für Christen wenig geeignetes Real Life 25.12.04

Pünktlich um ein Uhr kommt der grosse Andrang. Sie riechen nach Kälte, schlechter Luft und Quartals-Frömmigkeit. Ihre Eltern, die allein nach Hause fahren, wollen es so, und bekommen jetzt schon seit Dekaden ihren Willen. Das gehört sich so, das war schon immer so, und wenn sie doch noch die Torschlusspanik kriegen und ihren Eltern auch noch den Wunsch nach Nachwuchs erfüllen - denn wo sollten sie dann später mal mit all dem zusammengerafften Vermögen hin - dann werden sie auch ihre Kinder in dieses grosse, rote Lügengebäude zwingen, wo sie ihre provinziellen Werte in schlechtes Liedgut verpacken und in die Gewölbe krähen, zum Lobe der Welt, wie sie ist, für die Unsterblichkeit der Dummheit, für das Fortbestehen von Kirchensteuern und Dienst-BMWs für die Religionsbeamten.

Ich habe in dieser Stadt nur wenige Leute kennengelernt, die die SS, die Sondereinsatztruppen und die Massaker an der Ostfront oder in Kroatien verteidigt haben. Einer war ein bekannter Rechtsextremist, die anderen beiden waren katholische Religionslehrer, anerkannte Stützen des Systems, die ihre einschlägigen Erfahrungen an der Ostfront den Schülern in epischer Breite berichteten. Ich bekam damals nur die halbe Dröhnung im Lateinunterricht ab. Als es doch mal ein paar Beschwerden gab, hiess es, die seien eben alt, da könne man nichts machen. Man kann hier nie etwas machen, es wird immer so bleiben, man muss damit leben, oder gehen, oder zumindest dagegen anschreiben.

Im zweiten grossen Schwung ist Iris dabei. Wie eigentlich jedes Jahr, bis vor vier Jahren - damals hat sie geheiratet. Ich glaube, die meisten aus ihrem Bekanntenkreis haben ihr gesagt, dass es nicht klappen würde; genauso, wie die Freunde ihres Mannes sie im Wunsch nach geregelten Verhältnissen unterstützten. Letztes Jahr war sie dann schon von ihm getrennt. Jetzt ist die Scheidung durch, über die restlichen Fragen streiten sich die Anwälte. Deshalb wieder Weihnachten bei den Eltern, deshalb Christmette, deshalb aber auch nachher gleich hierher, wo es mit Leuten überfüllt ist, deren Lieblingsbegriffe "Damals" und "Erinnerst Du Dich" sind. Sie haben ziemlich viel Vergangenheit, aber wenig Zukunft.

Ich erzähle ihr vom Draussen, das auch nicht zwingend besser ist, vom Kommenden, das vielleicht richtig gut werden kann. Sie hört sich das leicht ungläubig an, aber sie mag die Geschichten. Es gab ein halbes Dutzend Leute, von denen man damals annehmen konnte, dass sie Schriftsteller werden könnten. Der einzige, der dieses grosse Ziel der AG Literatur geschafft hat, ist der, der damals ganz sicher nicht auf der Liste stand. Weil er nach den Literaturbegriffen der Privinz nicht schreiben konnte. Es gibt im Leben keine Evolution, nur ein Abschmieren in die Illusionslosigkeit und die Unterordnung im System, und auch keine Revolution, sondern nur ein chaotisches Irrlichtern von Chancen, die man für den Preis von Brüchen und Klippen im Leben nutzen kann.

Wenn man das mag, sagt Jürgen, der nochmal später dazugekommen ist, und der unter Alk ein erhebliches Balzverhalten in Richtung Iris entwickelt. Sein gesichertes Leben, sein Haus in der Vorstadt, sein Auto, seine Nichtigkeit und Leere im Leben, sein Jahresurlaub, seine Einsamkeit, seine Position, seine Chance, es hier, in dieser Nach an Iris nochmal auszuprobieren, und ich steige nur zum Spass ein, halte dagegen, nicht um sie ins Bett zu kriegen, sondern um ihr nochmal das Gefühl zu geben, wie ist ist, begehrt und umworben zu werden. Zumindest sage ich mir das so gegen drei Uhr, als ich anfange, das Grau ihrer Augen in Richtung eines gefährlichen Grüns zu interpretieren. Es dauert lang, so gegen halb fünf stehen wir dann draussen vor der Tür, die Entscheidung steht an, und irgendwer da oben hasst mich, denn zu den beiden nicht sehr undeutlichen Angeboten kommt in Form eines engelsweissen Taxis die dritte, keusche, mutmasslich gottgewollte Option vorbei. Tschüss, Umarmung, hmpf, sie hat so verdammt gut gerochen, da fährt sie hin.



Falls damals wirklich so ein Messias geboren worden sein sollte, hat er jedenfalls die Religionslehrer bekommen, die er verdient. Sage ich so gegen sechs Uhr zu Jürgen, als wir auch noch aus der letzten Kneipe rausfliegen.

Samstag, 25. Dezember 2004, 19:53, von donalphons | |comment

 
Bei dem Text ist mir das Interview mit dem Sohn von Rudi Dutschke in der gestrigen TAZ eingefallen. Lebensziel: Weiss nicht, nur nicht bürgerlich werden.

Was hier beschrieben wird ist eine der vielen dunklen Seiten der "Bürgerlichkeit". Weihnachten in die Kirche und lieber einmal zuviel heiraten, als "wilde" Ehe zu pflegen. Das ist so verlogen, dass jeder der halbwegs selber denken kann, diese Bürgerlichkeit als Gefängnis und Selbstaufgabe empfinden muss.

Trotzdem bin ich der Auffassung, dass es auch positive Seiten gibt. Werte, Tradition und Familie sind ja nicht per se old-fashioned und reaktionär. Vielleicht bin ich ja eine Träumerin. Aber ich träume von einer "neuen" Bürgerlichkeit, fernab von den ZEIT-lesenden Studienräten und kunstsammelnden Mittelständlern. Wir brauchen eine neue "Aufklärung". Wir hatten ein Kant-Jahr, aber Kants Leitspruch: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen", ist nicht sonderlich auf fruchtbaren Boden gefallen.

... link  

 
naja, vielleicht ist der Don auch nur bei den Frauen der Provinz nicht *der* Don.
BTW: Danke für viele anredende Gedanken und Geschichten in diesem Blog

... link  

 
Der Fluch ist die Bedeutung des Wortes "Bürger". Der deutsche Bürger ist ein verlogener, neidischer, bigotter Spiesser. Der französische Citoyen hat dagegen eine Bedeutung, mit der ich mich auch anfreunden könnte - zumal man auch aus einem König einen Citoyen machte, bevor man ihn entrübte.

Auch, was die Philosophie angeht, bin ich eher Freund der franzöischen Schule von Diderot über Voltaire bis de Sade - Rousseau und Kant behagen mir dagegen weniger.

Wie auch immer: Danke fürs lesen.

... link  


... comment