: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Mittwoch, 6. März 2013

J'ay un oyseau qui volle, volle, volle

Die Zeit nach den Hugenottenkriegen um 1600 war in Frankreich keine schlechte, es ging auch recht freizügig und leger bei Hofe zu. Dort entsanden tranceartige Liebeslieder, die das Kreisen der Zungen beim Kuss nacherzählen. Eine Ahnung der Liebe in der Musik. Ich denke bei der Fahrt nach Frankfurt an den See, den Berg und jenen Unbekannten, der das alles heute an meiner Stelle erleben wird.





Ich fand das Verhalten des Herrn Guttenberg, ständig eine Rücktrittsdrohung in den Raum zu stellen, mit Verweis auf seine Unabhängigkeit, immer etwas peinlich. Bei mir ist es halt so, dass ich überhaupt keine Lust hätte, bei der FAZ alt zu werden, und trotzdem dort sehr gern jetzt schreibe. Das hat viele Gründe und mündet selbstredend in die Feststellung, dass ich dort nicht meinen Lebensmittelpunkt sehe. Ich arbeite gern dort, an der Stelle, wo ich arbeite, aber wie man im Moment auch sieht: Ich arbeite dort mit meinen Lesern, und weniger mit deb Entwicklern. Und diese Faht nach Frankfurt dient nun weniger dem Ausbau der Haltekräfte, sondern dem Kampf gegen jene, die das softwareseitig erschweren. Dass ich mit den neuen Blogs, die mit Wordpress so viel zu tun haben wie Toskanastil mit einem Palazzo in Siena, extrem unzufrieden bin, hat man vermutlich gemerkt.





So ein Mittagtermin in Frankfurt ist mit dem Auto ausserordentlich ungünstig, da sind alle Vertreter unterwegs, und realistisch sollte man schon 4 Stunden einplanen. Ausserdem muss ich mich noch vorbereiten, was mit einem Bruchteil der Aufmerksamkeit beim Überholen der Lastwagenkolonnen auch nicht gerade gut ist. Und dann kommt noch dazu, dass die Autobahn nach Frankfurt jeden Anspruch, eine europäische Traumstrasse zu sein, mit aller Kraft und vielen Tücken von sich weist. Und andere erzählen doch immer wieder von den interessanten Begegnungen im Zug.





Ich setze mich also zielgenau auf einen Behindertenplatz und merke das erst, als der Zug die Donau überquert hat. Also suche ich mir einen anderen Platz. Vieles ist reserviert, aber nicht besetzt, dafür sind die besetzten Plätze eher selten. Letztlich lande ich neben einem Auto-Bild-Leser und jemandem, der ein etwas rustikales Frühstück zum iPad-Konsum zu sich nimmt. Und dann auch noch nachbestellt. Nun ja. Unter dem Vordersitz ist ein Abfallabteil, das hier definitiv zu klein wird, im Laufe der Reise.





Schräg hinter mir ein zur zweiten Klasse verdonnertes Junior-Beraterinnenpaar der Sorte „wir sind nicht blond damit es irgendwie netter aussieht als wir sind“, die am Telefon viel über Investoren (wichtig) und Mitarbeiter (sollen später informiert werden, und auch nur teilweise) sprechen. Sol lucet omnibus, am See. auf dem Berg und hier der Abgasmaschine.





Sie telefoniert weiter und ich denke mir, wenn der Zug jetzt von der Brücke fallen würde, wäre es nicht gut für mich, aber woanders würden sich manche sicher freuen, denn wer sich so verhält, hat auch nur die Kollegen, die sie verdient. Vielleicht macht die Stadt die Menschen so, jedenfalls passt das alles formschön zusammen, sehr stimmig, nur ich bin hier fehl am Platze und hoffe, dass jener, der für mich nun oben sitzen sollte, begreift, welche Pflicht zum Guten er hat.





Wenn da nicht die Plakate wären. Das sind so kleine, manchmal gut gemachte und manchmal völlig absurde Fenster in der Realität. Andere spricht das vielleicht an, aber ich komme zudem aus einer recht werbefreien Welt, und die Kombination dieser Bilder und dieser Stadt - das ist eine Zumutung für den denkenden Menschen. Nichts, keine halbnackte Frau und kein Coffee2go kann auch nur irgendwie ansatzweise mit dem Glück auf dem Berg und der Schokolade mit Aussicht mithalten. Da sitzen so viele Leute zusammen und planen das, und auf dem Berg ist alles da, was unten immer fehlen wird.





In der S-Bahn eine weitere Lektion über den Niedergang der Sitten; die Neigung, gleich reinzudrängen, bevor andere ausgestiegen sind, kommt aus Berlin, macht die Sache auch nicht schneller und nur unhöflicher. Am Berg habe ich vielleicht mit 30 Leuten Kontakt und plaudere mit 5 oder 6, hier habe ich jede Menge Körperkontakt mit Leuten, die allenfalls grunzen. Ich verstehe die Menschen, die hier kaputt gehen. Ich dagegen denke an den See und weiss: Da oben ist jetzt jemand und ist für mich glücklich.





Auf dem Heimweg sitzen mir gegenüber zwei Vertriebler, sie kommt aus der Uckermark und sieht auch so aus und ihr Lieblingswort ist "Arsch", und sie will Beziehungsprobleme mit einem der Ärsche lösen, indem er sich mehr von ihren Horrorfilmen anschauen und ihre Neigung verstehen soll. Daneben noch drei übersaubere Damen aus der HR eines Grosskonzerns auf dem Weg nach München, die ab und zu herüberschauen und sich fragen: Wieso hat die einen Freund und ich bin Single? Dann reden sie wieder über Schuhe.





Und ich? Ich bin nicht voll zufrieden, aber ich kann immer daran denken, wie es da oben ist, wo ich sein werde, wenn die Züge wieder rattern, aber ganz ohne mich und mein Leben, das ein anderes ist. Da macht auch eine Stunde Verspätung nichts aus. Danach ist alles golden.

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