Unreife Früchtchen

Freitag. Mit Tschingdärässärdah beginnt das Pfingstfest, seit Alters her eine der Gelegenheiten von Sautreibern und Kammerzofen aus dem Umland, die Stadt aufzusuchen. Heute kommen sie öfters, aber allerwei noch immer. Auch zu mir. Singend. Auf der Strasse. Bis zu meinem Fenster. Dort unten dann neben Misstönen auch Gegurgel. Dann Plumps und Schweigen. Nur einer lallt noch. Das Lallen hört nicht auf, also gehe ich nach einer Weile zum Fenster. Unten auf dem Trottoir liegt einer in Lederhose und rührt sich nicht mehr. Ein anderer sitzt vor ihm und faselt auch ihn ein.

Pardon, brauchen Sie Hilfe, rufe ich hinunter. Ich bin höflich, denn eigentlich hätte ich mit Fug und Recht auch einen Blumentopf werfen können. Oder einen Krankenwagen? Da erwacht der Sitzende zum Leben, krabelt sich auf und sagt entsetzt Nein! Nur keinen Krankenwagen! Aber Ihrem Freund geht es nicht gut, meine ich. Doch doch, sagt er, tritt seinen Freund und sagt steh auf, sonst holt der den Krankenwagen. Das dringt irgendwie vor bis zum Liegenden, er rappelt sich halb auf, und sie machen sich um die Ecke davon. Einer auf allen vieren, einer schwankend. Ich tippe auf eine gute Mischung von legalen und illegalen Inhalten.

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Samstag. Schlimm. Ich stelle fest, dass mir der Schmand ausgegangen ist. Alles bekomme ich auf dem Wochenmarkt, aber Schmand muss ich alle 3, 4 Wochen im Supermarkt kaufen. Jetzt war ich drei Monate nicht mehr dort, und ich habe das alles - das miese Essen, die scheusslichen Figuren, das Neonlicht und den Umstand, dass da selbst Unterschichten des Journalismus rumrennen - nicht wirklich vermisst. Ich gehe hinein, hole den Schmand und eile zur Kasse. Dorselbst zwei Dirndlträgerinnen. Die auf den Ballerinas noch gerade, die andere mit den Pumps mit viel Schlagseite, rechts und links wechselnd. Sie kaufen 6 Flaschen Sangria und drei Flaschen Wodka. Und bekommen es anstandslos. Ich frage mich, ab welcher Grenze eigentlich so eine Verkäuferin etwas sagt, so wie: Das reicht jetzt. Oder wenigstens: Kann ich mal Eure Ausweise sehen?

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Sonntag. Vor einem Jahr passierte das, was sich in den letzten Jahren bei all den brutalen Schlägereien unter Alkohol schon angedeutet hat: Es bleibt nicht beim Schädelbruch. Direkt vor dem Kreuztor, der schönsten Ecke der Altstadt, gerieten zwei Gruppen nach einigen Streitereien und viel Alkohol noch einmal aneinander. Diesmal wurde einer festgehalten und dann erstochen.

Seine Familie hat an der Stelle ein kleines Marterl errichtet, mit Säule und oben drauf einer Miniaturkapelle. Dort brennt immer eine Kerze, und oft stehen frische Blumen dort. Die Kapelle hat jemand in der Nacht zertrümmert, die Brocken sind weit verstreut. Einfach so. Weil es geht.

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Ich bin eigentlich keiner, der dauernd nach mehr Polizei ruft. Aber ich glaube es einfach nicht, wenn behauptet wird, dass die Gewalttaten rückläufig sind, oder nur die Meldequote steigt. Alles, was ich in der Altstadt erlebe, spricht eine andere Sprache. Es sind nicht alle. Aber vorletzte Woche wollten die Wirte hier beweisen, dass ihre Kundschaft auch friedlich feiern kann. Am nächsten Morgen war hier alles voller Glasscherben. Man müsste die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen und den Wirten - hier nebenan ist einer, den es einen Dreck interessiert, was vor seinem Laden los ist - zur Verantwortung ziehen.

Oh, die Stadt. Die Stadt verspricht Verbesserung und mehr Streifen. Weil sie es sich mit den Wirten nicht verscherzen will. Einzelfälle. Angeblich. Da muss so ein Einzelfall vermutlich erst mal einen Bürgermeister misshandeln, damit sich diese Sichtweise ändert. Aber solange trifft es alle.

Montag, 13. Juni 2011, 01:25, von donalphons | |comment

 
Ich glaube, daß die Zahl der Körperverletzungen eher rückläufig ist. Früher-das sind für mich die 60er, die Jahre meiner Kindheit-war alltäglich mehr los. Aber es hat die Leute nicht so gekümmert und es war mehrnormaler Teil des Alltags. Bei der normalen abendlichen Kneipenprügelei-gibts die heute überhaupt noch?- rief doch keiner die Polizei. Was heute anders ist: wenn was passiert, geschieht es bei "Events" oder in touristischen Feierhochburgen. Scheinbar liegt der Stadtpalast in so einer Ecke, daher der Eindruck, daß alles schlimmer wird.

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Ich bin ja auch keiner, für den es ausgemachte Sache ist, dass alles nur immer schlimmer wird. Aber selbst hier in der recht idyllischen Verbundgemeinde artet so manches Fest in Massenschlägereien aus. Im gut bürgerlichen Nachbarstadtteil brennen - auf die Einwohnerzahl bezogen - mehr Autos als in Berliner Problembezirken. Nicht zu reden von den bisweilen bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Düsseldorfer Altstadt. Dagegen leistet die Stadt auch viel Lippendienst, aber ernstzunehmende Versuche, das Problem strukturell in den Griff zu bekommen, vermag ich nicht zu erkennen.

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Don die Zahlen sind tatsächlich rückläufig. Aber sie werden härter und brutaler. Es ist viel mehr Verzweiflung in den Menschen. Auch gerade in dieser kleinen Stadt.

Warum sollte die Kassiererin Fragen stellen. Es geht doch um Umsatz und vielleicht ist es besser dass die Kinder sich den Kopf total zuziehen, dann liegen sie wenigstens nur noch rum und bringen sich oder andere nicht um.

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Wo soll in Schlägereien zwischen Betrunkenen "Verzweiflung" liegen? Da prügeln sich ja nicht irgendwelche Penner oder Langzeitarbeitslose, sondern Leute aus ganz normalen, oft genug sogar wohlsituierten Verhältnissen. Das ist allenfalls emotionale Verrohung, aber keine Verzweiflung.

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Ein meinem Vater befreundeter Staatsanwalt berichtete einmal, die Gewalttaten gingen tatsächlich beständig zurück. Höhepunkt seien die Sechziger Jahre gewesen, da sei es bei den Volksfesten und am Wochenende noch ganz anders zur Sache gegangen. Er führte das auf die Verrohung durch den Krieg zurück. Zudem sei früher mehr getrunken worden.

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mhh diese beschreibung deckt sich mit den erzählungen meiner eltern mit 1. hand wissen aus großstadtkiez und dorf.
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als realitätsabgleich werfe ich auch mal die szene mit der gruppenklatscherei im fliegenden klassenzimmer in die runde. die dort verwandten dachlatten würden heute schon mit einem verfahren wegen totschlags bedacht... da ging es noch als "rauferei" durch.

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In der Großstadt, in der ich wohne, haben diese Gewalttaten statistisch leider zugenommen. Traurigerweise kamen dadurch in jüngster Zeit sogar einige Leute um, sie wurden erschlagen oder abgestochen (es handelte sich dabei nicht um Beziehungstaten).

Nachtrag: Wenn ich es richtig im Kopf habe, ist der landesweite Trend aber umgekehrt.

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Letztes Jahr wahr ich mal bei uns in der Polizeukaserne, am Lichtscheid wenn jemand das was sagt. Ein Riesengelände, ich mußte ziemlch weit rein. Aber wenn mal die Rocker in NRW ein Tänzchen machen ziehen sie den Schwanz ein. Nur gutbezahlte Häuptlinge und keine Indianer. Wie ist es den mit Polizeipräsenz in der kleinen dummen Stadt? Deeskalation durch Abwesenheit?

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Hier sieht´s gerade am Wochenende so aus: Ob in der U-Bahn, auf der Straße, in Parks oder auf anderen öffentlichen Plätzen: Junge Leute mit Bier, Wodka und Weinflaschen aus denen direkt, also ohne Umweg über ein Glas getrunken bzw. gesoffen wird. Ist die Pulle leer wird sie auf den Gehweg geworfen. Je mehr dann gesoffen wurde, desto mehr sinkt die Hemmschwelle. Nach jedem Wochenende beseitigen die Geschäftsinhaber die Vandalismusschäden wie vollgekotzte Schaufenster, zertretenen Blumenkübeln, demolierte Fahrrädern etc.

Aber wie sagt so schön der Volksmund: "Des kleinen Mannes Sonnenschein, ist vögeln und besoffen sein"!

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Nun ja; dass z.B. so etwas wie "Komasaufen" nicht unbedingt eine Erfindung der Neuzeit ist, weiss ich aus eigener Erfahrung/Beobachtung. Gleiches gilt für Schlägereien usw.

Einiges ist aber doch anders: in den 80ern hatten diese Schlägereien (zumindest die, die ich miterlebt habe) häufig eher den Charakter von "ritualisierten Revierkämpfen", die auch in der Regel ohne größere Folgen blieben.
Und es wurde natürlich so etwas medial komplett ausgeblendet.

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Dass "immer alles schlimmer wird" hör' ich nun auch schon mein ganzes langes Leben. Einem Rat des Don folgend, hatte ich mir mal Castigliones "Der Hofmann" besorgt und gelesen. Da finde ich, z.B.:
...dass wir, "wenn die Welt in der Tat von Tag zu Tag schlechter würde, und die Väter immer besser waren als die Söhne, schon längst an einem Punkt des Tiefstands angekommen sein müssten, wo es keine Verschlimmerung mehr gäbe."
Also in der Hölle.
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Diese 500 Jahre alte Einsicht kam mir bekannt vor. Zuvor hatte ich Gerhard Henschels MENETEKEL gelesen, da untersucht er im Kapitel "Auf der Suche nach der guten alten Zeit" diesen rückwärts gewandten Optimismus: Wenn die zig Klagen immer rechtens waren, dass es also wirklich immer schlimmer wird (Henschel gibt zig Beispiele, rückwärts durch die Jahrhunderte bis zu den Römern, Griechen, Ägyptern), ...es also zuvor jedesmal besser gewesen sein, dann hatten wir vor zig tausend Jahren logischerweise paradiesische Zustände. Doch... war das Leben in Höhlen und auf Bäumen, ohne Feuer, ohne Räder, ohne Kamm und Seife, ohne Rennrad und Barchetta, aber immer in der Angst vor dem Säbelzahntiger ...wirklich paradiesischer als spätere Zeiten? Als heute?
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Sogar Schopenhauer musste zugeben: "Ich weiß wohl, dass jeder denkende Mensch seine Zeit für die allererbärmlichste hält. Aber ich muss gestehen, dass ich von der Illusion nicht frei bin."
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Sogar Schopenhauer musste zugeben: "Ich weiß wohl, dass jeder denkende Mensch seine Zeit für die allererbärmlichste hält. Aber ich muss gestehen, dass ich von der Illusion nicht frei bin."

100% d'accord. Trotzdem habe ich auch schon vor 20...30...40.....50....Jahren gelebt und das Phänomen des Massenbesäufninsses in der Öffentlichkeit mit all seinen Begleiterscheinungen war bis vor 3, vielleicht 4 Jahren zumindest in "meiner Gegend" unbekannt.

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keine Maibäume zu pflanzen, keine schützenfeste, keine kermes, stadtfest, karneval, fasenacht, somnmersonnenwende, kellerclubs, "grillabende" im park ?

in anderen Gegenden zeichnen sich bei sowas ganz erschreckende historische kontinuitäten ab ...

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/c/c8/Pieter_Brueghel_the_Younger_-_The_Wedding_Dance_in_a_Barn_-_WGA3636.jpg/800px-Pieter_Brueghel_the_Younger_-_The_Wedding_Dance_in_a_Barn_-_WGA3636.jpg

http://www.youtube.com/watch?v=O7qKDE--hnA

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Ich weiß ja nicht, wie das in Ingolstadt so ist. Aber hier in Wolfratshausen haben die Bedienungen z.B. im Cafe Abendblatt innen drin ab einer bestimmten Uhrzeit so viel zu tun, dass sie sich über das Draußen gar keine Gedanken mehr machen können.

Wenn eine Kneippe nicht gerade explizit eine Disco ist, dann steht dafür halt auch nicht das notwendige Sicherheitspersonal zur Verfügung. Wie soll da der Wirt vor der Tür nach den Rechten Dingen sehen können?

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Das Gefühl, alles werde immer schlimmer und früher sei alles besser gewesen, ist ein untrügliches Zeichen dafür, daß beim Fühlenden ein (der) Alterungsprozess eingesetzt hat...
Sage ich aus eigener Erfahrung...

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@betablogg: Das ist fein beobachtet. ...bestätigt diese Erfahrung gerne noch ein Alter.
Da ich als Alter aber darum weiß, fragt ich mich doch oft: Waren "wir" nicht genau so? ...in den Fifties, Sixties, frühen Seventies? Nur die Form hat sich - wie immer - geändert: die Art der Bekleidung, Haarfrisur, Musik, die Namen der Spirituosen und sonstiger Drogen...
Was haben die Älteren damals geschimpft wenn wir Jungen mit 'nem Kofferradio im Arm laut den AFN ("Frolic at Five") hörten, oder unserer Elvis- oder Fats Domino-Singles laut im Zimmer spielten und dabei natürlich die Fenster offen ließen, weil ja alle anderen die ach-so-schicke Musik auch hören sollen. Heute macht's eben "Bumm-Bumm-Bumm-Bumm" aus'm vorbeifahrenden Opel mit offenem Fenster.
Nee, die Zeiten ändern sich nie. Ob Breughel, Jazz Age, Fifties-Halbstarke, oder saufende Partymacher in Jack Wolfskin-Klamotten... Die Jungen amüsieren sich - und die Alten ärgerts.
Zum Beispiel war schon immer die Musik zu laut. Jedenfalls für die, die sie nicht an diesem Ort zu dieser Zeit wollten. Und ich mein' nicht nur Rock/Popmusik.

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Alter, das, -s, n; Zustand, in dem man anderen Verfehlungen deshalb vorwirft, weil man sie selbst nicht mehr begehen kann.

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Nichtraucher, Nichttrinker, was soll ich da machen?

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und nichtfernseher, man weiss.

aber da fehlt doch noch etwas... nur was... hm...

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tja, früher war selbst früher war alles besser besser. da hat das noch ä gschmäckle gehabt. im mittelalter haben sie bei ihren orgien wenigstens noch das dommobiliar zertrümmert. o tempora o mores.

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Früher
gab es wesentlich mehr strukturelle und direkte Gewalt.
Früher gab es wesentlich mehr Kindesmißhandlungen, Körperverletzungen, Gewalt gegen Frauen.
Früher wurden wesentlich weniger Gewaltdelikte angezeigt und die Akzeptanz war entsprechend höher. Im Übrigen, was die Anzeigen anging, waren die Quoten in Süddeutschland wesentlich niedriger als im Norden, dafür waren die Verurteilungen quotal umgekehrt entsprechend. Früher war bis in die 70´er. Dann kam eine massive Veränderung.
Entsprechend hinkte die Entwicklung im Osten hinterher. Als ich alte DDR-Bürger auf die in den Neunzigern aufkeimende brutale Nazigewalt ansprach, zuckten die nur mit den Achseln: Die Ausübung von Gewalt war da einfach noch viel zu präsent, als daß man das als unnatürlichen Ausschlag empfand.

Ich meine aber, daß die Brutalität und Sinnlosigkeit der Gewaltfrüher durch die höhere soziale Kontrolle, die ja auch in der Akzeptanz der Gewalt lag, gehemmt war. Das kennt man aus den Schilderungen dann doch nicht, das ständige auf den Kopf treten und das Nachtreten usf.

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Selbst beim Michel aus Lönneberga wurde geprügelt
Schon damals gehörte eine zünftige Rauferei zum Jahrmarkt dazu. Selbst in der "heilen Welt" einer Astrid Lindgren.

Ich weiss nicht, ob da wirklich was wesentlich schlimmer geworden ist.

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Na ja, dann hoffe ich mal das, sollte es einen der vielen Theoretiker treffen, die "Rauferei" dann nicht zu "zünftig" endet.

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Für die einen ist es eine zünftige Prügelei, für die anderen die längste Zeit des Lebens im Rollstuhl.

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