Es kommt immer darauf an, wie man es sieht

Fr Agrigent sollte man neben der kunstgeschichtlichen Ausrichtung auch Erfahrung in Bodendenkmalpflege mitbringen, dann ist das alles gar nicht so schlimm. Es steht ja alles noch. Und wird sicher auch noch stehen. Ja, es wird sogar hin und wieder etwas gemacht. Zu wenig, um den Zerfll aufzuhalten, zu viel Neubau, um das Stadbild zu retten, aber Agrigent ist nicht tot. Nur todkrank.







So todkank dann allerdings wieder, dass der potenzielle Käufer, dem das Klima zusagt und den kein Heuschnupfen plagt, aber auch keinerlei "Habenwill-Gefühl" überkommt. Sowohl der Rokokopalast als auch der gotische Wohnturm sind zu verkaufen, aber es geht nun mal um Lage, Lage, Lage - und Agrigent ist mehr ehrlich denn touristisch. Man könnte auch sagen: Das ist kein Ort, der auf Dauer zumutbar wäre. Selbst mir zu echt.







Kunstgeschichtlich fair ist das natürlich nicht, denn das, was man an Capriccios bewundert, den Zerfall, die gelangweilten Leute, die Ruinen, das Pittoreske des Niedergangs, erlebt man hier in der Version des 21. Jahrhunderts. Vielleicht muss man sich in die Exotik des Ortes eindenken, und in das Leben, das ganz anders ist als in den Hochburgen des Tourismus: Hier gibt es eben keine Cafes und keine Guccihandtaschen an Schülerinnen. Hier ist der Süden. Armut sieht halt wie Armut aus. Man hat hier andere Sorgen als perfekt gestrichene Fensterläden. Man hat noch Plumpsklo auf dem Balkon.







Nach einer gewissen Eingewöhnungszeit habe ich dann verstanden, wie ich Agrigent packen muss: Als grandiose Kulisse für einen 70er-Jahre Mafiafilm. Als Hintergrund für die Musik von Napoli Violenta. Ich bin da, ASP aus und Drehzahlmesser auf rot, durchgekurvt mit meinem Lancia, mit 70 die Rampen hoch und über Treppen gerannt: Hier passt alles. Jeder Blick eine Einstellung, eine klaustrophobische Kamerafahrt, und dafür reicht es schon, einfach zum geschlossenen Dom zu gehen. So betrachtet ist Agrigent gamz, ganz toll. Die Enge, der Schmutz, überhaupt ist Agrigent wie ein malerisches Berlin mit Sonne und Meerblick. OK, die Leute sind hübscher und freundlicher und es gibt dort keine organisierte Juntakriminaliät unter Donna Merkel. Aber gerade der Dreck könnte Berlinern helfen, sich an eine zivilisierte Gegend zu gewöhnen.







Schade ist es natürlich trotzdem. Manchmal wäre es ja nur eine Kleinigkeit, um eine Ecke wieder schön zu machen. Es gibt hier so eine ganz besondere Fähigkeit zur Verscheusslichung von Bauten; man müsste einfach nur anders damit umgehen. Aber vermutlich fehlt nicht nur das Geld, sondern auch das Verständnis. Und dann diese Allgegenwart des Billigsten: Sizilien hat es einfach mit dem Plastikstuhl, und der kann einem alles, jeden Ort und jedes Restaurant verleiden.







Also, Agrigent ist schon toll, und hinter jeder Ecke ist eine Überraschung, manchmal schön und oft schrecklich. Diese Stadt ist untot, und am Ende des Tages bin ich doch froh, zurück in meinem internationalen Komforthotel zu sein, das mit einem Normannenschloss sizilianisch tut, aber schweizerisch funktioniert. Ich bin gern mitten im normalen Leben, wenn ich in Italien bin, und vielleicht könnte ich mich auch an sizilianische Städte gewöhnen: Aber einen Tag über die Stufen springen und kein einziges Cafe finden reicht auch.

Mittwoch, 17. April 2013, 01:23, von donalphons | |comment

 
Die Erotik des Verfalls
Die Morbidität der alten Palazzi und anderen Denkmäler hat mich im letzten Jahr vor allem in Siracusa (Ortigia) fasziniert. Ähnliche Motive wie die Ihren habe ich dort abgelichtet. Ich frage mich, wo ich lieber leben würde: in einer mit viel Geld restaurierten Altstadt wie im historischen Zentrum von Dresden (inkl. Disneyland-Effekt) oder in einer sizilianischen Altstadt, in der einige Paläste wieder ihren Prunk entfalten, die meisten Gebäude aber schlicht erkennen lassen, wie sie über die Jahrhunderte zwar belebt, aber nicht mehr mit einem Budget, das dem ihrer Erbauer entspricht, gepflegt werden konnten.

Ohne Ihnen neunmalschlaue Reisetipps geben zu wollen ;)...: ich empfehle einen Besuch in Ragusa, Ispica oder Noto. Dort dürfte der Empfang optisch etwas weniger schroff ausfallen.

Und ansonsten freue ich mich auf weitere Berichte, die meine Vorfreude auf Sizilien im Mai hoffentlich unterstützen. Bilder aus Selinunte wären perfekt... ;)

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Das kommt alles noch nach und nach, man muss das alles ja uch irgendwie verarbeiten, sonst rauscht man einfach nur durch und sieht die Hälfte dann auch nur per Display. Ausserdem bin ich wirklich auf Urlaub hier, ganz klassisch. Muss aber nach meinen Erfahrungen - man suche einfach mal ein normales Lokal in Agrigent, Gela oder Licata - doch gant froh, die Hälfte des Tages auf einem anderen Planeten zu verbringen.

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Wenn es anstelle der 70er die 80er sein dürfen, könnten Sie im Delta Integrale durch Stadt und Landschaft fahren.
Walter Röhrl Handschuhe hams ja eh scho.

Ich war noch nicht dort, aber mir scheint, das ist dort heute so wie die Toskana einige Jahre nach Aufhebung der Mezzadria gewesen sein muss, bevor die große Masse der Deutschen und Engländer usw. kamen. Landflucht, Aufgabe von Gebäuden, Verwahrlosung des Landes, Aufgabe der Parzellen. Heute mit Kettenraupe und unter Inkaufnahme krasser Erosionsschäden irgendwie bewirtschaftet.

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Das Land an sich und viele kleinere Orte sind ganz gut in Schuss, schlimmer sind die schlechten Lagen aller Städte. Es gibt ein paar Ausnahmen, aber die Flucht aus den Städten nach Norden hat eindeutig Spuren hinterlassen. Manchmal erinnert es an die Toskana, aber es ist doch ganz anders.

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Immerhin gibt es ausgesprochen hübsche Katzen, wie man sehen kann.

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Auch der Feudalismus war hübscher unterm ancien régime.

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Man kann da übrigens auch der Frage nachgehen, wie es aussehen würde, wenn jeder einen Palazzo hätte - zumindest in Ragusa. Das Ergebnis wäre, am Ende sind die einen im verslumten Palast und die anderen im sauberen Palast.

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feuchte augenwinkel. endlich. er sieht. (oder: ein frei schreibender wahrheitsreisender, wie schön!)
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.... europa ist schon toll, und hinter jeder fabrikecke eine neue überraschung, manchmal schön und manchmal wunderlich. dieser kontinent ist untot, und am ende des tages sind wir doch wieder froh, zurück in unserem internationalen komfort-rotel zu sein, das mit seinem elektronikschloss deutsch tut, aber augsburgisch funktioniert; wir sind gern mitten im bewegten Leben, wenn wir in europa sind ... .
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und man meint auch,
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klar eins: direkt neben raffelts renovierten franz. weingütern siehts in der franz. provinz teils grad genauso aus. (und jeder schreibt, wie beauftragt. und zwar durchaus verständlich. und man freut sich über jede nachricht. vor allem aber über die ungelogenen.)
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zwei: logisch zieht sich das, von trapani in sizilianischer maximalentfernung zu meran, so, wie er zeigt, bis da hoch. wird schwächer mit den kilometern. aber der übergeordnete trend zur zunahme der abnahme beleibt.
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drei: die ratingagenturen hatten längst bessere profiler als berlin oder die westviertel.
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4.: auch in meran kauft man womöglich noch später noch billiger.
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5: wer in den bergen oberhalb merans für die eigenen verhältnisse so preiswert wie möglich zu kaufen beabsichtigt, evtl. sogar unter zu hilfenahme von eigenleistung an etwas leicht baufälligem, der ist symphatisch. nur perfekt ist abstossend.
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sechstens: auch italien ist mehr, als die summe seiner staatsdiener. z.b. landschaft. und vergangenheit.
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und schrieb es nicht neulich jemand: stell dich irgendwo in die deutsche landschaft, vor dir sechhundert meter kahles frühmärzfeld bis zum waldrand. sonst nichts, keine strasse, kein mast, kein haus zu sehen. nur fläche plus natürliche, nackte begrenzung. so ist zukunft. ohne kinder. und klar bleibt mitteleuropa nach unserem voraussehbaren aussterben dann für immer unbesiedelt. völkerwanderungen waren gestern. was wollen die anderen auch hier? (worüber peak-arbeitsstelle, vorübergehend bei 42,6 mio also, evtl. auch noch hinwegtäuscht.)
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und das überaschendste: überall in europa heute, wo es so aussieht, wie auf seinen fotos, kaufen die leute, sobald oder solange sie noch geld haben, einen gebrauchten bmw oder audi, um sich was zu gönnen, um am leben teilzuhaben, das techn.-zivilisatorisch beste und aktuellste ungefähr noch (1x?) zu kennen, anstatt in ihre gebäude zu investieren: nachhaltiges geschäftsmodell das, in und für europa überall... .
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er hat uns berührt.
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und bitte nachsicht.

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