Jemima Morrell, Miss Jemimas Journal

Dieses Buch wird allenthalben sehr gelobt, und von seiner Existenz wusste ich schon durch die SZ, bevor ich es leibhaftig bei den Neuerscheinungen sah. Es ist das Tagebuch einer jungen Britin, die im Sommer 1863 mit dem damals leibhaftigen Thomas Cook in die Schweiz fuhr. Es entsteht also genau zu dem Moment, da der Massentourismus über die Berge hereinbricht; noch ist die Schweiz oft arm und verschlossen, aber schon finden sich erste Luxushotels, Züge erleichtern die Anfahrt und die Bergführer wissen, wie man die Briten ausnimmt. Insofern ein Stück Zeitgeschichte, das für Bergfreunde von hohem Interesse ist, zumal die Autorin auch - nun - nett schreibt.



Es erinnert vom Duktus her ein wenig an "Zimmer mit Aussicht" mit dieser Mischung aus Reserviertheit und dem Ablegen der Konventionen - nur eben ohne Zimmer. Und ohne Aussicht auf Männer. Tatsächlich vergessen die Autorin und ihre Mitreisenden einige Konventionen, und man darf davon ausgehen, dass jenes Tagebuch sicher nicht als das geplant wurde, was es jetzt ist: Ein gedrucktes Buch. 1863 hätte sie es vermutlich noch einmal deutlich überarbeitet, um die für damaige Verhältnisse unschicklichen Stellen zu streichen. Manchmal blinzelt ein wenig honeychurch'sches Selbstbewusstsein durch und manchmal ein Sufragettenstrumpf, die Autorin ist sicher kein dummer Puschel auf dem Weg zur Heiratsschlachtbank, sondern durchaus selbstbewusst, wie sie da so durch die Alpen stapft. Aber sie ist dabei auch sehr vernünftig. Sie bricht aus ihrer gewohnten Welt aus, aber nicht aus ihren eigenen Vorstellungen.

Man bedenke - das ist die Zeit, da Damen ihre Hände mit quecksilberhaltiger Creme behandeln, damit die Haut schön bleich wirkt. So gesehen ist das Buch etwas ungewöhnlich, wenn man es mit der sonstigen Gesellschaftsliteratur der Zeit vergleicht. Ich denke da etwa an den damaligen Bestsellerautor Anthony Trollope, der damals mit "Framley Parsonage" die Sorte Gesellschaftsroman schrieb, die später von Waugh und Foster so glänzend persifliert wurde - diesem Umfeld der schüchternen Vikare ist Frau Morrell schon viel zu weit entwachsen.

Aber ach, es fehlt alles Menschliche. Diese junge Dame ist dort, um die Berge zu sehen, Konversation zu machen und zu wandern. Sie ist mitunter etwas bissig, aber es kommt nichts an sie heran, keine Verlockung, keine Versuchung, sie ist trocken, nüchtern und sehr angetan vom englischen Gottesdienst. Ein Kind ihrer Zeit. Und mit jeder Seite schweift der Blick zum Buchregal, wie "Zimmer mit Aussicht" steht. Es ist halt eine seltsame Zeit, diese 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, nicht umsonst habe ich kaum Bilder aus jener Epoche, und man muss sich das vor Augen halten: Wir denken bei dieser Epoche an die in sich schon verdruckste, sexuell gefesselte Fabelwelt von Alice im Wunderland. Aber was damals wirklich sensationelle Auflagen hatte, war die heute vollkommen vergessene, tränenrührige Hesba Stretton mit ihren Waisengeschichten, eingepackt in christliche Moral. Und irgendwo dazwischen stakst also Frau Morrell durch die Berge, bewundert die Natur und heiratete dann bald.

Und so lakonisch ist das Buch dann auch. Es ist britisch in einer süffigen Landschaft, und das Herz geht nur sehr kontrolliert auf. Dazu kommt noch eine wirklich nervige Aufsgeldschauerei, und man kann sich richtig vorstellen, wie schmale britische Lippen gespitzt und skeptische Augen zusammengekniffen werden - ich brauchte dazu ein Stück Kuchen.



Vielleicht bin ich ja überkritisch und vielleicht liegen mir die kleinen Engländerinnen wirklich nur, wenn sie dann im edwardianischen Zeitalter merken, dass anderes viel mehr Spass macht. Es ist immer noch ein entzückendes Buch und etwas, das man als Freund der Berge gelesen haben sollte. Das einzige, was mich wirklich daran geärgert hat, ist der grosse, orange Aufkleber des Verlags der sich kaum und nur mit Kleberesten vom Umschlag lösen liess. So etwas tut man nicht.

Ansonsten ward ich gut unterhalten und vergass das Poche für einige Stunden. Nur, die hymnischen Elogen der SZ auf dieses Journal würde ich nicht unterschreiben. Mark Twain war etwas später ebenfalls dort, und das ist deutlich schärfer.

Samstag, 22. März 2014, 10:15, von donalphons | |comment

 
Ja, die Publikumslieblinge dieser Zeit sind manchmal etwas schwer verdaulich. Bulwer-Lytton hat gegen Ende seines Lebens eine augenzwinkernde Version dieser Reiseliteratur herausgebracht, die dann leider die falschen Fans fand.

Ich lese ja fast nie Bücher, die das Feuilleton empfiehlt, vielleicht mache ich für Miss Morell nun doch eine Aussnahme.

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Ich normalerweise auch nicht, ganz speziell bei eiuigen Leuten ist das ja eine Garantie für schnarchöde Leserbeleidigung. Aber dem Novitätenstand meines Buchhändlers traue ich schon über den Weg.

Im Deutschen ist es übrigens ganz ähnlich, wer würde heute noch Wilhelm Raabe lesen?

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Ich habe nur mal die Hunger-Trilogie gelesen. Sie lag in einem Antiquariat auf dem Tisch und wenn ich ehrlich sein soll: mir gefielen die Titel (Schüdderump), der Autor sagte mir damals nichts. Ich fand ihn aber nicht eigentlich zäh, er drückte sich halt "schön umständlich" aus. Das widerspricht den heutigen Lesegewohnheiten und darunter leiden ja auch andere Autoren des 19. Jahrhunderts. Immelmanns Münchhausen etwa: Ein tolles Buch, ich habe es schon mehreren Leuten empfohlen, doch gelesen hat es dann trotzdem keiner.

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Ich, jedenfalls sein Spätwerk. Ist natürlich etwas verdruckst und verklemmt, wie er schreibt, das aber auf höchstem Niveau: spannender als Theodor Fontane, menschenfreundlicher als Bertolt Brecht, aufrichtiger als Monika Maron. Machen Sie mir Wilhelm Raabe nicht schlecht!

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Ich kann hier noch "Villette" von Charlotte Bronte empfehlen. Da verschlägt es die leicht verschrobene, durchaus selbstbewusste und nicht dumme Lucy Snowe ("I, Lucy Snowe, was calm") ins französischsprachige Ausland. Lucy, mit ihren 23 Jahren nach damaligen Maßstäben eine alte Jungfer ohne Heiratsaussichten, die notgedrungen einen Beruf ergreifen muss, beobachtet sehr kritisch die Bewohner Villettes, aber auch die dort lebenden Briten. Villette steht wohl für Brüssel, wo C.Bronte einen Teil ihrer Ausbildung absolvierte.

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