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Dienstag, 16. April 2019

Was tun, wenn’s brennt?

Ein paar Antworten auf Fragen zum Brand der Notre Dame.

Ist es ein Anschlag?

Sehr wahrscheinlich nicht. Das Feuer brach dort aus, wo restauriert wurde – im oberen Bereich des Daches. Ohne die Lage in Paris jetzt zu kennen: Normalsterbliche kommen gar nicht an solche Stellen, die sind immer gut gesichert. Und in Dombauhütten kennt jeder jeden. Der Gedanke, dass jemand da hinauf kommt um Feuer zu legen, ist ziemlich abseitig.

Wenn man eine Kirche wirklich verbrennen lassen will, sollte man ausserdem nicht das Feuer oben machen, wo es sich langsam nach unten frisst, sondern unten, wo es schnell nach oben geht. Der Kamineffekt ist da der Freund der Feuerteufels.

Diese kostbarsten Kunstschätze!!!!!!!

Die wurden bei der grossen Säuberung im 18. Jahrhundert vernichtet, wenn es um die mittelalterlichen Glasfenster und Innenausstattung ging. Damals wirkte die Kirche zu dunkel, also wurden die alten Glasfenster entfernt und durch normales Glas ersetzt, während die Kirche weiss getüncht wurde. Weitere schwere Schäden entstanden bei den Revolutionen 1794 und 1830; von der alten Inneneinrichtung ist fast nichts mehr da. Die Figuren von Monstern an der Fassade, die der Normalsterbliche so kennt, stammen wie die meisten Buntgläser, Dachreiter und Teile des Dachstuhls aus dem 19. Jahrhundert. Bedeutend ist Notre Dame wegen der Grundprinzipien der gotischen Architektur, die hier im Chor weitgehend entwickelt wurden - und später im Mittelalter und Rokoko noch einmal deutlich verändert wurden. Um diesen Kunstschatz Notre Dame wirklich zu verstehen, braucht man schon etwas Vorbildung – ich würde vermuten, 99% der Menschheit haben die nicht.

Man kriegt das nie wieder so hin!!!!!!!!!

Was genau bitte? Den Zustand um 1300? 1500? 1850? Damit fängt es schon an, man wird sich überlegen müssen, welchen Zustand man da restaurieren will. Ich hoffe, sie nutzen die Gelegenheit und rasieren ein paar romantisierende Zutaten des 19. Jahrhunderts wie den Dachreiter, und halten sich an den Zustand der letzten gotischen Bauphase – auch wenn das manchen heute gar nicht so toll gefallen wird. Den Dachreiter nennen manche übrigens "Vierungsturm" - das ist nicht wirklich zutreffend, ein Vierungsturm wäre eine genauerte Überhöhung über dem Zusammentreffen von Längs- und Querschiff. Was da eingestürzt ist, ist ein nach oben gezogener Teil der Dachkonstruktion. In der französischen Gotik gibt es die Türme nur in Ausnahmefällen.

Das Dach selbst ist nun wirklich kein Drama – es gibt genug Spezialisten im Denkmalschutz, die das können, zumal das Dach von Notre Dame wegen des schmalen Hauptschiffs jetzt weder sonderlich komplex noch gross war: Der Dachstuhl über dem Hauptschiff der relativ frühen Notre Dame war 100 Meter lang und 13 Meter breit, der Dachstuhl des spätgotischen Ingolstädter Münsters überspannt die gesamte Hallenkirchem und ist 89 Meter lang und 37 Meter breit: Eine fast dreimal so grosse Fläche und ein mehr als sechs mal so grosses Volumen. Es ist sicher eine Frage des Geldes. Aber ein niedergebrannter Dachstuhl ist etwas, mit dem sich Kirchen immer wieder abfinden mussten.

Da liegen Trümmer im Inneren!!!!!!!!!!!!!!!!!

Ja, das ist die Folge der Schwerkraft, es fallen Steine auch runter. Die bisher bekannten Bilder zeigen aber, dass die Rippen – also die Elemente, über die der Druck auf die Pfeiler abgeleitet werden – gehalten haben. Was eingebrochen ist, sind die Füllung der Gewölbe mit besonders gemagerten Backsteinen. Kurzer Exkurs: Jedes Gewölbe erzeugt Druck nach aussen, und je schwerer es ist, desto grösser ist der Druck, der abgefangen werden muss. Deshalb hat man im Mittelalter spezielle Backsteine verwendet, um Gewölbe zu mauern: Mit sehr viel beim Brand verschwindenden Stroh im Lehm, um das Gewicht der Steine zu reduzieren. Deshalb sind die zwar leicht, aber auch empfindlich für das Eindringen von Wasser. Wenn da etwas draufstürzt und der Stein durch Wasser Gewicht aufnimmt, kann so eine Gewölbeabdeckung schon mal durchbrechen. Aber das alles, ohne dass die tragende Struktur der Streben und Pfeiler beschädigt wird - für moderne Menschen ist das vergleichbar mit dem Unterschied zwischen echtem, belastbaren Mauerwerk und Rigips, mit dem man Räume abtrennt. Das ist auch der Unterschied von Romanik und Gotik: In der Romanik ist das Gewölbe noch Teil der Tragstruktur, in der der Gotik ist es nur noch Füllung. Wenn selbst der Backstein in der Spätphase der Gotik zu teuer wurde, hat man schon mal bemalte Holzplatten hinter die Rippen gesetzt. Das ganze Mittelalter ist weitaus weniger mystisch, als man heute gerne glaubt. Und man kriegt die Steine meistens auch wieder in die Decke, wenn man will.

Ein Wort noch zu den Rosetten:

Die sind kunstgeschichtlich fraglos wichtig, weil der behauene Stein – also der Rahmen – eine Stilstufe der Hochgotik definiert, und mit ein paar anderen Kirchen in Frankreich in Europa grossen Einfluss hatte. Die Glasfenster darin sind, wie schon gesagt, mehrheitlich aus der Zeit der grossen Restaurierung im 19. Jahrhundert. Und die oberen Rosetten, hinter denen es im Querschiff gebrannt hat, sind zwar auch bedeutend, waren aber vom Kirchenschiff aus nie zu sehen, weil sie sich über dem Gewölbe befanden. Da war also nie Glasmalerei.

Zusammengefasst:

Es ist schlimm, und es gibt auch wirklich viel Grund zur Trauer und Bestürzung. Es hätte aber sehr viel schlimmer kommen können, und die Feuerwehr hat in Paris offensichtlich eine gute Strategie des kontrollierten Niederbrennens gehabt. Man darf nicht übersehen: Was sich in Rauch, Feuer und Asche auflöst, kann unten nichts mehr zerschlagen. Wer was tun will, spendet Geld an seine Freiwillige Feuerwehr und verbreitet im Netz keinen bildungsfernen Unsinn oder Verschwörungstheorien.

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Sonntag, 31. März 2013

Es ist nicht alles schlecht in Rosenheim

Zum Beispiel, dass sich die Brauherrn am Ort, wenn der Junior Englisch aus eigener Kraft überlebt hat, sich nach dem Schuljahr mit einem Kasten bedanken, und ausserdem ausrichten lassen, dass man sich noch mehr holen kann - ich sehe darin einfach keine Bestechung, das ist hier halt so. Die Abiturfeiern waren hier schon vor den amerikanischen Brauchtümern üppig, wenn ein Kind des Metzgers in der Jahrgangsstufe gewesen ist. Dieses Rosenheim ist gar nciht so schlecht. Hübsch gleich gar.



In dieser schönen Stadt gibt es einen Lokschuppen und dort drinnen oft Ausstellungen, und Anno 13 sogar eine Landesaustellung über den nicht wirklich bayerischen Alexander den Grossen. Und wie man von draussen schon sieht: Man hat sie kind-, familien- und fachfremdentauglich gemacht, was ja nicht schlecht sein muss. Verkopfte Ausstellungen für Fachpublikum sind ein Garant für quengelnde Bälger und Negativpropaganda, also wird das eher was "für die ganze Familie". Dass man hier mehr Arbeit investiert, als in die Auswahl zeitlich wirklich passender Exponate, kann ich so halbwegs nachvollziehen: Die Epoche Alexanders an sich war kurz, und auf's Jahrzehnt genau kann man sich schlecht die Funde aus dem Ärmel schütteln.



Und dass man mitunter zu einer gut gemachten frühantiken Vase greift, statt irgendwelchen hellenistischen Müll für den Export zu zeigen, kann ich auch noch irgendwo verstehen. Aber das endet irgendwie bei der Verdunkelung der Räume und bei schlecht entzifferbaren und wenig aussagekräftigen, weil nicht erklärenden Tafeln. Wenn man sich so viel Mühe für den Einbau von Trickfilmdisplays Zeit genommen hat, hätte man auch noch mehr zu den Gegenständen sagen können. Klarer Fall von falscher Strategie: Das Fachpublikum könnte man trotzdem befriedigen. Man tut es nicht, und so sonderlich gut ist der Katalog zur Ausstellung auch nicht, dass er die Schwächen beheben könnte. In zehn Jahren wird man hoffentlich mit Grauen an die Vergnügungspark-Gruselbahn-Epoche zurückdenken, die sich hier Bahn gebrochen hat.



Krasses, aber nicht einziges Beispiel ist eine gigantische, rotfigurige Halsamphora aus Unteritalien: Hier hätte man mal ein Stück aus der Alexanderzeit gehabt, das ausdrücklich die Schlacht bei Gaugamela zeigt. Die berühmten Mosaike, mit denen die Wand gegenüber bebeamt werden, sind ja römisch und drei Jahrhunderte später, was in etwa ist, als würde man die Geschichte von Ludwig XIV von der Dresdner Schule schmieren lassen: Ziemlich daneben. Die Amphora mit ihren Bildfeldern könnte das alles rausreissen, aber sie ist so im Finsteren, dass nicht mal ich sie genauer betrachten konnte. Darüber laufen Ausschnitten von Oliver Stones Film zu dieser Schlacht in Dauerschleife, 5 Meter breit und 2 Meter hoch in kurzen Schnitten, mit viel Gewalt und Tod. Man kann natürlich in der Dunkelheit versuchen, etwas zu erkennen, mit 10 gaffenden Familien dahinter, aber das ist überhaupt keine Atmosphäre für den Kundigen: Es ist Spektakel. Und es ist auch überflüssig, denn jemand hat auch für Kinderhorden vorgesorgt:



In der Garderobe sind viele grosse Käfige, in die man minndestens 100 Kinder einlagern kann. Es wäre also gar nicht nötig, man könnte besser beleuchten und bessere Texte schreiben. Man merkt, dass nicht alle bei der Umsetzung geschlafen haben, aber leider gibt es kein Hinweisschild für diese praktische Einrichtung, und so hat man Turbomütter und Quengelbälger und Vorzeigepapas sehr unentspannt zwischen Fundstücken, die den Normalen für die Halbbildung genügen. Der Fachmann wird den Eindruck nicht los, dass den Machern nach hinten hinaus die Ideen und der Multimediaplunder und die Funde ausgegangen sind, und so verlässt man das alles wie ein Essen, das aus der Ferne gut klang und sich dann als Fertiglasagne erwies. Irgendwie bekommt Bayern das Konzept der Landesausstellung nicht so hin, wie die Schwaben und Tiroler. Und weil so viele kommen, lernen sie auch nicht.

Aber die Käfige sind schon mal ein guter Ansatz.

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Samstag, 15. Januar 2011

Terminplanungsseite gesucht

.Ich bräuchte etwas:

Eine Art Terminkalender im Internet, den mehrere Leute gleichzeitig nutzen sollen.

Sie sollten sich eintragen und dabei auch Teile ihrer Arbeit einstellen können. Es sollte nicht öffentlich sein, Terminwechsel erlauben, leicht zu bedienen sein und zu keinerlei grossen Firma mit Datenspionageabteilung wie Google, Yahoo etc. gehören.

Eventuell würde ich ja ein WP-Blog anbieten, aber ich fürchte, das ist zu unübersichtlich. Hat jemand Ideen?

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Mittwoch, 8. Februar 2006

Umfrage des Tages: Sex in der Blogosphäre

1. Habt ihr schon gehabt?
2. Wollt ihr haben?
3. Habt ihr von einem Freund oder einer Freundin gehört, dass er oder sie hat?
4. Taugen Blogs als Anbandelungstool?

Und damit ihr Euch auch anonym trauen könnt, gibt es dafür einen Extra-Mitgliegsnamen: Blogfick, und das Password lautet: auja.

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Dienstag, 7. Februar 2006

Umfrage zur Blog- und Mediennutzung von Bloglesern

Liebe Leser, wenngleich es hier manchmal etwas ruppig zur Sache geht, wenn es die Kommunikationswissenschaften betrifft, so ist es doch so, dass ich das Fach an und für sich mag.

in München entsteht nun eine sehr spannende Magisterarbeit, deren Thema eine wichtige Frage ist, nämlich: Wie gehen wir mit Blogs, wie gehen wir mit Medien um und wo sind die Unterschiede. Es gibt hier eine Umfrage, die etwa 10 Minuten zum beantworten dauert, und es würde mich freuen, wenn Ihr Euch beteiligen würdet. Das Projekt ist nicht kommerziell, es werden keine Daten wie IPs gespeichert, und wer sich informieren will, findet hier das Blog der Forscherin.

Vielleicht noch was zu meiner Motivation: Ich habe sie im Institut in München bei einem Vortrag über Blogs kennengelernt, und da meinte sie, Blogs wären vielleicht so eine Art Tamagotchi für Erwachsene. Kein Respekt vor alten Säcken wie mir. Das mag ich. Das unterstütze ich :-)

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Samstag, 4. Februar 2006

Fragebogen nochmal

Schon mal ein kleiner Hinweis: Am Montag bin ich dran mit dem fragen - wäre schön, wenn Ihr Euch dann beteiligen könntet. Non Commercial, Science only.

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Donnerstag, 2. Februar 2006

Webwatching ist als HTML online

Allerdings ohne Kommentare.

Und offensichtlich war es wohl der Jahresabschlussbericht der schwarz im Sanitäranlagenbau arbeitenden Medienleute (jaja, die Medienkrise, ich verstehe), so viele Klowände werden da mehr oder weniger deutlich angesprochen. In fact, da steckt mitunter so viel an Unverständnis drin, dass mir irgendwie die Lust fehlt, mich damit auseinanderzusetzen. Wie überhaupt schon lange mit dem meisten, was Medien so über Blogs schreiben. Nicht meine Welt. Nicht mein Kulturverständnis. Kann sein, dass Blogs kaum Impact auf Medien haben. Aber Medien haben sicher keinen Impact auf Blogs.

Zu einigen schönen Seiten des Lebens auf Webwatching: Hans-Jürgen Bucher, Gundolf S. Freyermuth, Peter Glaser, mein persönlicher Favorit, Klaus Meier, Peter Praschl. Ich bin da. Ich denke, Jörg-Olaf Schäfers wird sich wohl den von einem ZEITler beklatschten Müll-Blumencron morgen vornehmen. Viel Spass, it´s like shooting fish in a barrel.

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Dienstag, 31. Januar 2006

Webwatching ist online

Hier.

Zuerst mal: Respekt vor der Leistung. Danke für das schöne Interview.

Aber: 1. Flash. Das ist schon schlimm. UPDATE: man hört aber, dass sich da was tut.

Und: 2. 19 Interviews. 19 Männer. Keine Frau.

Das ist so richtig übel.

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Freitag, 30. Dezember 2005

Was dabei herauskommt,

wenn Betriebswirtschaftler ohne geschichtliches Wissen versuchen, diesen Mangel zum Argument zu machen.

Sehr langer Artikel mit sehr vielen historischen Überlegungen, vielleicht für manche etwas zu viel, aber ich möchte ein paar Vorlagen nicht ungenutzt verstreichen lassen.

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Was dabei herauskommt,

wenn Betriebswirtschaftler ohne geschichtliches Wissen versuchen, diesen Mangel zum Argument zu machen.

Es begab sich also zum Ende der New Economy, dass manchem Verantwortlichen an einer gewissen Hochschule in St. Gallen, bei uns damals nur als "Galle" bezeichnet, der Umstand erkenntlich wurde, dass das bisherige System der Elitezucht angesichts der von Absolventen verursachten Todesraten dieser schwarzen Zeit dringend reformbedürftig war. Statt der reinen Ausbildung zum Unternehmensgründer, Consultant-Partner und Nachwuchsvorständler meinte man den jungen Leuten auch etwas Kultur mitgeben zu wollen, und kaufte dafür Kulturwissenschaftler ein, um ihnen sowas wie "soziale Intelligenz und Kreativität" mitzugeben. Eine dieser Personen ist ein guter Freund, und der meinte, frisch aus der Schweiz zurück, über die dortigen Studierenden: "Die haben zwar alle keine Ahnung, aber das können sie prima in Powerpoint umsetzen."

An diese Zeit musste ich denken, als mir dieser Versuch einer Replik auf meine Antwort auf einen Beitrag einer notorischen Puppe unterkam. Ich möchte keinesfalls bezweifeln, dass diese Person etwas Ahnung von Betriebswirtschaftslehre hat. Aber es wird offensichtlich, dass er vollkommen blank ist auf dem Feld der Geschichtsforschung, und hier nun wird diese Schlacht geschlagen.

Da freut es mich besonders, wenn dann eine Formulierung wie "Kolonialmächten, die bereits vor 1500 nicht-absolutistische Ordnungen hatten" kommt. Vor 1500 war es naturgemäss in Europa schwer, eine absolutistische Ordnung zu haben - der Absolutismus existiert im Mittelalter, also vor 1500 nicht. Im Gegenteil, das Herrschaftsprinzip des Mittelalters kennt die dafür notwendige Einrichtung des weltlichen "legibus absolutus" nicht, des Herrschers, der über den Gesetzen steht. Ironischerweise ist es denn auch das vielgelobte, "freie" England unter Henry VIII, das zu Beginn der Neuzeit sowas wie der Prototyp des Absolutismus in Europa wurde - indem Henry VIII such selbst als Oberhaupt seiner Staatskirche einsetzte und damit über allem stand. Dass es im späten Mittelalter soweit kommen konnte, "verdankt" man in England übrigens den durchaus schaurigen Rosenkriegen, die nicht wirklich die Grundlagen der bürgerlichen Freiheit waren, wie etwa in den deutschen Reichstädten. Im Gegenteil vernichtete dieser Bürgerkrieg den Einfluss der Bürger zugunsten von Warlords und in der Folge eines diktatorischen Regimes, das danach noch anderthalb Jahrhunderte Religionskriege nach sich zog.

Zu denen bemerkt nun besagter Herr: "Wenn es in Augsburg die Fuggers gab und woanders in Deutschland noch die eine oder andere weitere erfolgreiche Kaufmannsfamilie, dann wird aus diesen Einzelfällen noch keine im Hinblick auf institutionellen Wandel einflußreiche Schicht von Kaufleuten, wie es sie in England oder den Niederlanden gab."

Oh Oh. Eigentlich sollte ich hier still geniessen, wie sich da jemand argumentativ selbst meuchelt. Offensichtlich kennt da jemand das Universalreich Philipp II von Spanien nicht, zu dem Spanien, Portugal, Oberitalien, das heilige römische Reich und eben auch die vielgelobten Niederlande zählten. Sprich, das alles war damals ein Herrschaftsgebiet, und Phillip und tat militärisch alles, dass die Bürger dort nicht aus der Reihe tanzten.

Nochmal zur Verdeutlichung: Den Niederlande gelang es erst nach einer blutigen Erhebung gegen die Spanier und einem Handelskrieg im fernen Osten mit den Portugiesen, zur Handelsmacht aufzusteigen. Wobei man auch hier beachten muss, dass es nicht "die Niederlande", sondern die Patrizierschicht der Niederlande war. Davor war ihr nicht geringes Haupteinkommen der Handel mit dem Baltikum.

Und was die deutschen Kaufleute angeht: Im Mittelalter verlief die Geschichte der grossen Handelsstädte vergleichsweise ähnlich, die Händler erstritten sich Rechte, entmachteten Bischöfe und wurden reichsunmittelbar, was faktisch in eine Diktatur der Patrizier mündete, einer Art Oligarchie. Bei relativ ähnlicher Entwicklung der führenden Schichten änderten sich aber die führenden Handelsmetropolen: Im Hochmittelalter waren Köln und Regensburg führend, Regensburg beispielsweise durch das Seidenmonopol seiner jüdischen Bewohner. Im späten Mittelalter stiegen dann durch die Wollwirtschaft Erfurt, Ulm, Brügge und Konstanz auf, die allesamt, auch Brügge, in der frühen Neuzeit von Konkurrenten wie Augsburg, Nürnberg und Amsterdam überflügelt wurden. Gerade hier wäre es aber möglich, die Zusammenhänge zwischen Bürgereinfluss und wirtschaftlichem Erfolg aufzuzeigen, die Königsmacher der Fugger und die Compagnia der Bardi in Florenz sind zwei ganz famose Beispiele für die Macht der Bürger im späten Mittelalter. Insofern war es nur logisch, dass die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts allerorten die bürgerlichen Bestrebungen zerstört wurden - Florenz wurde Herzogtum, Regensburg ging pleite, Erfurt wurde in den Religionswirren zerstört, Konstanz durch Zürich vom Hinterland abgeschnitten, der Städtebund um Ulm gebrochen, die Fugger gaben nach der Erhebung in den Fürstenstand den Handel weitgehend auf, Nürnberg dagegen konnte auch im 17. Jahrhundert noch spielend mit den glanzvollsten Handelsstädten der Niederländer mithalten.

Was sagt uns das alles? Dass Geschichte extrem komplex ist, viel komplexer als irgendwelche Berechnungen. Und von einer enormen Vielzahl von Faktoren abhängt. Es ist nicht zu bestreiten, dass unter gewissen rechtlichen Bedingungen handelndes Bürgertum wirtschaftlich erfolgreicher sein kann als ein absolutistischer Staat. Allerdings kann auch ein absolutistischer Staat wie Frankreich höchst erfolgreich sein - nicht umsonst brechen die angeblich so erfolgreichen Niederlande im 18. jahrhunderte bei aller Freiheit massiv ein, als sich Frankreich politisch führend wird. Und das angeblich so erfolglose Portugal wird gleich zweimal durch seine Kolonien nochmal zum reichen Land: Ende des 18. und Ende des 19. Jahrhunderts durch den Kakaoboom. "Kann" heisst also nicht "muss". Die da von der Gegenseite geforderte Betrachtungsweise ist daher abzulehnen: "Wie viele Nicht-Ökonomen hat auch Herr Alphonso gewisse Probleme damit, reale anstelle von nominalen Veränderungen zu berücksichtigen und vom Einzelfall zu abstrahieren, um durchschnittliche Tendenzen zu erkennen."

Denn diese Forderung ist allein, wie oben erkenntlich, der Unfähigkeit der anderen Seite geschuldet, die Einzelfälle überhaupt zu kennen - da hilft es nichts zu argumentieren, das ginge am Thema vorbei. Erst deren Kenntnis erlaubt so weitreichende Schlussfolgerungen, wie sie im fraglichen Beitrag getroffen und von der anderen Seite zusätzlich überspitzt dargelegt werden. Dem Beitrag und der anderen Seite liegt ironischerweise das gleiche mechanistisch-materialistische Geschichtsbild zu Grunde, das auch einen Karl Marx in die Irre geführt hat, Stichwort "Frühbürgerliche Revolution", in der eine komplexe Situation für die jeweilige ideologie passend geprügelt wird. Marx als Kind seiner Zeit mag man vergeben, aber nicht unseren Zeitgenossen, die es besser wissen könnten und müssten.

Im Kern wird da nämlich nicht die durchschnittliche Tendenz erkannt, sondern genau andersrum die offensichtlich gut laufenden Beispiele so weit wie möglich für die Theorie eines erfolgreich agierenden "Bürgertums" im Gegensatz zu einem reglementierenden Staat zurechtgeschrieben; etwas, das man im England des 16. und 17. Jahrhunderts aber faktisch ausschliessen und bei den Niederlanden selbst nach der spanischen Besatzung im Kern auch mit einigen weiteren Faktoren erklären kann und muss. Allein schon, weil das "Bürgertum" unzulässig gleichgesetzt wird mit der wirtschaftlich erfolgreichen Schicht - kleiner Hinweis noch am Rande, Ursache für die "Bürgeraufstände" in den Niederlanden um 1570 waren vor allem eine Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit und in Folge dessen eine Hungersnot der Bürger, die wirtschaftlich nicht so erfolgreich waren und in der Folge versuchten, die Besitzenden auszuplündern. Die andere Seite bringt in ihren kurzen Texten einfache Gleichungen, ähnlich wie "Lohnnebenkosten runter, Arbeitslosigkeit runter", oder "Spitzensteuersatz runter, Steuerehrlichkeit rauf". Dergleichen ist immer getragen von dieser Vereinfachung, dass Wirtschaft letztlich eine simple, vernüftige Gleichung sei, die eher die Gesellschaft dominiert denn von der Gesellschaft dominiert wird - wenn das so wäre, hätte es wohl keine New Economy gegeben, keinen schwarzen Freitag, keine Flowtex und Comroad, und keinen Wirtschaftskrieg des Dritten Reiches.

Die Forderung nach Abstaktion ist da nichts anderes als der Wunsch nach unzulässiger Vereinfachung. Sicher, mit solchen Methoden kann man eine tolle Powerpoint an die Wand werfen - aber in meiner Wissenschaft sollte man mit dergleichen eher vorsichtig sein, sonst steht man schnell als unwissender Phrasendrescher da. Weniger diejenigen, die in ihrem Artikel Hypothesen aufstellen, über die man debattieren kann - als vielmehr die Person, die dergleichen als Tatsachen darstellt.

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