: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Sonntag, 30. Juli 2006

Die Versuchung auf dem Weg zum Bäcker

Herkunft ist nichts, Sozialisierung ist alles. Hätte ich in München im Euro Industriepark gewohnt, wäre das hier vielleicht ein sehr erfolgreiches Blog über die Vorzüge der Prostitution. Wohnte ich an der Rosenheimer Strasse gegenüber der Mediaworks Munich, würde ich als Scharlatan und PR-Hure auf billigen Drogen vom kommenden 2.o schwärmen. Nur wohnte ich in der Maxvorstadt, und deshalb könnte ich auch über Antiquariate bloggen. Nachdem es gewünscht wurde, hier also ein kleiner Abriss über die Welt der Begierden, in der ich lebe.

Ich habe keinen Fernseher. Ich fand Bücher schon immer spannender, und die schönsten Stunden meiner Jugend verbrachte ich nach der Schule, drei Stunden vor dem Bett kniend und lesend. Meine Eltern fanden, dass ich vielleicht etwas zu viel las, aber zur Bibliomanie wuchs sich dieses Verhalten erst aus, als ich die Provinz verlassen hatte und im Zentrum der billigen Bücher wohnte, ich der besagten Vortadt zwischen Zentrum und Schwabing. Damals gab es noch mehr echtes Antiquariat und weniger "modernes Antiquariat", unter anderem auf halber Strecke zwischen meiner Wohnungstür und dem Bäcker. Dieses Antiquariat gibt es - wie viele andere - heute leider nicht mehr, es war eine phantastische Quelle für Auktionskataloge von Ader Picard und Sothebys, und man konnte sicher sein, dass nach jeder Ausstellungseröffnung in den Pinakotheken ein paar Journalisten den Katalog gleich nach dem Buffet dort zu Geld machten. Es war ein reizender Bücherkosmos mit Regalen bis zur Decke, geordnet nach Fachgebieten, und mit einem liebenswürdigen älteren Herren mit Spitzbart und Brille, der genau so aussah, wie ein Antiquariatsbesitzer aussehen muss.

Heute ist an dieser Stelle nur eine weitere Gelateria, aber wenn ich einen nicht allzu grossen Umweg gehe, ein Block um die Ecke, ist in der Theresienstrasse 38 ein Antiquariat, wie es sein soll: Mattheis & Oswald. Aufgemacht haben sie vor rund 10 Jahren, seitdem stehen draussen die Kisten, und ich komme so gut wie nie daran vorbei, ohne nicht etwas darin herumzuwühlen,



Denn so mies München in Sachen Antiquitäten im Vergleich zu Berlin ist, so wunderbar ist es in Sachen Büchern. In diesen Kisten finden sich die Reste der Schwabinger Boheme und Bürgerlichkeit, man muss nur drüberschauen und am Goldschnitt erkennen, was für Schätze es dort zu heben gilt. 2 Euro etwa kostete letzte Woche Dostojewskis "Erniedrigte und Beleidigte" in Halbleder; ein Buch, das ich angesichts dessen, was ich in den nächsten Wochen mit einigen Kreathuren des Blogbusiness vorhabe, einfach besitzen musste. Und dazu eine Übersicht über gotische Kirchenmalerei in Schwaben; Bücher, die ich mir im normalen Buchhandel vielleicht nie gekauft hätte, aber hier muss es sein, es geht nicht anders, ich kann nicht weiter, ohne nicht alles durchsucht zu haben.

Drinnen ist das Antiquariat auch eine Versuchung, es gibt viele Bücher über Buchkunde, was mir fast körperliche Schmerzen der Leidenschaft bringt, antiquarische Kostbarkeiten des 19. und , oft auch grössere Nachlässe, 20. Jahrhunderts, die nach altem Leder und Staub riechen, und weil es so klein ist, kann man beim Auspacken zuschauen. Manchmal stehen im Winter dann 2, 3 Süchtige um den Karton und reichen sich gegenseitig die Bücher, und jeder hofft, dass der andere nicht das ergattere, was er sich sehnlich erhofft. Die wahren Schnäppchen aber macht man draussen, auf dem Weg zum Bäcker, und die Dame an der Kasse lächelt einen an, weil sie die Zeichen der Krankheit kennt, die die Eingeweide derer zerfressen, die es als Schande betrachten würden, ohne Hinterlassung einer Bibliothek mit weniger als 10.000 Bänchen diese Welt zu verlassen.

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