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Samstag, 23. Juni 2007
Leben als Sau
und unsere Leidenschaft ist ihnen rätselhaftIch habe mir letzte Woche ein paar, wenn man so will, negative Blogs gemerkt, die ich vorher nicht kannte und inzwischen gerne lese, einfach, weil ich verstehen möchte, wie diese Leute so ticken. Für mich sind diese Personen sowas wie die moderne Version des "Anrufnazis". Jetzt weniger das persönliche/erschlafene Umfeld einiger Adical-Teilnehmer, sondern die üblichen Typen, die mit Differenzierungsproblematiken, sei es nun aus Ignoranz oder Zynismus, nicht klarkommen. Die dann schreiben "Dann überleg Dir doch mal, wo Deine Unterhosen herkommen, Dein Essen kommt doch auch vom Billigsupermarkt, wir alle tragen T-Shirts die in China genäht wurden."
tocotronic, sie wollen uns erzählen
Das nun stimmt nicht ganz, ich gehöre durchaus zu denen, die sich sehr genau überlegen, was sie erwerben und was aus welchen Gründen nicht. Manchmal mache ich bei Spontankäufen Fehler, aber ich habe ein Faible für die uns alle umgebenden Gegenstände und eine Ahnung von Qualität, und wenn ich was nicht weiss, schaue ich im Internet nach. Es ist übrigens nicht so, dass ich hier nichts aus Fernasien habe, ganz im Gegenteil, meine Wohnung enthält sicher mehr Asiatika als die durchschnittliche Wohnung eines hirmlosen Ramschkäufers, angefangen beim auf Industriespionage basierenden Imariporzellan des späten 18. Jahrhunderts über ein rotes Jaderauchgefäss, das gegen 1900 während der Kolonialreiche und all ihrer Schrecken eingeführt wurde, bishin zu den Trümmern aktuell zerstörter Kulturgüter.
Ich habe auch eine späte, leider schlecht erhaltene Aldine aus der damaligen Diktatur Venedig mit den Ausführungsbestimmungen zu Ungläubigen wie mir auf Basis des tridentinischen Konzils. Liest sich nicht wirklich nett. Und der Stadtpalast, in dem ich wohne, war eines der Zentrum des Hasses der schlimmen Gesellschaft, der von 1618 bis 1648 Mitteleuropa verwüstete; in ihm ging eines der unrühmlichsten Kapitel dieser Zeit zu ende, ohne dass die folgenden Kapitel besser gewesen wären. Mein Mahagonischreibtisch wurde in Zeiten der Restauration gefertigt, dafür wurde südamerikanischer Urwald abgeholzt. Vor rund 170 Jahren, und das sicher weitaus nachhaltiger, als es heute gemacht wird, aber auch unter Verletzung fundamentaler Menschenrechte. Beim Kirschholzsessel daneben sieht es anders aus, der entstand komplett bei freien Handwerkern in Ungarn unter Metternich. Alles selbst gekauft und restauriert, und wenn wir jetzt die Umwelt/Folgenbilanz aufmachen und das mit neuen Billigmöbeln aus China vergleichen, die in Sweatshops hergestellt werden...
An der Vergangenheit kann man nichts mehr ändern, aber in der Gegenwart kann man mit der Kaufentscheidung Druck ausüben. Der Kapitalismus und die Globalisierung sind keine Naturgewalten, sie sind noch nicht mal böse, sie sind mathematische Systeme, und vor allem: Wir selbst, jeder einzelne von uns entscheidet, wie sie gestaltet sind. Kapitalismus ist wie ein Computer: Man kann mit einem "guten" Mac Daten an ein Mörderregime weiterleiten, man kann mit einem "bösen" Thinkpad dagegen protestieren. Und nur, weil die deutsche Bank mehr Einfluss hat als ich, bedeutet nicht, dass ich meine Entscheidungen in Bezug auf ein Mörderregime und ihrer besten Helfer wie die Deutsche Bank treffe, weil es ohnehin schon egal ist.
Hier folgt normalerweise auch von den zu Helfern der Unterstützer der chinesischen Mörder mutierten Expunks das Argument, dass man den Leuten dort doch mit Handel und Marktwirtschaft helfen würde. Darauf folgt dann von meiner Seite der etwas komplexe Hinweis auf die Finanzierung des "Aufschwungs" durch Kredite maroder chinesischer Banken, die ihre Gelder zur die Zwangspensionsverwaltung erhalten und somit über die Kredite die Produktion so verbilligen können, dass die Produkte bei uns trotz miserabler Produktivität in China billiger sind und das ganze System im Moment nur durch eine irrationale Börsennotierung faktisch wertloser Industrieruinen am Tropf der Banken gegenfinanziert wird, und wenn das einmal nicht mehr geht, dann... erkennen die neuen Freimarktwirtschaftler am globalen eigenen Leib, dass 20% Wirtschaftswachstum der Demokratisierung allenfalls durch eine Revolte schlagartig verarmter Kleinbauern geholfen wird, aber einerseits droht dann eher ein neues Massaker und Bürgerkrieg, und wir haben andererseits hier dann wirklich ganz andere Sorgen. So kommt das, in einer vernetzten, globalisierten Welt, wenn man nicht mitdenkt und einfach nur als fragwürdiger Kleinstunternehmer Scheisse labert, von Kiel bis Shen Zen.
Ich überlege durchaus, und mehr, ich will es wissen. Und ich weiss auch, wie ich mich weitestgehendst von der Globalisierung entkopple, wenn sie schädlich ist, und sie nutze, wenn sie sinnvoll ist. Das war nicht immer so, das hat etwas gedauert, aber inzwischen habe ich die Sache ordentlich im Griff. Und arbeite weiter daran. Ich kaufe gern zu hohen Originalpreisen, wenn ich weiss, dass es Produkte mit hoher Qualität sind, die gute Firmen unterstützen. Und die Welt ist voller guter Firmen. Das fängt bei meiner Nudelfrau an, geht über den Hersteller meiner neuen Schindeln und den global agierenden Stoffhersteller, der die Tücher meiner Kissen jetzt seit 250 Jahren mit einer Methode herstellt, die man vor 30 jahren noch verlacht hat und heute wieder für vorbildlich hält. Ich trage keine T-Shirts aus China, ich kaufe mein Essen nicht im Supermarkt, und selbst wenn ich es furchtbar finde, dass die Fleischerin auf dem Wochenmarkt das Fleisch dadurch produziert, dass sie Tiere selbst aufzieht und dann umbringt, würde ich eher dort mein Fleisch kaufen als im Kühlregal, wo es nur ein Viertel kostet. Wenn ich Fleisch essen würde.
Und was ich jetzt tue in all diesen Dingen: Ich lese Blogs von Leuten, die glauben, dass jeder irgendwo ein Schwein ist. Und das zum Anlass nehmen, jetzt die Sau rauszulassen. Sie wollen keinesfalls über Grenzen reden, über die wir ihres Erachtens alle sind, um selbst keine Grenzen definieren zu müssen. Ich achte bei ihren Texten wie bei Produkten auf die Details, ich erahne ihre Umgebung, ich bekomme einen Eindruck, wie sie leben als Sau, wie sie tatsächlich die Koben der Globalisierung leerfressen und dabei den Speck ansetzen, den das globale Finanzkapital so liebt. Ich erlebe sie in ihrem Erkenntnishorizont, der so unendlich viel grösser sein könnte als die Grenzen der Weiler ihrer Urgrossväter, aber gerade mal bis zur Mauern des Stalls reicht, in dem sie gehalten werden. Sie lassen sich nicht nur von diesem System bezahlen, sie sind ein Teil der Kreislaufwirtschaft, die sie mitunter in anderen Artikeln doof finden, wenn es sie selber trifft.
Ich trage Hemden, die Herrschaften. Von einem Hersteller aus der Region. Das, das ich trage, habe ich seit über 5 Jahren. Und gehe jetzt auf den Wochenmarkt. Auch, damit ich in vierzig Jahren gesünder bin als die Fastfoodscheissefresser in 20 Jahren. Auch. Aber nicht nur.
donalphons, 13:22h
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