: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Mittwoch, 2. Januar 2013

浮世絵

In meiner Wohnung hängen vier Blätter aus den 36 Ansichten des Fuji von Hokusai. Als ich sie gekauft habe, war ich noch nicht lange eingezogen, hatte nicht viel Geld übrig und war froh, so billig ein wenig Erbauliches für die Wände zu finden. Sie sind nicht sonderlich wertvoll; der Umstand, dass sich darunter auch Bilder aus den geplanten 100 - und letztlich bei 46 verbleibenden - Ansichten sind, zeigt zwar, dass sie alt, aber keinesfalls die ersten Originale sind. Ich könnte mich natürlich auch mit der Frage der abgenutzten Druckstöcke beschäftigen, mit denen die Arbeiten von Hokusai zugewiesen und datiert werden, aber ich gehe lieber zum See, der mein privater Fuji ist.





Das Schriftzeichen dort in der Überschrift steht für Ukiyo-e, was übersetzt in etwa "Bilder aus einer fliessenden Welt" bedeutet. Mein Leben hier ist auch fliessend, und manche bezeichnen es als einen grossen Witz, dass ausgerechnet ich, der ich mit Wasser im Allgemeinen wenig anfangen kann und selten mehr als 10 Tage im Jahr beim Baden bin, ausgerechnet an einen See gezogen bin. Hätte ich nicht auch ein, zwei Dörfer weiter ziehen können, wo ich für den gleichen Preis ein Zimmer mehr bekommen hätte? Und warum geht man überhaupt zum See? Was hat der Mensch mit diesem Element, das zusammen mit dem Feuer dasjenige ist, das für ihn tödlich und gefährlich ist?





Ich glaube nicht, dass die alte Besitzerin des Cafe am See gewusst hat, wer Hokusai gewesen ist, und dort hingen auch keine Ukiyo-e herum, aber sie sagte einmal, dass sie den See nun schon seit Jahrzehnten kennt, und nie sieht es gleich aus. Es ist eine fliessende Welt am Wasser, und wenn ich dieses Glück habe, und es ist im Norden grau und im Süden grau, und nur über mir scheint am See die Sonne, dann bin ich zufrieden. Mehr muss gar nicht sein, der Tag ist gut geflossen, den Rest nehme ich dann gar nicht mehr so wichtig. Hier fliesst es richtig, auch wenn es anderswo überschwemmt, mitreisst und vernichtet.





Das ist in meinen Augen das Angenehme, wenn man einen Punkt erreicht hat, an dem man zufrieden ist: Dann muss man sich nicht mehr als Teil grosser Umwälzungen schlecht fühlen. Der Tegernsee hat einen grossen Zufluss, mehrere Gebirgsbäche und einen Abfluss, und es dauert drei Jahre, bis das Wasser ausgetauscht ist. In solchen Zeiträumen kann man Veränderungen gestalten und sie auch bewältigen. Es geht nicht immer gut, aber es geht letztlich doch alles glatt. Ich würde so ein Leben, und sei es auch nur geborgt oder für ein paar Wochen, auf keinen Fall missen wollen, aber so bin halt ich und andere sind anders und rechnen genau durch, was sie erringen können, wenn sie das riskieren.





Und jetzt stehe ich eben hier unten im letzten Licht des Tages, zwischen mir und dem Wasser ist nur die silbrige Luft, das Holz aus den Bergen und das Leder der Veroneser Schuhe in den Farben der Region. Dann wieder Luft und Wolken und ein Streifen für jene, die vielleicht herunterschauen können, wenn sie einen Fensterplatz, einen Flugschein, einen Auftrag und einen Moment der Achtsamkeit haben, bevor sie den ipod weiterschuffeln und sich wieder dem Filmprogramm zuwenden. Gibt es das überhaupt noch? Es ist lang, lang her, dass ich das letzte Mal geflogen bin. Das nachletzte Mal war es der verhinderte Versuch, nach London zu kommen.





Natürlich reicht in so einer sacht dahinfliessenden Welt schon wenig, damit alles durcheinander kommt. Oft sitzt man am See, nimmt einen Stein in die Hand und

denkt darüber nach, ob man ihn werfen soll. Alles hat sich so gefügt, wie es ist; wirft man ihn, wird es vielleicht Jahrhunderte dauern, bis er wieder an den Strand gelangt, oder aber er wird zu Sand zerrieben. Für das Schicksal ist man selbst nur so ein Stein. Und dann legt man ihn wieder hin. Andere sehen das natürlich ganz anders, und so wird getan und getrampelt und alles in der Annahme, dass es schon irgendwie geht, weil es schon immer gegangen ist. Und wenn es dann doch nicht geht, maulen sie auch noch rum, dass man eigentlich ganz gern wieder ruhig und angenehm weiter machen möchte, ohne sie natürlich. Das sah man beim 29C3, aber das war auch bei mir teilweise so. Man muss immer, das ist der Preis des ruhigen Fliessens, überlegen, wie man den Ausgleich bewahrt. Und wer das eine will und das andere und nimmt, was er kriegen kann, ohne Rücksicht und am besten auch noch im Gefühl, dazu ein Recht zu haben, für den gibt es irgendwann keinen Zugang mehr.





So ist das, unten am Wasser. Oh, ich habe natürlich nichts dagegen, wenn andere ihr Dasein anders gestalten, ich bin auch für die Freiheit und Selbstverwirklichung aller, und ohne jde Frage ist es auch manchmal fad am See, so dass man vielleicht dessen Wert ein wenig falsch einschätzt. Das liegt aber nicht am See, sondern am Bestreben, mehr zu haben. Mehr Reisen und mehr Platz und mehr Leute, die man rumscheuchen kann und Titel und ach ja, so ein See in den Bergen, der erzählt doch nur von den Grenzen, von der Mühsal, von der Bedeutungslosigkeit der Menschen und der Unerbittlichkeit der Gletscher, die irgendwann wieder alles wegräumen werden, und dann fängt es von vorne an. Ohne mich natürlich, aber auch ohne all die anderen.

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