Der grüne Bus

Im Westviertel, das eigentlich zwei Viertel ist, das zwischen Altstadt und Donau liegende Tennisviertel mit seinen ausladenden Sandplätzen, und das hinter einem kleinen Landschaftsschutzgebiet liegende Seeviertel, von dem man aus den einzig nennenswerten See der Provinzstadt in fünf Minuten erreicht, gibt es als auch menschlich trennendes Element den Glascontainer. Dass es nicht zum Besten steht, zwischen den beiden Vierteln, erkennt man bei den in letzter Zeit gar nicht so seltenen Beerdigungen. Während die jeweiligen Teilviertel geschlossen kommen, verirren sich von den anderen Seiten nur vereinzelte Bekannte zu diesen Anlässen, die der Wirtschaftswundergeneration indezent und nachhaltig das Thema "Endlichkeit" nahebringen.

Verbindend sind wie eh und je die Kinder, die vom Seeviertel mit ihren Fahrrädern Richtung der Gymnasien ausschwäremn, niemals jedoch Realschulen, wer das nötig hätte, wäre sehr schnell nach alter Sitte in der Schweiz oder am Bodensse, und diese Kinder treffen nach dem Grün der Felder un Sumpfwiesen auf Altergenossen aus dem Tennisviertel, verlieben sich, gehen miteinander ins Bett, manchmal heiraten sie und mitunter werfen sie sich in Winternächten nach Gelagen aus dem Auto, wo die anderen dann vor dem Tor zu gepflegten Gärten, vom Drittwagen auf der Strasse vor den Blicken der Passanten verborgen, erfrieren. Aber jetzt ist Sommer, Mai, es ist heiss, da sind solche Gedanken fern, und aus den Gärten erklappern die grossen Tische, an denen fürsorgliche Mütter Eistee, Bionade und Muffins bereithalten, in der Hoffnung, dass der Nachwuchs dadurch das Gastgeben auch ohne Benimmschule lernt.



Und noch etwas bringt zusammen. Zwischen den beiden Vierteln liegt ein Feld, das im Sommer zu einer Erdbeerplantage verwandelt wird, und sich naturgemäss im gesamten Viertel grösster und ungeteilter Beliebtheit erfreut. Noch preschen S-Klasse und Boxter achtlos daran vorbei, nur weisse Blüten verraten die kommenden Genüsse, und ein alter Schulbus, an dessen vorderer Tür der Fahrer sitzt, im Schatten, denn es ist heiss. Da sitzt er den ganzen Tag und trinkt. Und schaut hinaus auf das Erdbeerfeld, wo wachstumsförderndes Stroh aufgetragen wird. Dem Kennzeichen zufolge kommt der Bus aus einem ostlichen bayerischen Landkreis, und wenn der Abend hereinbricht, wird er seine Fracht wieder aufnehmen, und nach Osten bringen. Vielleicht nach Tschechien oder Ungarn, vielleicht auch nur bis zu einer billigen Unterkunft, weil morgen der nächste Arbeitstag ansteht und die Gefahrenen nicht mal eben auf einen Abend nach Hause können, Weissrussland, Rumänien, Polen, wer kann das schon sagen. Es sind vor allem Frauen, die hier die Erdbeeren der besseren Leute pflegen, vielleicht sind die Männer irgendwo auf dem Bau der Boomregion, niemand fragt, sie sind einfach da mit dem grünen Bus und dem gelangweilten Busfahrer. Bald werden sie verschwunden sein, und nichts erinnert an ihre rote, von der Sonne aufgeheizte Haut. Aber noch gehen sie durch die Reihen, mitunter schwatzend, der Wind trägt ein paar fremde Wortfetzen herüber, und bereiten das Feld.



Wenn sie weg sind, stellt der Bauer einen hohen Zaun auf, ein Toilettenhäuschen für die, die nicht das Glück haben, im richtigen Viertel zu wohnen, und eine Waage. Dann werden die Kinder nach der Schule kommen und eimerweise Erdbeeren pflücken; sie haben freundlicherweise Zeit, denn die drückende Hitze schneidet die vielen Nachmittagsstunden des achtstufigen Gymnasiums ab, wegen dem auch in den besseren Vierteln die CSU diesmal eine Klatsche bekommen wird. Sie werden Erdbeeren essen, zum schwimmen über Wiesen fahren, auf denen aufgeschreckt Rebhuhn und Fasan ihre Wege überflattern, und denken, dass das Leben so ist, denn sie kennen niemand, der in Blocks wohnt, das gibt es hier nicht. All ihre dummen, lebensunerfahrenen Sprüche über geordnete Verhältnisse werden rein und unschuldig sein, man kann hier gar nicht anders, weil man es nicht anders kennt, und der grüne Bus ist dann sicher schon woanders, seine Fracht pflückt dann Himbeeren, sortiert Kartoffeln oder dreht im Akkord Gänsen den Hals um, die in unseren Retrozeiten längst wieder ein Stück Kulturgut der Ernährung besserer Familien sind, wenn sich das Jahr dem Ende entgegen neigt, die teuren Fahrräder im Keller verschwinden und Mama Wert darauf legt, die Kinder mit dem Auto zur Schule zu bringen, damit nichts passiert.

Den passenden Komplementärtext zum Thema Übersehen liefert Matt Wagner.

Freitag, 30. Mai 2008, 12:26, von donalphons | |comment

 
Toller Text. Er wäre guter Lesestoff für die vielen Leute aus "besseren Verhältnissen", die ich Tag für Tag treffe. Ich wette, sie würden sich aber trotzdem niemals von der Meinung abbringen lassen, dass alle, denen es schlechter geht als ihnen, natürlich selbst daran schuld sind.

... link  

 
Nun, er ist eine kleine Spielerei für einen grösseren Text im Rahmen einer literarischen Seance in genau diesen Zirkeln, und ich bin gespannt, wie er da ankommt. Finally, nach drei Jahren, gefällt es denen, mich auch als Literaten und nicht nur als möglichen Geschiedenenbeglücker zu betrachten.

... link  

 
Da bin ich auch mal gespannt, wie er aufgenommen wird - und ob man ihn dort versteht bzw. verstehen will.

... link  

 
Kommt darauf an. Den Teil mit dem erfrorenen Jungen lasse ich sicher raus, denn die Organsiatorin war eine Nachbarin und Jugendfreundin von ihm. Es ist nicht so, dass die leute nicht wissen, wo sie stehen, und die Klassenunterschiede sind bei uns nicht im Sinne von Dünkel oder Verachtung einzementiert. Nur bin ich halt auch dort draussen aufgewachsen, und es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass Armut nichts ist, was es nur in Afrika gibt. Sozialprobleme sind in der reichen bayerischen Provinz immer noch was anderes, als in Berlin, Neapel oder Bukarest.

Andererseits kennen die mich ja inzwischen ein wenig. Es kommt immer darauf an, wie die Torte gebacken ist, in der man das Gift verabreicht. Und dann sind da noch diejenigen, die das nicht erkennen, weil sie es nicht erkennen wollen.

... link  


... comment