Der alte Mann im Keller

Viel schlechtes Volk fuhr heute nach München, und ein besserer Sohn. Viel schlechtes Volk war vor Bildschirmen, aber ich fuhr an der Isar entlang, in ein Villenviertel auf dem Hochufer. Viel schlechtes Volk erlebte eine Niederlage, und ich ging zum Lachen in den Keller.



Aber gar nicht mal wegen all der lederbehosten Verlierer, die jetzt dumm aussehen, sondern weil im Keller etwas gefunden wurde. 35 Kilo parischer Marmor, der den neuen Bewohnern nicht gefallen hat, weil er in Form eines alten Zausels zubehauen war, mit Falten, eingefallenen Augen und wirren Haaren, und einer Hakennase. Diese 35 Kilo wollten sie also los werden, und setzten sie bei Ebay hinein. Kellerfund. Alt, möglicherweise, stand schon länger rum. Es war, wie es sich zeigen sollte, ein Pseudoseneca aus französischer Produktion, denn der Name steht mit Accent auf der Büste. Im ersten Moment dachte ich, es sie vielleicht doch Alabaster, aber dann schimmerten die Kristalle im Abendlicht: Marmor, gemeisselt, um 1800 bis 1900, würde ich sagen. Errstklassige Arbeit, nur an unsichtbaren Stellen nicht poliert, wo man dann auch erkennt, dass es echter Stein ist. Ab ins Auto damit.



Die Datierung ist relativ einfach, weil die Basis und die Grösse und der spezielle Typ typisch für das 19. Jahrhundert sind; davor kamen die Repliken vor allem aus Italien und orientierten sich an dem Bronzeexemplar, das in Neapel aufbewahrt wird. Die Zuschreibung der oft gefundenen Büste an Seneca - es muss ein Prominenter dieser Zeit gewesen sein - war willkürlich und ein Musterbeispiel für Fehlinterpretationen eines Gesichtsausdrucks, das hier die Stoa vorstellen sollte, und die Ablehnung des neronischen Prunks. Vermutlich jedoch handelt es sich um ein idealisiertes Bildnis des Lyrikers Hesiod, denn von Seneca fand man 1813 ein zeitgenössisches Bildnis - und er sah ganz anders aus. Fett statt eingefallen. es dauerte ein paar Jahrzehnte, bis man allgemein einsah, hier nicht Seneca vor sich zu haben. Danach war man mit falschen Aufschriften eher etwas vorsichtig, zumal in jenen gebildeten Kreisen, die sich dergleichen leisten konnten. Neue Gipsabgüsse in dieser Grösse kosten schon über 500 Euro, man kann sich überlegen, was eine exakte Marmorkopie damals kostete. Heute, und ich spreche da aus leidvoller Erfahrung, ist man bei Auktionen schnell mit den Kosten eines leicht gebrauchten Kleinwagens dabei. Ohne Aufgeld. Ich schaue immer. Ich biete auch mit. Meistens sprengt schon der Einstiegspreis der schriftlichen Gebote meine Möglichkeiten. Aber diesmal nicht. Höhö.

Nun ist der Pseudoseneca also bei mir. Es ist mit ihm, wie mit den von mir ebenfalls gesuchten Bildnissen von Kardinälen und Jesuiten: Schön sind sie alle nicht. Aber gerade das macht sie so interessant.

Sonntag, 23. Mai 2010, 01:56, von donalphons | |comment

 
mich hätte der alte zausel auch begeistert. sollten sie ihn mal über haben, bei mir ist ein warmes plätzchen für ihn bereit. gratulation!

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Man muss vielleicht dazu sagen, dass es sich bei den "wirren Haaren" um eine kunstvolle Luxusfrisur der Zeit handelt.

Er wird mir nicht über, aber ich kann in meinem Testament eine entsprechende Verfügung einbauen.

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Lieber Hesiod,
da haben Sie aber noch einmal Glück gehabt. Während der Pöbel im blau-rot leuchtenden Circus seinem jew. Vordermann in den Kragen vomierte, hat Ihr Retter auf sein allabendliches Spinettspiel verzichtet, um Sie in seinem klapprigen Vehikel (zusammengeschustert in Senecas Heimat) in Sicherheit zu bringen.

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Hesiod findet alles besser als den Keller, aber man mjuss ich nicht gleich am Anfang verwöhnen, sonst wird er wie meine Katze.

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Stoiker oder nicht, es herrscht Anschnallpflicht.
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Brauchen Sie vielleicht noch eine Richard-Wagner-Büste (Gips, ca. 1940, wasserlöslich, leichte Witterungsschäden auf dem Geniescheitel)?

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I ch habe ihm sogar eine Roadsterbrille aufgesetzt. Wagnewr, ich weiss nicht, das ist eher Sondermülldeponie, ich nehme nur antike Kriegsverbrecher, wenn überhaupt.

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