: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Donnerstag, 2. Oktober 2008

Real Life 1.10.08 - Ausnahmezustand

Gleich hinter der Ausfahrt steht eine Polizeikontrolle, dahinter noch zwei dunkle BMW, die der Steuerfahndung gehören könnten. Sie bestätigen, was du in den letzten Tagen gerüchteweise gehört hast: Dass sie jetzt kontrollieren, dass der Weg über den Achenpass Richtung der Volksbanken in Innsbruck oder weiter in die Schweiz nicht mehr sicher ist, dass man nicht mehr als 10.000 Euro dabei haben sollte. Für Anwohner ist es nicht so schlimm, da führt man eben zehn mal mit der Frau zum Einkaufen in den M-Preis nach Scholastika, aber Müncher, hörst du, machen schnell mal den Fehler und glauben, dass die alte Silberroute hinunter nach Schwaz sicherer sei als die Autobahn oder der Zirler Berg. Der aktuelle Tipp, der in der Region verbreitet wird, ist eine Notration in einem Schliessfach hinter der Grenze in Schweizer Franken. Die Alpenländer sind für Vermögende das geworden, was Irland gerade für die Briten wird: Ein scheinbar sicherer Hafen, während die Flucht daheim die Banken knirschen lässt. Ein Rat, den Iris zu geben in der aktuellen Lage vielleicht nicht so klug ist. Iris will nichts mehr davon wissen. Mit dem, was ihre Eltern in den letzten Wochen verloren haben, hätten sie sich zwei Wohnungen am Tegernsee kaufen können. Du solltest nicht fragen, und du darfst auch nicht empfehlen, denn der Vermögensberater, der dafür verantwortlich ist, kennt mittlerweile den Anwalt von Iris Herrn Papa. Du kennst inzwischen mehr Lehman-Geschädigte, als du je für möglich gehalten hättest.

In der amerikanischen Vogue war ein Beitrag, der den Leserinnen empfahl, den Kleiderschrank zu durchsuchen nach Stücken, die man immer noch tragen kann, und gerade Stücke aus den späten 90ern kommen jetzt wieder in Mode. Mit Gürteln. Zum enger schnallen. Dummerweise habe ich nach der Scheidung praktisch alles in die Altkleidersammlung gesteckt, bedauert Iris und nippt am Milchkaffee. Der Kostenvoranschlag für die Reparatur am Wagen liegt bei 6000 Euro, mehr als er noch wert ist. Findest du, dass Frauen unattraktiv werden, wenn sie nichts mehr haben?



Nebenan sitzen eine Hintergetackerte und eine Aufgespritzte ind Unnaturblond, die offenkundig keine Sorgen haben, und unterhalten sich über die unerträglichen Eigenschaften ihrer Gatten, die diese Herrschaften glücklicherweise mit ins Grab genommen haben.

Relativ ganz sicher nicht, antwortest du mit einem Seitenblick, und Iris versteht, was du meinst. Und absolut in deinem Fall: Auch nicht. Die Familie deiner Mutter hat doch immer nur Frauen hervorgebracht, die in jedem Alter höchst vorzeigbar waren. Es gibt aber einen gewissen Typus Frau - oder Mann, ganz egal - der nur funktioniert, wenn Geld da ist. Das sind die, die Geld am Laufen hält, die alles auf Geld beziehen und deren Charakter geldgebunden ist. Ich würde mir an deiner Stelle keine Sorgen machen, Interesse an Kultur, Belesenheit und die Fähigkeit zum angemessenen Smalltalk werden auch in Zukunft Mittelständler und zweitklassige CSUler auf den gedanken kommen lassen, dass du endlich wieder heiraten solltest. Allein der Name, die Geschichte hat schon einen Wert. Das ist heute auch nicht anders als vor 250 Jahren in Frankreich.

Und bevor Iris Zeit hat, die potenzielle Unverschämtheit dieser Aussage zu erkennen, schiebst du nach, dass Attraktivität, du meinst, bitte, sie möchte sich doch nur mal einen Moment von ihrer Perspektive lösen und sich anschauen, wie sie im Abendlicht am See auf den Stuhl hingegossen ist, natürliche Grazie und Anmut sei nicht zu kaufen, und überhaupt, bis zur Versorgungsehe sei es noch ein sehr weiter Weg.



Ihr geht am Strand Richtung Mangfall, und Iris macht sich Gedanken über diese Generation, die immer noch so aussieht, so aussehen könnte, als würde sie in geordneten Verhältnissen leben wollen, als müsste sie nur wieder Rüschenkleider tragen und Zylinder, und schon würde die Prinzregentenzeit auferstehen, diese besseren Töchter, deren Finger nach Musik von Brahms und Mahler verlangten, vielleicht auch einen Kururlaub an einem Zauberberg und ein Tod in Schönheit unter 40, aber am Ende bleibt es beim Botox und Wellnesswochenende, einem Konzertbesuch und einer biederen Äusserlichkeit, die vollkommen unfähig ist, sich mit langfristigen Strukturen wie Familie und Ehe zu arrangieren. Die dunklen BMW haben ihren Standort verändert und lauern jetzt hinter der Brücke auf unvorsichtige Geldkuriere, die Sonne geht in gleissender Pracht unter, und es wird sehr schnell kalt am See. Bitterkalt.

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