Verrecken in der Heimat

Und als die Kundin vor mir kundgetan hatte, dass ihr diese Stadt hier gefällt und sie das gerade erst entdeckt hat, weil sie ja aus Dachau kommt, mithin eine Fremde ist, da erhob meine Rosinenfladenverkäuferin die Stimme und sagte anerkennd:
Jo varegg. Aus Dachau! (Zu hochdeutsch: Ja verrecke! Aus Dachau!

Ich sagte nichts dazu, denn sie meinte es durchaus anerkennden. So wie der Hund, der Bazi, der Hodalump auch im Kontext mit "vareggd" eine positive Bestätigung sein kann. Und dene vereggdn Rosinaflodn, will sagen, den vorzüglichen Rosinenfladen tut das natürlich keinen Abbruch.



Dann entschwinden die Regenwolken, das Wetter wird schön, so schön, wie es nur eben sein kann, wenn sich die Sonne nach langen, trüben Tagen wieder Bahn bricht. Es gilt, die Dachterrasse zu besteigen, den Damast aus dem Schubladen zu holen und etwas Alfred Kerr zu lesen, bevor die Arbeit an den Fenstern ruft. Und was lese ich da, von einem, der es wissen muss?

"die Kaltblüter-Brutalität mancher Berliner Dirne" - über die besseren Töchter der Stadt
"deutsche Zeitungsesel" - was würde Kerr erst zu Spiegel Online sagen?
"die Spreestadt - auch sie ein deutscher Irrtum" - dem habe ich aus Voritalien nur nickend beizupflichten.

Seltsam. Ich habe Kerr gelesen, als ich zum Aufbau ging, um mich in das Blatt einzufühlen, und habe mich an ihm schnell wundgelesen. Ich mochte seinen Stil nicht besonders, zu expressionistisch, zu sehr dem Jugendstil und dem Schwämen verhaftet, und all die Ausrufezeichen. Jetzt, 10 Jahre später, gefällt er mir besser, so gut sogar, dass ich ihn als leichte Lektüre auf der D achterasse haben kann. Aber

"Ins Gesicht spucken. Öffentlich. Jeder der will. Ins Gesicht spucken. Öffentlich. Jeder der will."

Das ist wirklich gross. Kerr schreibt sehr knapp, könnte sogar twittern, und es hätte die Qualität, die dem dortselbst dokumentierten Clusterfucking der Hasimausibärlies abgeht.

Mittwoch, 18. Juni 2008, 20:27, von donalphons | |comment

 
Es gibt ein bestimmtes Traditionsgefolge des 20er-Jahre Literatur-Expressionismus, mit denen ich wenig anfangen kann, z.B. die Ekel zelebrierenden Schriften der Jelinek.

Aber!

Fernab affektierter Irrtümer schätze ich ein paar damals erfundene Dinge, zum Beispiel bestimmte Ausdrucksformen, einige den Ausdruck fördernde Satzzeichen-Besonderheiten (!) und auch der Mut zur Unmittelbarkeit.

(je älter ich werde: umso mehr)

Wenn diese expressionistischen Formen auf sprachliche Schönheit treffen und sich ungespreizt ausdrücken (ähem: anders als ich), beispielsweise bei Mascha Kaléko, dann liebe ich es sogar, zumal dann, wenn es mit der sozialen Moderne verbunden ist.

Könnte man nicht vielleicht, mit Hilfe der Gentechnik und anderer Verfahren, einige Köpfe der 20er Jahre wiederbeleben? Auf meiner short list ständen dann unter anderem: Kaléko, Tucholsky, Einstein, dazu noch einige Köpfe aus der Weltbühne, viele, viele andere, hach!, und einen Max Weber könnte man bei der Gelegenheit vielleicht auch wiederbeleben, sprachlich aktualisiert, damit er z.B. einen HW Sinn und derlei Unfug weghustet.

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Kerr, man kann es nicht anders sagen, schreibt ein Blog. Komplett ichbezogen und subjektiv, privat, irrelevant. Vielleicht war es genau dieser Ansatz, der mich befremdete, wenngleich auch Tucholsky mit der Ichperspektive nicht spart - aber dort sind sie Texte elegant komponiert, Ossietzky soll ihn desöfteren zusammengestaucht haben, weil er "ausgelaufen" sei.

oder habe ich mich verändert? Früher fand ich das formale Korsett eines Beitrags wichtig, heute habe ich gelernt, dass anderes entscheidend ist; man muss seinen Weg finden, zuerst zu sich selbst und dann zum Leser. Eine Qualität, von der ich früher nicht wusste, dass sie existiert.

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Karl Kraus ist auch so ein klassischer Blogger, finde ich. Schreiben nach dem Lustprinzip: Kraftvolle und sehr subjektive Texte. Wobei ich ja finde, dass erst dieses Wechselspiel aus Objektivität und Subjektivität den ganzen Reiz entfalten lässt, also die Fähigkeit, beides zu können - und sogar zu verbinden.

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da sind die namen der literarischen todfeinde ja genannt.

wenn kerr ein blogger vor der zeit war - das war der alte feuilleton-stil des causeurs, wie schon gesagt wurde, sehr subjektiv, aber eben auch sehr schön geschrieben und sehr schön zu lesen - was war dann erst kraus.

kraus wollte etwas bewirken. die sprachliche meisterschaft war ihm mittel zum zweck: er führte einen kampf gegen die verlogenheit seiner zeitgenossen, für diese verlogenheit war ihm das pressewesen seiner zeit symptomatisch.

und beide waren sich gründlich verhasst.

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"Früher fand ich das formale Korsett eines Beitrags wichtig, heute habe ich gelernt, dass anderes entscheidend ist; man muss seinen Weg finden, zuerst zu sich selbst und dann zum Leser."

richtig gut ist es erst, wenn man beides kann. aber es ist schonmal sehr wunderbar, wenn man überhaupt darüber nachdenkt, also wenn es einen verwirrt. darüber freue ich mich jetzt mal, wenn ich darf! :) (sowas klingt ja immer etwas arrogant, so ist es aber nicht gemeint!)

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Man kann auch der akademischen Frage nachgehen, wer es von den beiden nun schlechter getroffen hat. Der seine Dichteruntaten für den 1. Weltkrieg später bitter reuende Kerr, oder der am Ende seines Lebens den klerikal-faschistischen Ständestaat verteidigende Kraus.

Zurück bleibt viel gegenseitiges Hornochsentum angesichts dessen, was später kam.

Gänzlich unerträglich und hoffentlich bald nur noch anämischen Literaturwissenschaftlern ein Begriff: Elias Canailletti.

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Nunja: Karl Kraus empfand - meines Wissens - keine besondere Liebe gegenüber dem faschistischen Ständestaat der Austrofaschisten, aber er sah ihn - angewidert - eventuell als letzen Schutzwall gegen das Schlimmere, das Österreich drohte.

So Unrecht hatte er damit nicht.

"Versuchsstation des Weltuntergangs" nannte er das von Faschisten verseuchte Wien. Woher kommt eigentlich das in Literaturkreisen beliebte Gerücht, Karl Kraus sei ein Anhänger des Austrofaschismus gewesen? Schreibt da ein Depp vom anderen ab?

Kraus schrieb Anfang 1934, veröffentlicht im Juli 1934, und zwar in Reaktion auf Faschismus und Naziherrschaft:
Da der Herausgeber der Fackel (...) nun einmal, für das Sie hauptsächlich interessierende Thema, den Vorsatz ausgesprochen hat, stumm zu bleiben und auch nicht "warum" zu sagen; da aus diesem Grunde noch mehr gefragt wird und mithin vielleicht doch ein Hindernis im Weg stände, wenn er tun wollte, was ihm beliebt, nämlich zu den kleinen Themen im Gebiete des Geisteslebens übergehen; da es ihm schwer fällt, die unterbrochene Verbindung mit den Interessen der Sprache, der Kunst, der Menschheit höhern Ranges ohne ein vermittlendes Wort aufzunehmen, so schwer, wie ein solches zu sprechen, womit er eben keinen innern Gebot gehorchte gleich jenem, das die Verrmeidung des eigentlichen Themas auf die Dauer seiner Aktualität erwzungen hat; da - aber der Satz würde so lang wie diese, während der Anfang einer begehrteren und gleich in medias res gehenden Abhandlung kurz gelautet hätte: "Mir fällt zu Hilter nichts ein".
Mit diesem Satz hat Karl Kraus begründet, warum von nun an die Fackel nicht mehr erscheint.

Er setzt dann erläuternd fort - und leitet dies mit den Worten von Notstand und Entmutigung ein:
(...)Um diese wahrhaft geistesgeschichliche Neuerung, um das Ereignis, dass die Faust aufs Auge passt, hätte sich alle Betrachtung gruppiert.
Karl Kraus fragt seine Leser, ob sie verstehen, dass die "Erschütterung vor dem Unsäglichen den Verzicht erzwingen kann, es zu sagen?" und schreibt anschließend ausführlich, warum er der Sozialdemokratie nicht mehr zutraut gegen "die zwei Faschismen" (also: auch Austrofaschismus) zu kämpfen. Für Karl Kraus war zu diesem Zeitpunkt die Demokratie und jede zivilisatorische Grundlage untergegangen, die er für ein Weiterschreiben benötigt hat.

Freund des Austrofaschismus war Karl Kraus nicht. Als dieser 1934 das rote Wien überrannte, stellte Karl Kraus seine Fackel ein. Vor dem Hintergrund der kommenden geschichtlichen Entwicklung, die Karl Kraus als unaufhaltsam ansah, spottete er über die geschichtslose Vorstellungslosigkeit mancher seiner Leser, die weiter die Fackel lesen wollten:
Doch was schiert es draufgängerische Leser, die, solange sie unbetroffen bleiben, mit dem angebornen oder erworbenen Mangel an Vorstellung für alles polemische Bedürfnis auszukommmen, indem sie, was geschehen ist, zwar wissen, aber nicht sehen, und was sie nicht erleben, wenigstens lesen möchten.
Karl Kraus wollte nicht der Polemiklieferant für einen bereits verlorenen Kampf sein. Er sagte, das man der "deutschen Katastrophe" unter keinen Umständen entgehen könne.

Don, eine Verteidigung des "klerikal-faschistischen Ständestaats" sieht anders aus. Karl Kraus sagte dann, mit seinen "Die letzten Tagen der Menschheit" (von 1922) habe er leider Recht behalten (Hinweis für mich: dort vermöbelt er den wirtschaftsliberalen Publizisten Moriz Benedikt so vorbildlich, dass man es neu beleben sollte), die allgemeine Ignoranz gegenüber den Schrecken und Gefahren des Krieges ist zu groß. Seinen Verehrern, die sein Verstummen als Mutlosigkeit auslegen, bezeichnet er als:
Wanzen, die richtig vermuten, dass wegen größerer Gefahr nicht Licht gemacht wird. (.....) Können sie vorstellungsmäßig ermessen, dass wenn der Satan an dessen Greuelfähigkeit sie doch nicht zweifeln, eben deren Konsequenz betätigt, für polemische Taten, deren Nutzen nicht beweisbar wäre, um des Verdachtes der bloßen Anhängerschaft willen Menschenopfer fallen?
Dazu passt:
Hie Waffe, hie Worte: mit diesem schlichtsatirischen Hihi könnten wir uns eigentlich nach Hause schicken lassen.
Wenn das Wort nichts mehr auszurichten vermag, dann ist es Zeit zu schweigen.

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"Als dieser 1934 das rote Wien überrannte, stellte Karl Kraus seine Fackel ein."

Wenn ich mich recht entsinne, blieb ihm wohl gar nichts anderes übrig, mangels Geld und Kundschaft. Und natürlich haben ihm viele nach seinem - für seine eigenen moralischen Postulate - Verrat den Rücken gekehrt. Von Kraus hätte man sich ganz andere Dinge erwartet als diesen Schmusekurs. Es ist nicht irgendwer, der da ein wenig Konzessionen macht. Kraus galt in seiner Zeit als Überläufer, es war keine gute Zeit und man kann vieles auch verstehen, aber konsequent sein ist was anderes.

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Wo denn "Schmusekurs"??

Was schrieb er denn noch nach der 12. Februar 1934, der für Karl Kraus eine Zäsur bedeutete? Im Juli 1934 schrieb er erneut, dass er den "Wettlauf der Polemik mit der Zeit" aufgegeben hat. Danach schrieb er praktisch nichts mehr, außer ein paar wenige Zeilen zu Shakespeare und Offenbach. Im Mai 1935 findet sich eine kurze, enorm selten gewordene politische Bemerkung darunter:
Dass wir endlich keine Diplomaten mehr sind und dass Versammlungen nicht abgehalten werden können, ist eine schöne Neuerung. Leider nur dürften auch die heiteren Episoden, die sich abspielen, zu Tragödien werden, die vielen Männern des Volkes das Leben kosten.
Wenn das eine Befürwortung des Dollfuß-Regimes war, dann fiel diese sehr ironisch und reichlich trübsinnig aus. Sein allerletzter Text aus dem Februar 1936 "Wichtiges von Wichten (in verständlicher Sprache)" wiederholt seinen Standpunkt von Anfang 1934 und sagt seinen Verehrern, die sich von ihm Widerworte gegen den Faschismus wünschen:
Ja, dass einem gar nichts einfallen oder zum Ausdruck reifen könnte, woran der allgemeine Todfeind Freude hätte.
In seinem letzten Text warnt er vor der Macht:
die die österreichischen Dinge mit denen des Dritten Reiches gleichschaltet.
Mit anderen Worten: Der Faschismus, auch inkl. Austrofaschismus ist für Karl Kraus nach wie vor der "Todfeind", aber er meinte eben, dass ebendieser Todfeind offene Opposition zum eigenen Vergnügen missbrauchen würde. Er spottet darüber, wie man den Klerikalfaschismus von Dollfuß für gefährlicher halten kann als Hitler - und erneut nimmt Karl Kraus, der hier auf die Vorwürfe antwortet, dass er mit seiner Haltung zu Dollfuß "Verrat in der Sache" betreibe, Bezug auf sein Juliheft 1934.

Das heißt: Auch 1936 vertritt er genau die gleiche Position. Im Kern antifaschistisch, deutlicher und hellsichtiger als der Antifaschismus der Wiener Sozialdemokraten, aber worum es Karl Kraus nur noch geht: das ist die Schonung von Menschenleben, nach Möglichkeit, die Verzögerung des Hitler-Faschismus. Eindringlich und meiner Meinung nach garnicht fehlinterpretierbar schreibt Karl Kraus dann:
Wäre denn ein Jota - oder Komma! - eines Lebenswerkes umgestoßen, Rechtfertigung vor der Instanz der Dummheit erforderlich, wenn der Autor der "Letzten Tage der Menschheit" sogar eine unhaltbar gewesene Monarchie als Befreiung von einer unhaltbar gewordenen Republik empfände und vor allem - wäre sie´s nur! - als Rettung vor dem entsetzlichsten Verhängnis, das jemals über der Menschheit gelastet hat?
Danach schweigt Karl Kraus für immer.

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müsste man, statt alles an der persönlichkeit von kraus, seinen stellungnahmen und ausflüchten festzumachen, nicht viel eher darüber nachdenken, was es genau war, das ihn (exemplarisch) von einer dezidierteren oppositionshaltung abgehalten hat? mir scheint, dass - wenn man das annähernd verstehen könnte - man daraus im nachhinein noch intellektuellen gewinn ziehen könnte. für sich selbst. zwar sind heute die zwänge, unter denen man wahlweise arbeitet oder schweigt, andere. aber die verhaltensweisen des journalismus sind doch nicht wesentlich anders. oder? im gegenteil, selbst die kritik wird noch einkassiert. oder man macht sich komplett diskussionsunwürdig, z.b. indem man in deutschland blogt, also eigentlich bloß unterhaltungswert liefert.

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Ich finde, dass man den "politischen Kraus" relativ leicht verstehen kann. Man muss ihn dafür nur lesen.

(Dann sieht man allerdings auch, dass das politische Urteilsvermögen von Kraus nicht unfehlbar ist - und dass er sich durch seinen Sinn für Mäkelei teils zu geradezu dämlichen Urteilen hinreißen lässt.)

Beispiel: Wenige Sätze nach einer Schimpfkanonade gegen Sozialdemokraten, in der er schreibt, wie vergleichsweise großartig doch dieser Dollfuß sei, offenbart Karl Kraus sein Herz, indem er nämlich den Grund genau aufschreibt, warum er auf die Sozialdemokraten so sauer ist: Sie hätten den Widerstand gegen den Austrofaschismus erst gestartet, als es dafür zu spät war.

Für mich liest sich das wie enttäuschte (politische) Liebe zur Sozialdemokratie. Gleichzeitig verabscheut er den sprachhässlichen und unfreiheitlichen Marxixmus-Leninismus der österreichischen Sozialdemokraten und sagt, dass diese mit dieser Ideologie und ihrem kläglichen Kaderwesen die Worte von Freiheit und sozialen Fortschritt bis zur Untauglichkeit entwertet haben.

Das Merkwürdige ist: Man könnte Karl Kraus auch Recht geben - oder seinen Standpunkt für nachvollziehbar halten, auch dort, wo er mit seinen politischen Wertungen irrt.

(Jedenfalls, wenn man ihn sehr genau liest)

Karl Kraus ist in seiner politischen Haltung meiner Meinung nach vor allem als eine Art "freiheitlich-konservativer, sozial progressiver Pazifist" zu lesen. Und insofern verflucht er beispielsweise die österreichischen Sozialdemokraten (Austromarxisten!) dafür, dass sie mit den Februaraufständen einen aussichtslosen Bürgerkrieg gestartet haben, der vielen hundert Menschen das Leben kostete.

Dollfuß lobt er nicht, aber er findet ihn absolut unterstützenswert, weil dieser sich einem größeren Übel entgegen stellt. Nur insofern ist Dollfuß für Karl Kraus ein "Held". Gleichzeitig, wenige Seiten danach, schimpft Karl Kraus über die Demokratie und den Parlamentarismus, weil sie nicht verhindert haben, dass hier so jemand wie Dollfuß (und erst recht: Hitler) entstehen konnte...

@ itha
Wenn du dich fragst "was es genau war, das ihn (...) von einer dezidierteren oppositionshaltung abgehalten hat? ", dann sind es genau seine "Ausflüchte", die er Februar 1934 aufgeschrieben und im Juni 1934 veröffentlicht hat, die darüber eine ziemlich präzise Auskunft geben.

So schreibt er beispielsweise, dass seine Anhänger in Deutschland sich sorglos zeigen, wenn sie die Fackel in einem "geschlossenen Kuvert" zu erhalten wünschen. Karl Kraus wusste genau, wie sehr das Leben seiner deutschen Anhänger bedroht war, und dass ein verschlossenes Kuvert im Jahre 1934 kein verschlossenes Kuvert mehr war.

Er beantwortet die Frage nach dem Warum, er hat es doch ganz genau aufgeschrieben. Er wusste, dass er (und damit - wie tragisch - auch seine Anhänger) ein besonderes Hass-Objekt für die Faschisten war. Er hat geschrieben, dass es nur noch darum gehen kann, Leben zu retten, und - in Sachen Dollfuß - nach Möglichkeit den Zugriff von Hitler auf Österreich und den kommenden Weltkrieg zu verhindern bzw. zu verzögern.

Was ist an seiner Haltung so schwer zu verstehen?

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Ergänzung
Wie weit Karl Kraus in seiner Einschätzung daneben lag, zeigt dieser Artikel schön auf.

Ich sage nicht: Karl Kraus hatte Recht.

Aber ich denke, sein - an einigen erheblichen Stellen falscher - Standpunkt hatte eine gewisse Plausibilität, in der damaligen Lage, vor allem eben die, dass Hitler die deutlich größere Gefahr darstellte. Dass Dollfuß und seine klerikalfaschistischen Nachfolger allerdings sowohl in ihrer Ideologie, als auch in ihrer Methodik, ungeeignet waren, um sich der Naziherrschaft entgegen zu stellen, dass sie dem totalen Nazistaat in Österreich vielfach den Boden bereiteten, und zwar vom ersten Moment ihrer Herrschaft an:

Das hat Karl Kraus übersehen bzw. wollte er nicht sehen - wozu der Katholizismus des Karl Kraus vermutlich beigetragen hat. Umgekehrt kann man dabei aber auch anmerken, dass die österreichischen Sozialdemokraten 1938, also viel zu spät, die Zusammenarbeit mit dem österreichischen Klerikalfaschismus für das Gebot der Stunde hielten.

Mit anderen Worten: 1938 waren die österreichischen Sozialdemokraten in ihrer Haltung ziemlich genau da, wo Karl Kraus schon Ende 1933 war...

An manchen Stellen, auch in der Beschreibung des kommenden Nazismus, war Karl Kraus ausgesprochen hellsichtig. Allein das verdient Respekt, ungeachtet der politischen Irrtümer, denen Karl Kraus unterlag. Mit seiner posthum veröffentlichten "Dritten Walpurgisnacht" lieferte Karl Kraus eine Faschismusanalyse, die sogar noch heute aktuell ist - und Karl Kraus als präzisen Beobachter seiner Zeit ausweist.

Bei anderen Punkten lag Karl Kraus falsch - es war eine Zeit, man bedenke die Situation Österreichs als Mittelmacht, in der es vermutlich nur noch schlechte Alternativen gab. Eine komplett bornierte, verbiesterte und katholisch verdummte bürgerliche Klasse brachte es partout nicht fertig, sich - trotz zahlreicher Angebote - mit den Sozialdemokraten zur Abwehr von Hitler zu verbünden. Allzu erotisch fanden sie ihre Version eines faschistisch-katholizistischen Ständestaats, und ihre durch Putsch errungene Macht wollten sie nicht teilen.

Dass die Dreckschweine in der heutigen ÖVP immer noch positiv Bezug nehmen auf den faschistischen Putschisten Dollfuß, diesen sogar als lobenswerten "Martyrer" und "vorbildlichen Christen" zeichnen, zeigt nichts weniger als die Verkommenheit der Bürgerlichen in Österreich.

Karl Kraus, den sie zur Rechtfertigung ihrer Dollfuß-Schwärmereien heranziehen, hätte auf sie gespuckt. Soviel ist sicher. Und aus guten Gründen.

P.S.

Henriette Haill schrieb in ihrer Dichtung "Februarkämpfer" über die Dollfuß-Faschisten:

Nur keine Milde war ihr Sinn,
auf unserm Blut stand ihr Gewinn,
sie waren nicht bescheiden.
Sie labten sich an unserem Schmerz,
und zielten froh nach unserm Herz
und hängten uns mit Freuden.
Auf Leichen stiegen sie empor,
und öffneten gar weit das Tor
der Not im eigenen Lande.
Und Schlag auf Schlag und Trug auf Trug,
das war ein böser Funkenflug
zum großen Weltenbrande.

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Jaja. Am Ende hat er trotzdem dollgefusst, statt dem zu huldigen, was er anderen als Ideale vorgetragen hat. Was die Ösisozen angeht, war man obskurerweise doch eher den Nazis näher, was dann auch Fraternisierungen zwischen FPÖ und ÖVP angeht. Können wir uns darauf einigen, dass Kraus in eine braune Scheisse gelatscht ist, die nicht jeder zu betreten einsah?

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Sag mal Don, gerade du als Historiker: Warum bist du dir so sicher, dass in der Lage der Ösis ´1933/34 ein Bürgerkrieg gegen Dollfuß die bessere Lösung gewesen wäre? Und: War es nicht etwas sehr dämlich seitens der Ösisozen, dass sie 1934 Dollfuß für die größere Gefahr erklärten als Hitler? Warum bist du dir so komplett sicher, dass man im Jahr 1933/34 den Dollfuß nicht als Schutz vor Hitler auffassen könnte - wie es Karl Kraus eben tat?

Vielleichte hatte Karl Kraus ja doch recht - aus seiner Warte heraus, mit seinem Urteil, dass es damals reinweg nur noch darum gegangen sei, die Nazsi zu verhindern und damit Leben zu retten.

Wenn ich alte Ösi-Sozen-Texte aus dieser Zeit lese, auch die Erklärungen aus dem Exil, diesen elend hochtrabenden Schwurbel voller Müll und Unrat, dann verstehe ich gut, warum allein das schon Distanz schafft. Den Erledigungston des Karl Kraus, den er seit 1931 gegenüber den Ösisozen angestimmt hat, finde ich, trotz eines gewissen Verständnisses - nunja - der Tendenz nach stark verrant bis krankhaft. Es war ja nicht gerade so, das die damaligen "christlich-sozialen" oder die Heimwehr irgendeinen realen Grund zur Zuneigung geboten hätten. Das rote Wien, in dem Karl Kraus lebte, war auch nicht so sehr übel, zumal im Vergleich zur möglichen Alternative.

Aber nun, die Lage im Österreich war sehr unübersichtlich, jedenfalls nach meinem bisherigen historischen Kenntnisstand. In so einer verzwickten politischen Lage: Da kann man auch leicht irren oder von unerwarteten Konstellationen überrascht werden. Auch ein Karl Kraus, und auch, wie ich finde, ohne ihm daraus einen Vorwurf zu stricken.

Zum Beispiel: Dieser von Karl Kraus als potenter Hitler-Verhinderer gelobte Dollfuß war 1934 ziemlich nah dran, seine durch Putsch erworbene Macht den Nazis zu schenken, ja, wenn er nicht von Mussolini dabei gestoppt worden wäre...

Nur: Konnte man das wissen?

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Tucholsky
Immer und immer wieder seit Jahr und Tag mag ich darauf verweisen: Es gibt keinen Neuschnee

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