Die Wahrheit

Der Park gehört allen. Den russischen Pennern, die ein Dutzend leere Bierflaschen im Kreis um sich herum aufstellen, dem Dealer an der Telefonzelle, der Patchwork-Familie mit Sonnenzelt und Digicam, die Bratwixe von Meika grillt, dem wackligen Psycho auf der Bank, der alle anstarrtt, sonstigen typischen Berlinern - und mir.

Die soziale Revolution wird kommen, grölt ein an die Mauer geklatschter Lenin. Wahrheit an die Wand, steht drunter. Die Wahrheit ist: Die soziale Revolution wird nie kommen, dafür ist die asoziale Revolte längst im Gang. Nicht mehr ein Staat für alle, sondern ein schmutziger, zugesprayter Park für den Plebs bis zu denen, die aus der Mittelschicht in die Niederungen der Cappuccino-Jobber gestürzt sind, Spiessergärten für die Spiesser und Vorstädte für die Reichen. Jedem das, wo er sich wohlfühlt. Wo ich hinschaue, Penner oder Fondverwalter: Glückliche Gesichter. Ich bin ein Wanderer zwischen diesen Welten; ich habe bei der Fahrt den Beschluss gefasst, mal wieder einen Empfang zu schwänzen, statt dessen zu knipsen und bin hier gut angezogen unter Hyänen. *

Ich photographiere den Tümpel, das Cafe und Schmierereien in der Dämmerung, und verlasse den Park. Kurz vor der Strasse sitzt immer noch der Psycho auf der Bank. Als ich vorbeigehe, steht er auf und kommt mir nach. Er ist nur ein paar Schritte hinter mir, und lallt undeutlich mit Berliner Akzent: He Du, wat machste mit der Kamera Bilder von mir oder wat det jeht nich gib mir det Ding...

Ich drehe mich um. Ich bin jetzt seit beinahe 2 Wochen wieder in diesem Slum. Ich habe Gewissensbisse bei jeder Bewerbung, die ich ablehne, ich habe so viel Dreck gesehen, soviel Müll und Kaputtheit zwischen den runtergekommenen Strassenzügen und den 13. Stockwerken der Ministerialbürokratie, ich habe einen Moloch gesehen, wo Opfer sein nur bedeutet, dass der eigene Betrug nicht funktioniert hat, ich bin angelogen, angeschleimt und angedisst worden, und ich habe die Schnauze voll von einem System, wo jeder meint, er braucht bloss kommen und nehmen, und schon bricht für ihn das Goldene Zeitalter an. Mein ganzer Hass auf 68er Eiterbeulen im Judentumanmassungsrausch, Mittepinscher, Linkesockenlöcher, Neoliberalfaschos, Kotzbrocken in den Einfahrten und in Anzügen, Hundescheisse auf dem Gehweg und in Hirnen, ich habe es so satt, das alles liegt in meinem Blick.

Ich sage nichts. Es ist vielleicht nur eine Folge des Systems, in dem wir leben, es ist eine logische Konsequenz, dann soll es eben so sein. Ich schaue ihm nur in seine mickigen, wasserblauen Augen, und er begreift, dass ich einen halben Kopf grösser und 10 Jahre jünger bin und meinen gut geschnittenen Anzug ausfülle. Wir stehen uns gegenüber. Er müsste nur seine Hand ausstrecken...

Er dreht sich weg, grummelt etwas und geht zurück auf seine Parkbank.

Zumindest dieser Park gehört uns allen. Das ist die Wahrheit, die auch der letzte Psycho begreifen muss.

*DCT-Leser verstehen diese Anspielung

Samstag, 19. Juni 2004, 03:23, von donalphons | |comment

 
Ich musste gerade an Berlin und das blog denken: In der Wirtschaftswoche wird der neue Vorstandschef von MAN portraitiert. Zitat: Vor ein paar Monaten ist der begeisterte Neumünchener ("eine saubere, sichere Stadt")...

Ich kenne München nicht so gut, aber es scheint das Gegenteil von Berlin zu sein.

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Mindestens anderthalb mal so hohe Preise und Löhne, eine Staatsregierung, die bei jedem Dreck jenseits ihrer Weste sofort durchgreift - Sprayer müssen bei Tageslicht vor den Nachbarn Wände "mitm Zahnbürschtl" putzen, und ausserdem: Wer in München scheitert und keinen Bock auf Arbeit und Leistung hat, zieht nach Berlin.

So geht das.

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Geschmackssache
Ich persönlich finde München furchtbar, Berlin morbide und fertig, aber durchaus erträglich. Es kommt halt drauf an, auf was man steht. Für mich muss eine Stadt eine Dirty-Old-Town-Komponente und ein Arbeitermillieu (bzw. was heute noch davon übrig ist) haben, um lebenswert zu sein. München ist mir zu gelackt, zu spießig, zu überkandidelt, man kann auch sagen, zu unproletarisch, und die ganzen Spam-Personen der Busserl-Schickeria taugen nicht mal als Schießbudenfiguren. Für die schönsten deutschen Städte halte ich Bremen und Hamburg. Berlin und München aber waren schon seit Reichsgründung die absoluten Antipoden, nicht umsonst ist "Saupreiss" Bestandteil des klassischen bayerischen Vokabulars.

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München ist zu - in einem Wort - reich.

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