Real Life 21.6.04 - Ecke Veteranenstrasse

Man hat ihr gesagt, dass sie vorne aussteigen soll. Egal, sie muss sowieso vorne raus, weil dort die Wohnung ist. Trotzdem, keinesfalls hinten. Hinten hat sich die Drogenszene breit gemacht. Sie fand das alles etwas irritierend, denn daheim ist es alles ganz anders. Dort ist es egal, wann und wo man aus der U-Bahn aussteigt.

Inzwischen ist sie wieder zu Hause, und hier ist es auch kein Problem der U-Bahn mehr. Denn im Sommer haben diese Locations keine Bedeutung. Die Szene treibt hinaus auf die Strassen, weg von den Sicheheitsbeamten der verkehrdsbetriebe mit ihren schwarzen Hunden, hinauf an die Ecken, am besten an Häuser, die enteignet, geraubt, zerstört und aufgegeben wurden. Da gibt es keine Geschäftsinhaber, die die Polizei rufen. Im Verkehr, in den beweglichen Menschenmengen fallen sie und ihre Geschäftspartner nicht auf. Sie warten auf das Nichts bis zum letzten Kick oder den nächsten Kunden, und es ist irgendwie tragisch, aber das erste, was mir auffällt, ist die manchmal immer noch sorgsam aplizierte Schminke, und wie wenig sie gegen die eingefallenen Wangen und Augen hilft, zumal, wenn sie blond sind und ohnehin schon dünne Haut haben.

Das hier ist nur ambulant, vorrübergehend, zeit- und wetterbedingt. Der erste Regen wird sie wieder hinnunterspülen in den warmen Bauch der Erde und der ratternden Eisenzüge, wo es süsslich nach Erbrochenem und Pisse riecht.

Aber noch ist Sommer in der Stadt.

Dienstag, 22. Juni 2004, 16:19, von donalphons | |comment

 
Man merkt, dass du Berlin wirklich magst. Das kommt alles so von Herzen.

Um mal den "Schnee" wieder zu erwähnen: Das ist in Berlin so, seit den Zeiten von Christiane F. Die Akteure und Plätze wechseln, die Riten und Gebräuche bleiben. Ist wohl die einzige Stadt, die in 30 Jahren keine wirkungsvolle Drogenpolitik hinbekommen hat.

Warum? Weil es zu allen Zeiten eine Armee von subventionierten Streetworkern und Initiativen gab, die kein Interesse hatten, dass ihr lockerer vom Staat bezahlter Job den Bach runtergeht, weil sich das Problem erledigt. Wir haben Anfang der 80er Jahre mal eine Studie zu der Anzahl von Drogenabhängigen in der Stadt gemacht. Die Politiker hatten Angst, dass es zu viel sind, die "Szene", dass es zu wenig Betroffene gibt.

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Ich habe als Journalist mal über Frankfurt und München gearbeitet. Es ist wohl so, dass die Münchner aufgrund des fahndungsdrucks oft nach berlin wechseln und hier die Reihen der offenen Drogenszene füllen.

Und dass es mir bei sowas immer noch den Magen umdreht, liegt an einer Nacht in Frankfurt, in der den Journalisten die offene Drogenpolitik - als mögliches Vorbild für die Stadt München - erklärt wurde. Da standen wir also, und nebenan, an einer Mülltonne, sass ein Mädchen im kurzen Kleid im Schmutz und hat sich einen Schuss gesetzt. Die war nie und nimmer 18. Keiner hat was getan, gesagt, hat ihr das Ding weggenommen, ich stand daneben und war so hilflos wie noch nie in meinem Leben. Und wenn ich 100 Jahre alt bin, werde ich diesen Anblick nicht mehr los.

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Ostertorviertel
Richtig hart ist es im Bremer Ostertorviertel. Da wird kiffen geduldet, im Zweifelsfall kannst Du jointrauchend neben einem Streifenwagen stehen (keine Risikohaftung, ich empfehle niemandem, das zu tun), aber gegen Junkies wird phasenweise hart vorgegangen, die werden auch schon mal auf der Wache durchgeprügelt. Dann tut man wieder nichts und duldet die offene Szene. Die Häuser am Gifteck haben Gittertüren vor den eigentlichen Haustüren. Das ist auch nötig: Eine Freundin, Du weiß schon wer, musste mal einen Junkie oder Penner oder beides löschen, der im Hausflur knackte und sich versehentlich selber angezündet hatte. Im Viertel ist das Alltag, niemand regt sich drüber auf.

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Das Viertel ist, trotz seiner Augenfälligkeit, nicht mit Grossstädten wie Berlin, Köln, München vergleichbar. Bremen ist halt Provinz und dementsprechend das Problem örtlich begrenzt und überschaubar. Das mag für die Bewohner und Ladenbesitzer am Sielwall ärgerlich sein, aber wirkt sich sogar als Lokalkolorit preissteigernd auf die Mieten aus. Wenn ich durchs Viertel gehe, werde ich an Kreuzberg in den besten Zeiten Ende in den 80er Jahren erinnert - inklusive Szene am Kotti. Kreuzberg war damals auch Provinz.

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Was heißt schon Provinz
Ich gebe Dir völlig Recht, was den Vergleich mit Kreuzberg und auch was den Faktor Lokalkolorit angeht. Inwieweit Bremen wegen der relativen Kleinheit der Stadt und der scharf umgrenzten Lokalität "Viertel" Provinz ist weiß ich nicht so recht. Für Leute, die aus Städten wie Kaiserlautern oder Hildesheim kommen, ist das noch immer große weite Welt. Man müsste dann entweder eine Kategorie unterhalb von Provinz, aber über dem Begriff kleinstädtisch finden, oder es ist alles Provinz unterhalb von Berlin, Hamburg, Paris London usw., auch München und Köln.

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