Real Life 09.07.2005 - Nebentisch

Die fette Sau, die dir den Zigarrenrauch zwei Stunden ins Gesicht bläst. Sein raushängendes Hemd. Sein Freund mit Photohandy, das er benutzt, wenn die fette Sau zum zehnten Mal seinen übermässigen Alkoholkonsum ins Klo trägt. Ihre gegenseitige Versicherung, dass alles gut so ist, und dass sie massig geld bei dem Consulting verdienen werden.

Davor die Rolexbubis, vielleicht gefälscht, die keinen Job haben und sich beim Franzosen in der Bergmannstrasse überlegen, wie sie die Yacht des Vaters verticken. Das Problem ist die Welle zum Propellor, die ein früherer Mieter ruiniert hat. Deshalb ist jetzt ein Aussenborder dran. Geht trotzdem 60 oder mehr. Wird sicher ein geiles Geschäft.

Die beiden Mütter auf dem Betonklotz. Noch ein Kind oder reicht es erst Mal. Die Nachfahren sind solang bei Oma zwischengelagert, aus deren Besitz auch die Wohnung kommt. Eine willd as Geld ihres Bausparers anlegen, aber statt Aktien denkt sie im Moment eher an einen Kombi. BMW. Nebenbei schreiben sie pausenlos SMS. Sie sind höchstens 25.

Mal regnet es fast, dann ist wieder diese schwüle Hitze. Es sind viele Bettler in der Stadt, viel Verwahllosung mit und ohne soziale Sicherung. Und gegenüber sitzt ein Haifisch und sagt, dass er trotzdem lieber in Berlin als in der Provinz leben würde. Vier Stunden später ruft er dich vom Flughafen aus an, denn sein Taxi ist einfach losgefahren, sein gepäck noch im Kofferraum, und er hat nur noch sein Handy und das Kleingeld und er weiss nicht, was er jetzt in dieser Traumstadt machen soll.

Sonntag, 10. Juli 2005, 00:31, von donalphons | |comment

 
Berlin ist so schnell, dass man nichts auf die lange Bank schieben darf. Statt 5 SMS werden in der selben Zeit gleich 25 geschrieben, der Traum vom BMW-Kombi kommt einem nicht erst mit Anfang 40 in den Sinn, sondern schon mit 25. Ist auch gut so, da man in dem Alter nicht so sehr an dem Alptraum mit den Parkplätzen und den sozialen Bodensatz denkt, der einem das gute Stück verkratzt.

Wir leben heute. Silberbesteck ist was für ignorante Snobs aus dem provinziellen Süden und Häuser, die 300 Jahre und älter sind, sollte man eh abreissen.

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Berlin ist so lahm, dass man das Handy wegwerfen kann, die sozialen Absteiger koennen es sich nicht mehr (lange) leisten. Wozu dann den Kosten- und Nervfaktor behalten?
Der neue BMW ist was fuer grafitti fans, wie lange dauert es wohl, bis der erste tag dran ist?

In Berlin lebt man gestern: Der Westen jammert ueber den Verlust der versifften biederen 80er Jahre, der Osten ueber verlorengegangenen sozialen Status.

Am Potsdamer Platz kann man sich zum Ausgleich die schlimmsten Bausuenden seit den 60ern ansehen, geplant und ausgefuehrt von Praktikanten?

Doch halt, wir wollen diese geschundene Gruppe nicht noch mehr in den Kakao schubsen.

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Ich wollte eigentlich ein wenig seelische Aufbauarbeit leisten. Immerhin ist Berlin die Top-Destination für Billigflieger-Städte-Wochenendtouren. Alles nur 1/10 so teuer wie in London, Paris oder Rom und der Billigflieger-Flughafen liegt nicht 2 Stunden entfernt in der Provinz. Der Treff für die internationale Geiz-ist-geil- und-Parties-sind-das-Leben-Community.

Ich habe gelesen, dass wie in den 70er/Anfang 80er Jahren immer mehr internationale Musiker sich in Berlin ansiedeln. Auch eine Art Lumpenproleteriat.

Ein wenig Mitleid hat Berlin verdient.

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hey, ich lebe gern hier.
Ich muss nicht in Mitzelhain das Einkommen schwäbischer Immobilienspekulanten verbessern und freue mich jeden Tag auf die S Bahn ins Grüne.

An die Schnoddrigkeit der Berliner habe ich mich schnell gewöhnt, auch daran, dass man bei Auskuenften besser zwei einholt. Die erste geht oftmals in die falsche Richtung:-)

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Berlin ist schnell? Nach meinen Erlebnissen ist es immer noch das gleiche Wrack am Grund des Kaps der Hoffnungslosen, und das Tor klapprige Holzgatter zu den schlechteren Ecken Rumäniens. Immerhin habe ich eine Wagenladung Kulturgüter gerettet. Und in 10.000 Jahren gehen die vielleicht wieder noch Norden - hehe, just joking.

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@ strappato

wenn das mit dem 1/10 stimmt, wäre jetzt schon die republik leer, weil sie sich alle um die berliner schnäppchen prügeln:
übernachtung im doppelzimmer im **-hotel EUR 8,00; rindersteak 200g sehr zart und medium (nicht etwa 100g, zäh und durch) EUR 1,50; paulaner hefeweizen 0,5l EUR 0,80 und alles andere für ein nasenwasser.

es wäre aber sehr nett, mir weitere informationen zum thema berlin aber günstig zu geben, ich suche nämlich noch nach einem günstigen urlaubsort. ernsthaft, urlaub in der großen stadt gefällt mir, auf dem land lebe ich das ganze jahr.

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Kann ich als Landbewohner nachvollziehen. Aber wenn man die Preise in anderen Metropolen vergleicht, dann kommt es einem wirklich so vor, als wenn es in Berlin nur 10% sind. Mitten in der Stadt in bester Lage Backpacker-Hostels usw. Das gibt es in anderen Touri-Grossstädten nicht so einfach. In Berlin ist ein Top-Hotelzimmer für 80-100 Euro die Nacht zu haben. In London nicht unter 400. Bei Mieten sind es wirklich 10% im Vergleich zu London.

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@ strappato

danke für den hinweis, ich werde jetzt gezielt zum thema urlaub in berlin nachforschen.

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Berlin hatte ja immer gehofft, mal in einem Atemzug mit Städten wie New York, Madrid und London genannt zu werden. Bis vor ein paar Tagen.

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Berlin unter ganz anderen Aspekten
Angelegentlich einer EKD-Synode (oder wie das heißt, ich kenne mich in kirchisch nicht so aus) sagte Prälat Dr. Steffen Reimers "Der Große Kurfürst erwies Solidarität und Weitblick als er 1685 - wenige Tage nach dem Edikt von Nantes - mit dem Edikt von Potsdam den hugenottischen Glaubensgeschwistern eine neue Heimat anbot. Um 1700 stammte jeder dritte Berliner aus Frankreich. Die Glaubensflüchtlinge brachten nicht nur neue handwerkliche Techniken, sondern auch kulturelle Interessen mit. So gründeten sie das erste Theater auf diesem Platz. Eine große hugenottische Siedlung, die der Seidenherstellung dienen sollte, entstand am Ufer der Spree. Wenn die Bewohner gefragt wurden, wo sie wohnten, antworteten sie französisch: „Moi j’habite là-bas. = Ich wohne dort.“ Aus moi j’habite wurde bald ‚Moabit’." - Dazu wäre zu ergänzen, dass der Große Kurfürst auch Weitblick und Geschäftssinn bewies, als er Groß Friedrichsburg im heutigen Togo gründete, um beim internationalen Sklavenhandel einen Fuß in die Tür zu bekommen, und dass in den siebziger Jahren so viele Linksradikale im Moabiter Knast einsaßen, dass man von Maobit sprach.

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Maobit? Ist das nicht ein Bauteil eines IBM-Rechners, seid die in China hergestellt werden?

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Ah!
Und ich hatte die ganze Zeit vermutet, dort hätten sich die im alten Testament erwähnten Moabiter niedergelassen. Gibts im Osten nicht auch andere biblisch inspirierten Ortsnamen wie Jerichow und Magdala?

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Das ist halt der Nahe Osten. Wie sehr das Osten ist, sieht man auch an dem Ortsnamen Lehnin.

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Moabit
Moi, j'habite - jedenfalls ist es eine Erklärung. Das Internet weiß folgendes zu berichten: " Ils furent des milliers à saisir cette occasion, et d'après un recensement de 1719, constituaient 20 % de la population de Berlin. Leur principale zone d'installation fut alors l'actuel quartier de « Moabit » qui doit son nom à ces immigrants français. L'origine exacte de ce mot s'est certes quelque peu perdue dans les méandres du temps ; elle est le plus souvent associée à la « terre de moab » (en français dans le texte, NdT), dérivée des plaines de Moab citées dans l'Ancien Testament où les Israélites trouvèrent refuge après s'être enfuis d'Egypte. Une autre explication attribue cependant l'origine de cette appellation à une confusion linguistique de la part des Berlinois, qui auraient fait en un tour de main du « moi, j'habite… » français le « Moabit »."

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Philadelphia kann man im Osten auch besuchen. Südöstlich von Berlin.

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Stammkneipe
Endlich mal wieder hier http://environ.de/us/che/?postid=256.

Wein trinken, zu hören, wie es ihr geht, über den gerade gesehenen Film sprechen, angenehme Leute treffen. Die Bedienung ist jung, gepiercet und politisch korrekt, aber nicht mehr auf diese alte, repressive Art. Der Nebentisch redet über die politische Lage in Uruguay, darüber, was aus den Tupamaros wurde, über die Schwierigkeiten der israelischen Linken mit der eigenen Identität. Nichts, nichts von NE, wohl aber von IT: Wissenschaftsportale. Das Thema hatte ich vor ein paar Stunden mit jemand anderem und viel dabei gelernt. Weit weg ist die Welt des Marketings, der Anjatanjas und des professionellen Großsprechertums. Die Nacht ist noch jung, das Wetter mild....

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