: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Samstag, 2. Juli 2005

Leserversuch

Am Anfang stand das Wort "Grossraumdisco" von Mark793. Er meinte damit dieses Blog hier, und es hat eigentlich nur etwas bestätigt, was mir schon länger im Kopf herumging: Dass in diesem kleinen Punkrockclub viel anders geworden ist. Zumindest war es mal als kleiner Punkrockclub gedacht, und es hat auch eine Weile ganz prächtig so funktioniert. Das war in der Zeit vor dem Winter, bevor hier die grossen Sprünge bei den Nutzerzahlen kamen. Ich hatte beim Lesen mancher Kommentare und vom Hörensagen her den Eindruck, dass eine gewisse verzcihtbare Klientel hier täglich reinschaute. Leute, mit denen ich noch nicht mal auf dem gleichen Friedhof begraben sein möchte. Sickos, die das hier als Feindbeobachtung lesen - hey, wenn ich Euch für ein Arschloch halte, lese ich Eure Blogs nicht, so einfach ist das, Ihr Pfeifen.

Die Begründung für den hohen Traffic muss nicht monokausal sein, gab auch andere Erklärungen - etwa der aggressive Tonfall, das ständige Herumhacken auf Berlin, jede Woche ein Eklat, all das könnte Leser anziehen, meinten verschiedene Leute. Als ich Berlin dann verlassen habe, war es Zeit für ein Experiment, Codewort "Leservergraulung". Im Kern steht die Frage: Was passiert in so einer Grossraumdisco, in die Leute über Monate wegen der immer gleichen Musik kommen, wenn der DJ ein anderes Programm fährt? Was geschieht, wenn statt dem Dreck auf den Strassen Empiremöbel ins Zentrum rücken, wenn der Hass einer gewissen Zufriedenheit weicht, wenn der Autor seine Lebenswirklichkeit radikal umstellt, vom Beobachter des riesigen Slums Berlin, das jeder kennt, hin zum Rückkehrer in eine kleine Stadt und zu ihren oberen 10.000, einer Klasse, die keine Ahnung von Blogs hat? Und was passiert, wenn die Leser nicht dreimal täglich gross und dazwischen mit Kommentaren gefüttert werden, sondern nur einmal am Abend mit einem längeren Text, wenn der klassische Cyberslacker längst vor der Glotze hängt?

Was also machen Leser, wenn sie statt einer fiesen TAZ plötzlich eine mitunter gemeine Version der World of Interior erhalten? Wie reagieren Zuhörer, wenn die massenkompatible Morningshow ausfällt und statt dessen am Abend die wüstesten Szenen der italienischen Opera Buffa gesendet werden? Nach der klassischen Medientheorie müssten die allermeisten wohl abspringen, und die Cyberslacker mit den RSS-Feeds, die jeden Morgen hier ihr Bröckchen holen, müssten verschwinden.

Nach fünf Wochen habe ich tatsächlich etwa ein Viertel des Traffics unter der Woche verloren; am Wochenende ist weniger als 20%. Was definitiv eingebrochen ist, ist der morgendliche und frühnachmittägliche Besuch, den man relativ leicht mit Postings steuern kann. Das dürften vor allem die RSS-Cyberslacker gewesen sein, die nur kommen , wenn etwas los ist. Um die tut es mir, offen gesagt, nicht wirklich leid, genausowenig wie um die 50 oder mehr Leute, die dann weniger über die Blogger.de Startseite kommen. Ein Teil des Rückgangs ist sicher auch dem Wetter geschuldet - es wäre ein bedenkliches Zeichen des Geisteszustands der Leserschaft, wenn ihnen bei diesem Bombenwetter nicht manchmal was Besseres als Blogs lesen einfallen würde. Es gibt etwas weniger Kommentare, aber im Schnitt etwas gehaltvollere Debatten. Die Verlinkung hat nachgelassen - wohl eine Folge davon, dass vielen Bloggern zu den neuen Themen nichts einfällt. Kein Problem, im Gegensatz zu manch anderen schätze ich die Bedeutung der Verlinkung in der Blogosphäre ohnehin nicht als besonders wichtig ein. Echte Relevanz entsteht meines Erachtens durch die schwer analysierbare qualifizierte Leserschaft. Die Leute, die so oder so kommen, und nicht, weil es gerade modern oder Hype oder Skandal oder die durch Kleinbloggersdorf getriebene Sau oder verlinkt ist - btw, einen Link beim Neuköllner Schrottquellenverbreiter zu bekommen ist ähnlich relevant wie ein gekritzelter Name an der Wand eines Autobahnklos.

Qualifizierte Leserschaft: Etwa drei Viertel der Leser lassen sich aber weder durch längere Texte noch durch geänderte Zeiten oder neue Themen oder meine Abwesenheit oder das Fehlen von Krawall davon abhalten, das hier zu lesen. Sie kommen einfach so, egal wann und wie ich schreibe, auch, wenn es mal komplex ist oder einfach nur arroganter Scheiss - und das entspricht schon wieder eher meiner Vorstellung von einem Punkrock-Schuppen. Und wenn das so ist, kann ich auch mit dem immer noch recht hohen Traffic leben.

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