Ich beklage mich nicht.

Um 5 Uhr aufstehen ist auch nach ein paar Monaten Provinzleben unglaublich hart. Es geht halt nicht anders. Also die Knochen ein- und die Kleider aufgesammelt, ab ins Auto und los in die noch tiefschwarze Nacht auf die fast leere Autobahn. Zwei Stunden später geht die Sonne über den nebligen Hügeln Thüringens auf, und es verspricht ein schöner Tag zu werden.



50 Kilometer vor Berlin sind im Osten die ersten Wolken zu sehen, und als ich ankomme, ist es arschkalt und stark bewölkt. Hey, ich meine, 470 Kilometer Sonne, nichts als Sonne, überall ist es schön, und der einzige miese Fleck ist dieses dreckige Slum, das dann auch noch den Beweis antritt, dass immer noch zu viel Stütze bezahlt wird, denn die haben hier immer noch Autos, ohne damit umgehen zu können.



Ein Typ versucht sich bei zwei besetzten Spuren, wovon ich die linke mit einem nun wirklich breiten, schweren Wagen blockiere, rechts vorbeizudrängeln. Ich mache die Tür seelenruhig zu, wie man das so auf den Kurvenstrecken des Altmühltals im Kampf gegen den Golfclub Geisenfeld lernt. Er hupt, drängelt, und als ich ihn noch immer nicht vorbeilasse - wie auch? fängt er an, irgendetwas an der Konsole zu fummeln. Die Musik passt wohl nicht. Ich schaue wieder nach vorne, und der Typ vor mir bremst, weil die Ampel rot ist. Kein Problem, bis mir einfällt, dass da durchaus ein Problem ist- ein abgelenkter irren Drängler hinter mir.

Der Gott der Eisen wachsen liess, sorgt zum Glück auch für Endorphine und die Konstruktion eines ausreichend starken Motors. Runter von der Bremse, rauf aufs Gas und mit der Kraft von übr 200 Pferden rüber auf die Linksabbiegerspur. Der Gott der Eisen wachsen liess hasst wohl Plastik, denn der Typ hinten wird schnell zum Typ daneben mit quietschenden Bremsen, und dann werden die Plastikteile an seiner Front an der Hinterkante meines früheren Vordermannes um ein paar Zentimeter verkürzt.

Und so stehe ich dann auf einer belebten Strasse in Mitte und höre weg, als das Gekeife los geht. Ich betrachte die Reste einer über den Haufen gefahrenen Taube und gebe mir Mühe, möglicht nicht zu denken, damit das hier nicht mit meiner tätigen Mithilfe a la facon bavarese geregelt wird. Ich bin in einer grossartigen Stimmung und bereit für ein Tänzchen, als der Typ mich auch noch berlinerd ankeift, obwohl er einen halben Kopf kleiner ist und Brille trägt. Da macht sowas erst richtig Spass. Dann kommt endlich die Polizei und verhindert, dass ich mein Phlegma unterbreche.

Ich sage, was ich erlebt habe, lasse mich vom Verursacher als dreckiger Lügner beschimpfen, und fahre weiter nach Schöneberg. An einer Kreuzung beschimpft mich ein Scheibenwäscher, weil ich seine Dienste ablehne. Später steige ich aus, gehe ein paar Meter, da hält neben mir ein Bus. Die Tür geht auf, ein Behinderter stellt sein Rollwägelchen auf die Strasse, da wird er von hinten von einer fetten Mama angerempelt, der es nicht schnell genug geht. Also kippt er um und mir quasi in die Arme. Ich schäme mich etwas, als er sich bedankt, denn das waren nur Reflexe und eigentlich bin ich schon längst wieder so weit, dass ich sofort zurück nach Bayern möchte, fliehen, alles stehen und liegen lassen, auch ihn, der schon um 11 Uhr erheblich getrunken haben muss. Die fette Mama ist derweilen verschwunden.



Eine paar Ecken weiter sagt jemand "Guten Abend" zu mir; ein hagerer, abgrissener Typ in Schwarz. Instinktiv erwidere ich seinen Gruss und sage "Guten Tag", wie es sich gehört. Er stellt mir sinngemäss die Frage, was das soll und ob ich ihn veräppeln will, es ist schon Nacht, alles dunkel, und wenn ich so weiter mache, hetzt er den Hund auf mich. Es ist noch nicht mal Mittag.

Um die Ecke ist einer meiner Lieblingsfalafel. Der Maestro erkennt mich sofort wieder, wir wechseln ein paar nette Worte, und ich gebe ihm die 2,50 Euro. Er sieht mich etwas bedenklich an und sagt, dass es jetzt nur noch 1,80 kostet, Sonderaktion wegen dere Konkurrenz, und dann erzählt er etwas über die Zeiten, die für ihn immer schlechter werden. Und ich frage mich, wie sich das alles rechnen soll für ihn, der den Falafel noch mit der Hand zubereitet, und sage, dass es so stimmt.



Ich setze mich in mein Auto und denke daran, dass es zurück in weniger als drei Stunden zu schaffen ist, dass ich von dem allem hier eigentlich gar nichts wissen will, ich bin hier ein Fremder, ich will nur etwas Abwechslung von den Indian Summer Days und den Kabbalen der besseren Gesellschaft, ihren schlechteren Kindern und den Konzertabenden, die einfach nicht so enden wollen , wie es der eigenen Ausgewogenheit zuträglich wäre. Aber da sind neben den Hoffnungen auf einige nette Dates noch zwei Katzen, die ich hier zumindest einen Nacht und einen Tag hüten muss, also fahre ich weiter zu dem Haus mit der grossen Eingangshalle. Die mal wieder erbärtmlich nach Menschenpisse stinkt, denn daneben ist eine angesagte Location.

Ich hasse diese Stadt. Ich habe vergessen, wie sehr ich sie hasse, weil ich einfach nicht mehr an sie gedacht habe. Jetzt bin ich da, in einem Internetcafe, in dem das Internet 0,50 Euro pro Stunde und die Alcopops 0,99 Euro kosten. Die Leute hier brauchen das wohl als Fluchtmöglichkeit, und ich kann es verstehen.
eigentlich wollte ich ja was nettes schreiben. ich habe es mir gestern abend fest vorgenommen. aber da ist nichts nettes. nur einiges, was ich weggelassen habe. Nichts im Vergleich zu dem hier - und das ist immerhin eine frau, wegen deren beschallung ich hier bin.

Sonntag, 16. Oktober 2005, 21:31, von donalphons | |comment

 
Kann ich richtig mitfühlen. Sehr gut beschrieben.

Meine Grusel-Erlebnis in Berlin immer wieder: Wenn man die grosse Eingangstür aufmacht, über den Hinterhof geht und meint vor einer Müllkippe zu stehen.

... link  

 
Wen es hier einen USB-Reader gäbe, könnte ich Dir so eine Müllkippe vor dem Hinterhof zeigen, in Schöneberg beim Rathaus.

... link  


... comment
 
Willkommen zurück im Puff.

... link  

 
Ach so, ja, neben dem tot scheinenden Thaibordell in der Pankstrasse hat jetzt auch ein Thai-Restaurant aufgemacht. Es geht also doch bergauf, hier und da und besonders in my Wedding-Hometwn.

... link  

 
Ansonsten hat sich da aber nichts getan, vermute ich. Berlin, wie es swingt und Sexbizz macht.

... link  

 
Mal ne doofe Frage: Wie sieht's denn mal mit einer Lesung in München aus? München ist auch nicht toll, aber doch wohl besser als Berlin und näher an Deiner Hometown...

... link  

 
Da arbeite ich dran, aber es scheint nicht so leicht zu sein...

... link  


... comment
 
und so was am Sonntag

... link  

 
Die sind immer so, leider.

... link  


... comment
 
actio est reactio oder it's all in your head baby
newton hat es schon gewusst.
obwohl von ihm mechanisch gemeint, deutet seine simple formel doch auf die grundlage so mancher situation, positiv wie negativ.

du musst dich nicht wundern, wenn du voll evil geladen nach berlin faehrst und dann postwendend abgestraft wirst, naemlich mit genau dem, was du ohnehin erwartet hast.

versuch es beim naechsten mal bewusst positiv und lass dich ueberraschen.

mir geht es uebrigens genauso. aber ich habe daraus gelernt: ich hasse stuttgart und deswegen fahre ich einfach nicht mehr hin. funktioniert! und allen anderen sage ich das "stuttgart eine tolle stadt ist, die duerfen sie auf keinen fall verpassen" und dann winke ich freundlich zum abschied.

... link  

 
Ganz so einfach ist es nicht
Ich hab zu Berlin als gelegentlicher Besucher eine überwiegend positive Einstellung. Trotzdem empfinde ich die Umgangsformen (oder genauer gesagt deren eklatanten Mangel) sehr schnell als anstrengend. Da Zurückblaffen grad gar nix bewirkt, habe ich es mir zu eigen gemacht, auch den größten Deppen noch mit ausgesuchter Höflichkeit zu begegnen. Denn damit kommen die am allerwenigsten klar, das kennen sie nämlich so nicht... ;o)

... link  

 
@ bizwriter: Wäre es nicht mein Job, würde ich nicht kommen. Bonn war lässig. Und der Abschied von Bonn hat die Politik fundamental verändert, weil das gesetzte Umfeld fehlt. In Berlin agiert Politik abgehoben von aller Realität, da merkt man, wie weit alle Sicherheit entfernt ist. Das Wort "durchregieren" ist typisch für Berlin und sein dummes, immer maulendes, nie mehr als Maulen könnendes Bewohnerpack.

@ mark: Ich rede BAYERISCH, ganz breites, ungehobeltes Bayerisch mit vielen Fachausdrücken, damit können die erst recht nicht. Bayern ertragen die nicht, die agressive Fröhlichkeit, das robuste Auftreten, die Jovalität, das alles bringt die hiesigen Deutschen massiv ins Schleudern.

Und die Nachtdeutschen sind sehr oft sehr nett und freundlich. Ich habe mich hier nicht explizit bei jedem einzelnen Händler nach Bayern verabschiedet, aber alle, an die ich mich erinnerte, haben mich sofort wiedererkannt, begrüsst, ich habe schon lang nicht mehr so viel Cay wie heute getrunken...

... link  


... comment
 
es gibt ja nichts lustigeres als hilflose
schlechtgelaunte Berliner.....mit denen hab
ich überhaupt kein Mitleid......

...Wie sagte Naidoo:

"Es sind deine Straßen..."

- Odersoähnlichregierung.

... link  

 
Es ist eine Frage der hier Lebenden. Denen es einfach egal ist, so unfassbar egal.

... link  


... comment
 
Scheibenwäscher an der Ampel - der Charme der großen weiten Welt. Mexiko Stadt, Rio, Kalkutta, Lagos - und eben Berlin.

... link  

 
Aber hier von der speziellen Sorte - die, die eigentlich von einer Welt träumen, in der es keine Scheiben mehr zum Putzen gibt. Punk war nie so dead wie an der Siegessäule.

... link  

 
.. ach das ist Punk? Ich habe das Ganze immer fuer so eine komplett durchorganisierte Franchisgeschichte gehalten, alles wird gestellt: Koeter, schmieriges Wasser, halbkaputte Klamotten, 5 Kg Piercings pro person usw. usw. dann 9:00-17:00 Scheiben verschmieren anschliessend mit dem Bus nach Hause. Aber jetzt wo das Punk ist, also na ja, also Hut up ... aeh ab ...

... link  

 
Nein, mit dieser Tätigkeit scheinen sich grosse Teile gewisser Kreuzberger und Friedrichshainer Strassenzüge zu finanzieren.

... link  


... comment