Artificial Living in Chinoiserie

Im 17. Jahrhundert überschwemmen holländische und portugiesische Kaufleute Europa mit Produkten aus dem fernen Osten. Der damals gerade dem Mittelalter entwachsene Kontinent reißt sich begierig um Vasen, Schüsseln, kleine Kunstgegenstände und Lackschränke - dergleichen hat man in Europa noch nicht gesehen. In China kommt man in den traditionellen Manufakturen den Aufträgen der seltsamen Langnasen kaum mehr nach, und so kommt es zu zwei gegenläufigen Entwicklungen: Dem Niedergang der Kunst in China zugunsten billigster Massenware für geschmacklose Europäer, und zu den chinesisch anmutenden Eigenentwicklungen zwischen Madrid und Prag, zwischen London und Palermo. Jeder Hof, jeder Kaufmann, jeder Bürger, der etwas auf sich hält, will sein Stück aus dem Riesenreich, das so viel eleganter, feiner, kultivierter und fortschrittlicher erscheint als die schmutzigen, engen Gassen voller Krankheit, Elend und Kot, die die hiesige Upper Class bei jedem Schritt vor die Tür belästigen.

Und so entsteht aus der importierten Kunst der Ming-Epoche ein künstliches Paradies, ein virtuelles China in Europa voller Missverständnisse, Lügen und Erfindungen. Auch ernste Philosophen wie Voltaire preisen ein Land, in dem sie Weisheit in allen Schichten verankert sehen wollen. Der Konfuzianismus kommt gerade recht, um in den Religionskriegen eine Welt ohne kirchliche Macht zu predigen. Niemand mag sich den orientalischen Versprechen zu widersetzen, sogar ein Marquis de Sade kann nicht umhin, seine eigene Philosophie im Boudoir mit dem Vorbild der Sitten am gelben Fluss zu begründen. Und was für den Adel in Paris recht ist, kann andernorts nur billig sein; man flüchtet sich vor der Realität in die goldenen Teehäuser, in exquisite Gartenbaukunst a la chinoise, ein nettes Versteck, in dem sich angenehm plaudern lässt über eine ferne Welt, deren Kunst man liebt, und deren Gewalttätigkeit und Probleme nicht weiter interessieren.

Diese künstlichen Paradiese, in die sich die führenden Schichten in den Jahrzehnten vor den alles zerstörenden Revolutionen flüchteten, mögen uns heute lächerlich erscheinen; sie werden nicht dem gerecht, was wir über die Ming-Dynastie wissen, und noch viel weniger dem, was uns über seine Nachäffer in Europa bekannt ist. Wir wissen, wie die Geschichte beiderseitig ausgegangen ist; Europas Elite hat China mit Opium und Kriegen überzogen, nachdem in den Revolutionen die meisten Rokokoträume der aufgeklärten orientalischen Despotie, der "Despotisme de la Chine" beseitigt wurden. Ein wenig peinlich stehen noch manche Teehäuser in Parks, wo die Machthaber sich eine Weile halten konnten, doch heute sind es nur mehr Relikte eines Irrtums.



Ich nehme meine kleine Digicam heraus und mache ein Bild, von diesem Teehaus in Potsdam. Meine Digicam ist ein Wunderwerk der Technik, klein, schlank, formschön, in allen Augen zwischen Osaka und dem Wedding. Am Abend bin ich dann zurück in Berlin, und lese einen Blogeintrag, wie wunderbar sich doch das koreanische Projekt Cyworld entwickelt, das angeblich 95% der koreanischen Jugendlichen besuchen. Kaum eine Website eines Startups oder einer Technologiefirma, eines Gadgetblogs oder eines Dienstleisters, von dem mich nicht eine mandeläugige Schönheit anlächelt. In China, so hört man, wächst das Internet jedes Jahr um 30%, es ist die Zukunft, kein Wunder, wenn ich meine Kamera, mein Handy, meine Speicherkarten umdrehe und dort lese, dass ich kaum weniger abhängig von Chinas Kunstfertigkeit bin, als ein holländischer Händler der Ostindienkompanie. An der Kasse des Supermarktes werden Manga-Spielkarten vertrieben, für eine Jugend, die in RTL-II lebt, und später lese ich irgendein Politikerstatement, dass Verlagerungen der Produktion nötig sind, weil die Asiaten nun mal besser und billiger produzieren als wir. Irgendein Blogger empfiehlt Business Karaoke, und auf dem Weg zum Sushi ist sicher auch eine Galerie mit Bildern über Bondagetechniken, während in der windgeschützten Ecke ein deutscher Obdachloser dem Winter entgegenzittert.

Und wenn sie dann einmal über das Mittelmeer oder die Karibik kommen, oder aus den ländlichen Regionen der Volksrepublik oder aus den Dörfern Südkoreas, weil zugunsten der künstlichen Welten in Schanghai, Shen Zen, Seoul, London, Berlin, New York und Seattle der Rest ausblutet, weil sie auch ihren Teil wollen oder wenigstens was zu Essen, weil sie nicht einsehen, warum sie krepieren und wir im Opiumrausch der künstlichen Realität unserer Blogs und social Applications dämmern, wenn die, die aus dem künstlichen Traum der asiatischen Leistungsfreude herausfallen wie die fauligen Zähne aus den Mündern derer, die digital keinen Platz und keinen Zugang haben und auch keine Chance, auch nur mal einen Arzt zu sehen, wenn die sich alle aufmachen, dann wird von unserem künstlichen Leben im großen, globalisierten China mit all seinen anorexischen Porzellanpuppen und lacküberzogenen Ikeamöbel weitaus weniger übrig bleiben, was später, an einem Herbsttag im Park photographiert werden könnte.

Aber das immer gleiche Lächeln über die künstlichen Paradiese, das Privileg der Nachkommenden, das wird bleiben.

Donnerstag, 2. Februar 2006, 12:25, von donalphons | |comment