: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Sonntag, 12. Juni 2005

Aria di Passacaglia

Cosi mi disperazette?
Cosi voi, voi mi burlate?
Tempo verra, ch´Amore
Fara di vostre core
Quel, che fate del mio
Non piu parole, addio.

Arhythmisch, in schrillen Septen baut sich das Geklingel über Girolamo Frescobaldis Arie auf, viel zu schnell, viel zu laut, und bis ich dran bin, ist es schon wieder vorbei. Aber die Nummer ist noch da - da hat sie doch tatsächlich angerufen, nach gut und gern 10 selten beantworteten Mails. Dann eben andersrum - Hi.

Hi. Bist du da?
Ja.
Ich habe das Licht in deinem Fenster gesehen, und dachte, ich schau mal...
Ich habe dir geschrieben, dass ich da bin.
Ja, schon gut. Kann ich kurz hochkommen?
Gern. Der Tee ist fertig.
Aber nur kurz.

Sie muss neben der Tür gestanden haben, so schnell wie es klingelt. Sie sieht müde aus, fertig, gar nicht gut. Sie lässt sich das Mäntelchen von den Schultern nehmen, die in einen dicken, weissen Zopfpulli gut verpackt sind, zu gut vielleicht, aber es ist schon wieder Spätherbst, insofern - als ich den Mantel aufgehängt habe, sitzt sie schon auf dem nüchternen Küchenstuhl, gut, sie nimmt 1 Glas Tee, aber bitte nicht zu voll, weil sie nachher noch wohin muss, und also...

Also - gab es Ärger.
Ja.
...
Er hat es bemerkt. Und ich bin eine schlechte Lügnerin. Ich habe ihm nicht alles gesagt, aber er...
War nicht angetan.
Nein. Er wollte sich trennen.
Und jetzt?
Ich habe ihm versprochen, dass es nicht wieder passiert.

Irgendwann werde ich vielleicht ein Buch über Liebe und Sex in der New Economy schreiben, so ein schmales Ding mit Case Studies, gerade mal dick genug für die ICE-Fahrt Hamburg Frankfurt, das sie in Bahnhofsbuchhandlungen in Stapeln rumliegen lassen. Darin werde ich erklären, wie es die Neue Wirtschaft geschafft hat, eine Renaissance entsetzlich alter Pseudotugenden auf den Weg zu bringen. Früher, ganz ganz früher, war Sex mit BWLerinnen nichts, wessen man sich rühmen konnte. Solange man sich an die Regeln hielt, konnte nichts schief gehen. Die BWLer-Freunde waren sowieso nur kurzfristige Angelegenheiten, denn nach dem Studium würden beide den jeweils passenden Job nehmen und eine Weile, bis zum gehobenen Management, allein durch die Welt gondeln. Wer dabei treu bleibt, sitzt während der zweiten Hälfte der Jugend- und Sexblüte verdammt oft in unterurchschnittlichen Hotelzimmern vor der Glotze, säuft Martini D´Oro und hasst sich, weil die Pralinen von der Tanke gegenüber fett machen. Eine gewisse moralische Flexibilität passte ganz gut zur beruflichen Mobilität dieser Gruppe, solange es nicht in der Firma passierte...

Wie es dann fast üblich wurde, in den grossen Zeiten von 1997ff.. Damals ging alles ganz schnell, von Frankfurt aus verbreitete sich die After Work Party endemisch, irgrendwo zwischen Jahrmarkt der Eitelkeiten, PR-Rhetorik-Seminar und Swingerclub. Formal sortierte sich Gründer zu Gründerin, die Praktikanten fanden notwendigerweise zueinander, sobald sie von den höheren Herrschaften abgelegt wurden, und Heiraten war vor allen ein Tool zum Steuersparen. Darunter gab es unbegrenzte Möglichkeiten für alle und jeden, auch dank der Sogwirkung des Internets, die alles brauchen konnte, Sinologen als Vertriebschef East Asia, Kunstgeschichtlerinnen als Creative Consultants, abgebrochene Maschinenbauer als CEOs, und faule Luftnummern au besserem Hause für alles, was halbwegs seriös wirken sollte, idealerweise CFO. Da kam viel zusammen, auch viel Alk und wenig Freizeit, und deshalb waren Vorspiele und längeres Daten vor der ersten Nacht unangemessen, bei den 180 bpm der neuen Wirtschaft.

Heute hat man und besonders Frau wieder Zeit. In Berlin vergrössert sich jetzt jede Nacht das Sportbuggykampfgeschwader Mitte "Walküre", in den Bankentürmen Frankfurts merkt man, dass eine treue Ehe mit Kindern den Job retten kann, in München, erzählen mir alte Freunde, gibt es Einladungen, zu denen Begleitung vorrausgesetzt wird, und die Elitesse mir gegenüber -verspricht- ihrem Freund, dass -es- nicht wieder -passiert-. Und so, wie sie es sagt, so, wie sie nicht auf die Mails reagiert hat, meint sie es ernst. Und ehrlich. Nicht mit voller Überzeugung, aber mit Entschlossenheit.

Und du hast vor, dich daran zu halten
Ja.
OK. Es geht auch ohne -es-. Hast Du Hunger? Soll ich was kochen?
Du bist unmöglich.
Ja, durchaus. Gemüseravioli in Pfifferlingrahm? Sehr gesund, macht nicht dick..

...von dem Käse mit Doppelrahmstufe mal abgesehen, zum Glück stellt sie keine blöden Fragen, auf die ich mit einer 3%-Fett-Lüge reagieren müsste, sondern streift durch die Wohnung, betrachtet lange das Bild und findet auch, dass es nach Paris ausschaut, wo sie eigentlich mal mit ihrem Freund hinwollte, aber sie hat sicher keine Zeit, alles so stressig im Moment. Ich lasse die Hände bei mir und verkneife mir irgendwelche Bemerkungen über die Form meiner Tomaten, -es- passt einfach nicht. Nicht heute Nacht.



Irgendwann später steht sie auf, geht zum Fenster und fragt, wieviel Uhr es ist, denn da draussen wird es schon fast wieder hell. 4 Uhr, sage ich, und sie muss jetzt aber wirklich los, denn morgen ist sie eingeladen bei einem Studententreffen, da will sie noch etwas schlafen, vor diesem Abend, und ausserdem, tja - und weg ist sie. Ich drehe die Schallplatte mit Frescobaldi um, lege mich ins Bett und lese eine Geschichte von Fitzgerald, über einen Toten in einem Zug, der aus einer kleinen, elitären Provinzstadt seine letzte Reise ins ferne Chicago antritt, ohne die blonde Tochter aus besserem Hause zu treffen, für die er noch einmal unter die Lebenden zurückgekehrt ist.

... link (6 Kommentare)   ... comment