: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Sonntag, 11. September 2005

Keine Wahlempfehlung II

Statt einem theoretischen Text: ich war heute in Regensburg. Wer noch nicht dort war, setze sich in den Zug und fahre hin; Regensburg ist das deutsche Siena und das Beste, was die ansonsten wenig erbauliche Oberpfalz zu bieten hat. Ich verstehe so ziemlich jeden bayerischen Dialekt, aber beim Oberpfälzer bin ich oft überfordert, selbst wenn die extrem langsam sprechen. Regensburg ist zum Glück anders. Oft. Aber nicht immer.

Regensburg hat eine phantastisch erhaltene Altstadt und Unmengen an historischer Bausubstanz des hohen und späten Mittelalters, als es ein Zentrum des Orienthandels war. Bis ins 14. Jahrhundert hatte die hiesige Kaufmannschaft quasi ein Monopol für den Handel mit byzantinischen und asiatischen Seidenstoffen, und die Nachfrage der Kirchen und Fürsten war immer grösser als das Angebot. Ab Mitte des 13. Jahrhunderts entstand hier ein Dom, der den Weltruhm der Stadt dokumentieren sollte. Im späten Mittelalter ging es dann wirtschaftlich bergab, die Türme des Doms wurden erst im 19. Jahrhundert vollendet.

Um auf dem zur Donau abfallenden Gelände eine vernünftige Basis zu haben, wurde der Dom auf einem Sockel errichtet. Aus diesem Sockel wachsen die Streben empor, die das Kirchenschiff tragen, und so bildet die Basis Vor- und Rücksprünge. Hier, zwei Meter über dem engen Domplatz, ist auch am späten Nachmittag noch Sonne, und der helle Kalkstein gibt seine Wärme ab. Seit Jahrhunderten, das belegen alte Stiche, sassen Menschen auf dem Sockel, um zu rasten, dem Trubel zuzuschauen oder miteinander zu reden. Die Kirche als sakrosanktes Monument ist eine Erfindung der Gegenreformation, davor war sie eine Art Mehrzweckhalle, in der auch Tanz, Markt oder Strassenstrich häufige Erscheinungen waren.

Es ist also nichts dabei, wenn sich zwei junge Menschen, im leichten Grufti-Look auf so einen Vorsprung in das späte Sonnenlicht des Tages setzen, etwas trinken, reden, und im goldenen Schimmer ein wenig küssen. Sie machen keinen Dreck, sie sind nicht laut, sie sind einfach da und geniessen ihr Leben, und ich stehe ein paar Meter weiter an einem Tor und mache eine Aufnahme eines Türdrachens der frühen Gotik. Das Leben ist schön, im Spätsommer.



Bis dann ein mittelaltes Paar aufkreuzt, das erkennbar seit Jahrzehnten keinen Sex mehr hatte - wünscht man zumindest beiden Partnern, die etwas aus den Fugen sind. Korrekt und bieder angezogen, sicher nicht billig, aber auch nicht schick. Passt zu Eiche rustikal, Rundbogen mit Butzenscheibenimitat und Kachelofen. Der Inbegriff des bayerischen Vollspiessers, CSU-Wähler par Excellence. Sie könnten einfach weitergehen, sie hätten mehrere Möglichkeiten, sich über auf dem Sockel befindliche Leute zu beschweren, aber SIE bleibt zielsicher unter den Grufties stehen, stemmt die Fäuste in die ausgelaufenen Hüftenregion und schüttelt heftig den Kopf. ER bleibt auch stehen, schaut hoch und sagt sehr laut: Oiso na. Und sie: De hom koa Benehma, de Leid. Bleiben stehen, gaffen hoch, und das Mädchen wendet sich verlegen ab.

Ich sage etwas. Von der Basis herunter sage ich etwas Deutliches auf bayerisch, und von meiner kleinen Seifenkiste im Netz sage ich: Ich wähle SPD. Ich wähle eine Partei, die mir als Garant einer offenen Bürgergesellschaft gilt. Ich bin in Bayern aufgewachsen und kenne den Stil-Totalitarismus, den rechte Lehrer und Beamte hier durchsetzen wollen, ich kenne das Menschenbild dieses Packs, dem ich äusserlich vielleicht mehr als entspreche, aber nicht weil die es so wollen, sondern weil es meine freie Entscheidung ist. Ich wähle eine Partei, die den alten Säcken unten und den jungen Grufties oben es überlässt, was für sie der richtige Weg ist, und die es keinem verbieten wird, in der Sonne auf einem Baudenkmal zu sitzen, nur weil es jemand anderem nicht gefällt.

Ich weiss noch, wie die CSU-Hirnverhehrer bei uns an der Schule versucht haben, politische Symbole zu verbieten und Leute auszugrenzen, die anders waren. Es war für den Punk genauso hart wie für den Anzugträger; alles, was anders war, wurde kleingemacht. Wir haben uns gewehrt, wir haben das aufgebrochen. Ich bin längst ein alter Sack und Grufties sind mir als Jugendkultur ziemlich fern, aber ich will verdammt sein, wenn ich jemals eine Partei wähle, die den pöbelnden Spiessern Recht gibt.

In dem Moment, in dem jemand wegen seinem Äusseren und wegen seiner Kultur nicht mehr in der Sonne sitzen darf, in dem Moment, in dem man so etwas erlaubt oder sich nicht wehrt oder für den anderen eintritt, beginnt die Unfreiheit und die Unterdrückung. Es ist verdammt wenig kulturelle Kruste da, und sich dafür zu ehtscheiden ist wichtiger als irgendwelche angebliche Wirtschaftskompetenz, die ich eigentlich mit dem hier vorgesehenen Beitrag heute shitcannen wollte. Aber morgen ist ja auch noch ein Tag.

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Warum eigentlich

lese ich von dem Umstand, dass die Bush-Administration offensichtlich einen völlig unqualifizierten Kumpan mit frisiertem Lebenslauf als Chef des Katastrophenschutzes eingesetzt hat, nicht bei den "normalen" Medien? Weil es die DPA noch nicht gebracht hat, vielleicht? Oder weil kein Werbekunde darum gebeten hat?

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Wer immer das jetzt war...

Vielen Dank für die schnelle Blogger.de-Reparatur! Und überhaupt.

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