: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Samstag, 30. August 2008

Die 200-Euro-Frage

Mit Zahlen ist es bei Verlusten genauso wie bei Menschenleben: Niemand kann sie sich ab einer gewissen Grösse noch vergegenwärtigen. Wir haben bei den Banken dieser Welt im Rahmen der Subprimekrise bislang ein paar hundert Milliarden Abschreibungen gesehen, und das sagt sich so einfach: Ein paar hundert Milliarden. Schon ein paar 100 Millionen ist für die allermeisten Menschen, mich, der ich lange mit solchen Summen als überzogene Bewertung für VC-Portfolios zu tun hatte, durchaus inklusive, kaum mehr zu fassen. Man könnte so viel damit tun, man müsste nie wieder arbeiten, man könnte ganze Landstriche kaufen und Krisenregionen durchfüttern, wenn es keine Verluste wären. Heute Nacht, nach den doch eher speziellen Vorträgen, brachte es ein Teilnehmer aus England für seine Heimat auf eine griffige Formel: 200 Euro. 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Das verliert der durchschnittliche Eigenheimbesitzer in England seit den Höchstpreisen bei der Bewertung seiner Immobilie.



Nun könnte man natürlich denken, dass nicht jeder Brite sein Haus bei den Höchstständen gekauft hat, der Verlust also allenfalls theoretischer Natur ist. Leider ist in England das bargeldlose Zahlen weit verbreitet, und das eigene Haus ist sowas wie die Bank: Steigt der Wert, kann man mehr Schulden machen. Und weil alle die meinung vertreten haben, es gäbe keinen Einbruch, konnte man sich problemlos bis zum Hauswert verschulden. Es gibt ein paar britische Eigenheiten, die nur durch diesen Schuldenmechanismus erklärbar sind; man betrachte nur mal Einrichtungszeitschriften von der Insel und die exorbitanten Preise für Stoffe, Farben, Lampen und Möbel. Dinge, bei denen jeder seriöse deutsche Bankberater einen Schreikrampf bekommen hätte, würde man dafür Kredite im Rahmen einer Hausfinanzierung wollen. In England ist es inzwischen ähnlich. Und will man später mal die Geschichte der Krise aus Sicht der normalen Betroffenen beschreiben, sollte man sich ein hübsches Archiv von Ebay-Anzeigen anlegen. Ebay, der neue Schwarzmarkt der Krise. Ebay, die reale Preisfindung.



"We have recently moved house and have 2 of these sofas and we now only want to keep one." Schreiben sie. Wäre es nicht so verdammt weit weg: Es kostet nur noch 1/10 dessen, was es vor zwei Jahren bei Laura Ashley gekostet hat, ohne den gestreiften Goldbrokat, es ist ein klarer Kauf. Abholung sofort. Das neue Haus ist klein. 1500 Euro kostete heute ein MG Midget, in den der Besitzer laut Rechnungen 2500 Euro investiert hatte. Es gibt einen Käuferstreik. In England steigen dennoch die Ausgaben, die Sparquote geht dramatisch zurück, wegen Inflation und Schuldendienst oder erzwungene Umschuldung. dabei noch 200 Euro jeden Tag verlieren. Für 200 Euro könnte man zu zweit einen Tag Urlaub machen. Locker. Gutes Hotel, gutes Essen, nur vielleicht nicht auf dem Kontinent, da verliert das Pfund dramatisch an Wert. Die Briten sind inzwischen so marktliberal, dass sie nicht mal mehr die Statistiken zur wirtschaftlichen Lage fälschen. So schlimm wie seit 60 Jahren nicht mehr, sagen sie. Das war nach dem Krieg, als England Sieger, aber praktisch bankrott war. Und in den 70ern beispielsweise war es auf der Insel auch nicht gerade toll. Noch übler als in den 70ern, da versäumt man jetzt nicht viel, wenn man nicht gerade ein Faible für Katastrophentourismus hat.



Die Bar gleich hinter der Grenze ist ziemlich weit weg von dieser Wirklichkeit. Man könnte es wegschieben, denn das Thema ist etwas anders gelagert, und vorerst, dank langfristiger Vereinbarungen, halbwegs sicher. Sicher im Sinne von "die Krise schlägt erst später durch". Solange keiner pleite geht, was unschön wäre, oder sich rausklagen will, was sich hier und da schon andeutet. Man kennt das aus der krise der New Economy, wo es zuerst die B2C-Firmen zerrissen hat und lange die - sich später als falsch herausstellende - Annahme vorherrschte, B2B wäre erst mal nicht betroffen. "Scary" ist ein beliebtes Wort da oben über dem Inntal. 200 Euro sind hart für den Einzelnen, aber dann wieder auf ein Land hochgerechnet, gar nicht gut. Wer weiss, wann man sich wiedersieht. Wer weiss schon, ob es die Firma morgen noch gibt, ob man nicht rausgelöst und an die Chinesen verschachert wird, und der nette, charmante Herr aus Rom hat heute schon die Unpässlichkeit, mit einer insolventen Fluglinie die Heimreise antreten zu müssen. Kaum ein Licht ist mehr an, als ich mich auf den Rückweg mache, erst an den See und dann in die Provinz, sie schlafen fest und sorgen sich nicht, und das ist vielleicht der Umstand, den ich als extrem scary empfinde: Diese weit verbreitete Sorglosigkeit, die einen ganz schnell mal 200 Euro kosten kann. Täglich. Ein Sofa ist in zwei Tagen weg. Die Seidenvorhänge am Nachmittag. Ein MG B verschwindet in 10 Tagen, ein gut erhaltener E-Type in einem halben Jahr, und immer so weiter. Scary.

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