: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Freitag, 11. Dezember 2009

Real Life Sommer 1983 - Warmes Wasser

Zwischen den Mahlzeiten beim Lesen wieder eingefallen: Ein Tag unter feinen Kindern.

Eigentlich fühlt es sich an, als wären wir damals noch Kinder gewesen, aber es kann nicht stimmen. Denn J. hatte bereits den weissen Porsche, und war nur ein, zwei Jahre älter als ich und V. und E.. Wir waren also keine Kinder mehr, Jugendliche vermutlich. Vielleicht liegt das gefühl, noch Kind gewesen zu sein, am Surfboard, denn als E.s Vater das kaufte, fuhr ich mit, und an jenem Tag radelte ich über die Wiese zu ihnen. Es war einer der letzten Tage mit diesem Rad für Jüngere, bald danach begannen die Sommerferien, und meine Eltern hatten keine Bedenken, mich damit nach Südfrankreich fahren zu lassen, wo auf der Anreise die Speichen hinten brachen und mit jenem Zoooing-Geräusch meine Liebe zu richtigen Rennrädern und allem, was schnell und gefährlich ist, begann. Mit Schutzblechen ist man ein Kind, mit Tempo 90 den Monte Baldo runter ist man erwachsen.

Das Desaster des Jugendrades zwischen Bourg und Belfort kündigte sich schon bei diesem Radweg an, denn die Kette sprang heraus, ich musste sie wieder einfädeln, schnell nach Hause und die Hände waschen - es wäre vollkommen undenkbar gewesen, zu E.s Vater mit schmutzigen Händen zu kommen - und meine Mutter rief dort an und entschuldigte mein Zuspätkommen. Dann fuhr ich hin, und alle mit Ausnahme von E.s Mutter, die nicht vollkommen von diesem für ihre musischen Töchter eher unpassenden Sport angetan war, gelangten wohlbehalten im Geschäft an.



Von da an hatte E. wie alle anderen im Viertel am See ein Surfboard. Wenn Wind war, gingen wir surfen, und wenn nicht, lagen wir an der einzigen Stelle des Sees mit Sandstrand an jener Stelle, wo früher der Förderturm für Kies und Sand gestanden hatte, in den alten Betonfundamenten, und überlegten uns, was die Zukunft bringen würde. Abitur, Studieren, und dann... Wir wussten es auch nicht. E. und ihre kleine Schwester wurden durchaus umgarnt, von jenen, die nichts über sie wussten, nichts von dem rosa Zimmer, das E. bewohnte und vom hellblauen Zimmer, das ihrer ausnehmend schönen Schwester überlassen blieb. Wir hingegen wussten es ja, wir waren ihnen nah, weil wir es wussten, und hätten wir es nicht gewusst, dann hätte man uns erst gar nicht so nah kommen lassen. Ihr Vater war (und ist übrigens auch heute noch) der Inbegriff des korrekten Bankdirektors, und wenn wir mit E. zur Schule radelten, konnte er und wir genau vorhersagen, wo wir ihn überholen würden: Ziemlich genau am gelben Porsche 911 Targe von Frau P., und nie hinter der Strasse, in der V. wohnte, und der uns ab dort begleitete.

Weil ihr Vater so überkorrekt war - übrigens im deutlichen Gegensatz zu ihrer offenherzigen und sagenhaft freundlichen Mutter - wussten wir auch, dass es sich nicht lohnen würde, hier zarte Bande zu knüpfen. Man konnte mit E. schönes Briefpapier kaufen und über Bücher sprechen, aber man lässt sich ja immer auch mit einer ganzen Familie ein, die wiederum die eigene Familie schon aus Zeiten kennt, da die Grosseltern noch Kinder waren. Wir waren uns alle zu ähnlich, viel zu ähnlich, und neugierig ist man stets auf das Unbekannte. Ausserdem hielt man uns - unzutreffenderweise - für Verwandte, und man weiss ja, was alles so gerdet wird.

E. hatte, und damit begann das Unglück, auf dem Bankenball im Stadttheater J. kennengelernt, den Sohn einer anderen Dynastie der Stadt, die in den kommenden Jahrzehnten wirtschaftlich expandieren und ansonsten typisch für diese Region bleiben sollte. J. selbst hatte damit wenig zu tun, der Konzern ist eigentlich einem leitenden Mitarbeiter und weniger der Familie selbst zu verdanken, und damals waren sie schon etwas reicher. So reich, dass sie J. einen Porsche 924 in Weiss zum 18. Geburtstag schenkten. Seine plötzliche Anwesenheit empfanden wir als Provokation, denn J. tauchte nicht nur am See mit lautem Motor auf - seine Eltern wohnten aus mir unbekannten Gründen nicht im einzig richtigen Viertel der Stadt, sondern nur bei den Ärzten - er wollte auch unseren Standort verlegen. Weg von der sandigen Bucht hinter einem Erdwall zu einer anderen Bucht, von wo aus man seinen weissen Porsche sah. Uns mit unseren bunten Brettern war das nicht recht, denn es war der beste Platz, und schon immer hatten wir ihn besessen. J. allerdings legte wenig Anwesenheit auf uns, allein die E. wollte er mitnehmen. Wir waren, das liess er uns merken, ohnehin nur störend.



Es war im späten Sommer, und die ersten Blätter trieben schon im Wasser, die grossen Ferien gingen zu Ende, da wurde E. mitsamt Brett und Schwester von ihrem Vater zu uns gebracht, auch meine Eltern und die von V. brachten uns an den See, und weil es windstill blieb, legten wir uns auf die Bretter und paddelten nach draussen: E. und V. auf E.s Brett, ihre kleine Schwester und ich auf meinem Brett. Es war nochrecht früh am Morgen, und wir sassen auf dem Wasser und redeten über die Schule, die bald wieder drohte, über Bekannte, über nichts. Vom Parkplatz hörten wir das bekannte Motorengeräusch, J. ging an den See herunter, sah uns und rief E..

Ich weiss nicht mehr, was E. sagte, aber es waren keine freundlichen Worte, während J. nach vergeblichem Rufen ins Wasser ging und zu uns heraus schwamm. Zu wenig Platz sei auf den Brettern, riefen wir ihm zu, er solle wegbleiben, er störte uns in dem Frieden, den es nur gibt, wenm Kinder reicher Leute sorglos am See sind, aber das nahm er nicht zur Kenntnis. Unerträglich fanden wir ihn, und V., dessen Mutter den 924 nicht einfach in Silber so geschenkt bekommen hatte, machte aus seiner Abneigung gegen J. keinen Hehl. So paddelten wir weiter, wenn J. näher kam, liessen immer ein paar Meter zwischen J. und uns, hofften, er würde umkehren, aber J. war jung, schlank und keinesfalls schwach. Irgendwann hörte V. zu rundern auf, stellte sich auf das Brett, liess J. herankommen, bis der zu schwimmen aufhörte und E. ansprach. Dann sprang V. vom Brett herab auf seine Schultern.

Und drückte ihn unter Wasser. J. war verschwunden, von V. war nur noch der Kopf über dem funkelnden, stillen See. Es dauerte etwas, bis J. auftauchte, schrie, Dinge schrie, die wir nie gesagt oder auch nur gedacht hätten, und sich mit V. eine kurze Schlägerei im Wasser lieferte. Dann schwamm er zurück und verschwand mit seinem Porsche. Er hätte auch tot sein können, aber das verstanden wir erst viel, viel später. Wir bewahrten das Geheimnis, nur V. gab damit in der Schule an, auch gegenüber der Apothekerstochter A., die sagte es ihren Eltern, und das Gerede nahm seinen Lauf.

V. und E. jedoch waren im Winter ein Paar, und ich küsste zu jener Zeit den Hals der Tochter des Chefs von E.s Vater in deren S-Klasse. J. baute später in der Stadt wenig schöne Hochhäuser, und die Ehen von E. und J., natürlich mit anderen Partnern, sind nur begrenzt glücklich, die von V. sicher mehr als die von E.. Ihre Kinder gehen nicht in die gleiche Schule, sie wohnen auch nicht im gleichen Viertel. Niemand von uns wohnt noch in diesem Viertel, und die Schwester von E. ist auch weggezogen.

... link (14 Kommentare)   ... comment