: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Mittwoch, 21. September 2011

<3












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Bücher wütender Frauen I: Melanie Mühl, Die Patchworklüge

Es gibt auch bei mir so etwas Banales wie Reisehits. Im Frühjahr war es der Marsch der Sanfedisten, letztes Jahr die Missa Celensis von Haydn, davor Simone Kermes und auch mal Summertime. Diesmal ist es die Titelmusik des Films Un Homme et uns Femme von Claude Lelouch. Der Film handelt von zwei allein mehr oder weniger erziehenden Menschen, deren Partner gestorben sind, und die jeweils das Leben dieses verstorbenen Partners leben. Der Mann ist Rennfahrer, dessen Frau sich nach einem Unfall beim Rennen von Le Mans das Leben genommen hat. Die Frau war mit einem Stuntman verheiratet, der bei einem Unfall starb. Man ahnt, wo das endet, aber davor wird es kompliziert.

Und weil die Frau von Anouk Aimee gespielt wird, die man schon aus La dolce Vita kennt und liebt und hier die körperliche Nähe darbietet, die Fellini gezielt in ihrem Verhältnis mit Marcello Mastroiani ausgespart hat, ist dieser Film einer der schönsten, die ich kenne. Der Film ist so freundlich, die Verlusterfahrungen und Unsicherheiten nicht zu verschweigen, aber alles in allem ist er eine grandiose Werbung für die Patchworkfamilie. Zumal für jemanden, der für Anouk Aimee... Der Film jedenfalls stellt eine Frage, auf die ich im Buch "Die Patchworklüge" von Melanie Mühl keine Antwort finde: Was sollen sie denn tun, was für eine Verschwendung wäre es, wenn sich Anouk Aimee wie in der Mitte des Films eben gerade nicht für so eine Patchworklösung hergibt.



Darüber kann man nachdenken - ich jedoch habe den Vorteil, dass ich die Autorin fragen kann. Einfach, weil ich ihre Email und Telefonnummer und Adresse habe und sie als Autorin der FAZ sehr schätze. Würde man mich fragen, wessen Texte mir bei der FAZ am besten gefallen, würde ich ohne zu zögern auf sie verweisen. Ich bin also voreingenommen und beeinflusst und es ist mir egal - das hier ist nicht die FAZ, das ist mein Blog.

Und weil sie und zwei weitere mir recht gut bekannte Frauen diesen Sommer wütende Bücher über das Leben der Frauen geschrieben haben, und sich sie natürlich lesen musste und wollte, gibt es hier meine Einschätzung. Würde ich die Bücher nicht mögen, hätte ich nichts gesagt. Hätte Frau Mühl etwa gegen Lelouch gegiftet, dann, ja, also... hat sie aber nicht. Und auf der Postkarte war auch nicht genug Platz zu fragen, warum sie ihr Aufdentischhauen nicht beim besten Filmargument für die Patchworker beginnt,bei dem Aimee zuerst den Zug nehmen möchte, und am Ende doch mit ihm im Auto fährt. Was die ganze Geschichte und Liebe ist.



Vermutlich, weil das Buch mehr sein will, als nur eine Abrechnung mit der Lockerheit, mit der heute Patchworkfamilien als Teil, vielleicht sogar als bestimmender Teil des Beziehungsmainstreams aufgefasst werden. Mindestens so wichtig sind die Trennungslügen, die angesichts von Scheidungsraten und Unbeständigkeit der Beziehungen erst den Anlass für das Neuanrühren der Familien geben. In meinen Augen wird recht schön und überzeugend dargelegt, wie Medien und das Volk, das an die Stelle dessen trat, was man früher Gesellschaft nennen konnte - BuPrassis, Gossenmimen und Fussballdeppen - diese neuen Beziehungen vom Notbehelf der Unvermittelbaren zur coolen Geste umfunktionierten.

Es wird eben genau nicht die Frage von Lelouch gestellt - sollte Aimee nicht besser doch den Zug nehmen? - sondern eine lässige, jede Kritik und alle Zweifel ignorierende Antwort hingeworfen. Und das aus Lebensumständen heraus, die mit den gängigen Problemen alleinerziehender Mütter so gut wie nichts zu tun haben. Das ist ein wenig so, wie medizinische Körperoptimierung als lässig machbar und problemfrei hingestellt wird: Vorgeführt wird eine heile, funktionierende Familienwelt der zeitlich begrenzten Verhältniscluster. Patchwork als dauernde Selbstverwirklichung. Auf der Strecke bleiben dabei die Kinder und, wenn es doch nicht gut geht, auch noch einiges mehr. Und mit 45 sieht niemand mehr so aus wie Anouk Aimee oder Jean-Louis Trintignant mit 35. Die ledigen Erbtanten des 21 Jahrhunderts sind nicht die Singles, sondern die kaputten Ehehälften.

Das alles passiert nicht einfach so, es erwächst aus einer Vielzahl von gesellschaftlichen Veränderungen, die aufzuspiessen und vorzustellen sich das Buch die dankenswerte Mühe macht: Wertewandel, Sexualität und Attraktivität als Normalität, Trophäenkinder und -frauen, Leistungszwänge, moralische Ambivalenz der Postpostmoderne und neovulgärliberal rücksichtslos umgesetzte Freiheiten. Das klingt hier negativer, als es im Buch beschrieben ist. Je mehr erzählt wird, desto plausibler und angenehmer, ja nachgerade blogartiger ist die Argumentation. Die ganze Fleissarbeit der theorielastigen Zitateunterfütterung liest man - und vergisst sie gleich wieder.



Nun bin ich - kinderlos und Libertin - sicher so ziemlich der Letzte, der anderen in ihre kaputten Ehen hineinreden dürfte, aber natürlich kennt man im privaten Umfeld auch die grossen und kleinen Dramen. Selbst bei uns ist es so, dass die kinderlos Geschiedenen alle Optionen haben, sich andere Partner zu suchen, und die Reste Patchwork als etwas erleben, was angesichts fehlender Optionen unvermeidlich ist. Man kann die Kinder nicht einfach ausschalten, auch wenn das viele vielleicht bei Hochzeit und Schwangerschaft noch glauben. Man muss nehmen, was noch da ist. Es kann sein, dass die Patchworkfamilien dann die beste aller möglichen Welten ist, die allesamt nicht gerade schön sind. Aber darüber müsste man mal reden und überlegen, warum das so geworden ist. Zumindest den mir bekannten Schwiegermüttern solcher Konstrukte spricht das Buch aus dem Herzen.

Ist es ein gutes Buch? Sicher. Ich mag zwar Kinder nicht, aber für jede familiäre Katastrophe, die man sich nach dem Lesen im Vorfeld überlegt, für jede andere Option als Armutsrisiko und HartzIV und die betroffenen Kinder hat dieser Blick unter die Sofas der Patchworker gelohnt. Auch wenn niemand je wissen wird, dass da ein Zug war, der letztlich doch nicht genommen wurde: Es wird so sein. Das Buch ist ein sehr kluges "So nicht". Und weil ich nicht dauernd Lelouch schauen kann - irgendwann kennt man das, und ausserdem trifft eder Film nicht auf die Lebensrealität derer zu, die noch in Beziehungen sind - würde ich mir noch ein weiters Buch wünschen: Mit dem Thema "So bitte schon".

Für den Wunsch war genug Platz und das richtige Bild auf der Postkarte.

Melanie Mühl, Die Patchworklüge ist bei Hanser erschienen, und kostet irgendwas das sich in jedem Fall lohnt.

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