Lesestoff

Angst. Aber habe ich persönlich Angst? Ist sie, weil ich sie anspreche und umschreibe, auch in mir?

Ich lag in der Einschätzung meiner Schulnoten konsequent über den tatsächlich gelieferten Ergebnissen. Ich bin Optimist. Ich habe heute bei einer Auktion ein schriftliches Limit für ein Bild eines schlangendurchzogenen Totenkopfs abgegeben, das mich mit 17% Aufgeld für den Rest des Monats zum Leeressen meiner - nicht schlechten, zugegeben - Vorräte und zum Umstellen der Ernährung auf Kartoffeln und viel Ei zwingen würde, oder zum energischen Stellen einer Rechnung gegenüber dem RBB, oder auch gegenüber ein paar Haifischen. Na gut, es stimmt nicht, es würde auch anders gehen, aber einen Moment musste ich schon nachdenken, wie ich das jetzt noch finanzieren soll - wenn der schlimmste Fall eintritt. Ein Betrüger, der versuchte, mir eine Fälschung unterzujubeln, erzählte mir seine Lebensdevise: Ich lebe über meine Verhältnisse, aber unter meinem Niveau. Da will ich nicht unbedingt hin. Ich hätte Verhältnisse und Niveau gern deckungsgleich.

Einmal war es zu viel, während meines Studiums. Da hatte ich die Wahl, entweder vergnügt einen halben Sommermonat mit üppigen Geldern bei Annast das eine oder andere zum Anziehen zu kaufen, oder einen Teil einer bedeutenden Bibliothek, die ein früh vollendeter, wie man so sagt, Kunstgeschichtler in Regensburg zusammengetragen hat. Eine Bibliothek, deren Abteilung zum Manierismus meine Desideratenliste mit einem Schlag anihilieren würde. Ich kam mit einem randvollen Auto auf dem letzten Benzintropfen in München an und hungerte zwei Wochen, um mich zu kasteien. Am Wochenende fuhr ich mit dem Rennrad heim zu Muttern und mit einem Rucksack voller Lebensmittel zurück, und ich kam durch. Ich hätte auch fragen können, ob sich meine Eltern beteiligen wollten, und ich denke, dass ihnen 12 Bände des Corpus Vitrearium Medii Aevi immer noch lieber gewesen wären als das, was andere Eltern in den Zeiten vor den kostenlosen Pornovideos im Internet ihren Söhnen so zahlen mussten: Wettschulden, Alkohol, Rauchmittel und anderes, was bei mir nie angefallen ist. Aber ich wollte spüren, welche Folgen es hat, wenn man über die Stränge schlägt.

Aber da ist etwas, das mich beruhigt:



Es kann böse ausgehen, natürlich. Aber es gibt einen Optimismus der Tat, und seit diesen beiden Erfahrungen in Mantua bin ich, was meinen eigenen Baukomplex des Jahres 1600 angeht, ein klein wenig strenger geworden. Die Fenster in den Gängen und über den Stufen etwa wurden vor 60 Jahren zum letzten Mal gestrichen, ordentlich und mit guter Farbe, ich habe sogar noch die Rechnung, aber seit Italien geht mit das schmutzige Elfenbein ein klein wenig auf die Nerven. Also werden die Fenster jetzt zerlegt, geputzt, gespachtelt, geschliffen und neu lackiert, für die kommenden Dekaden. Von mir. In meiner Freizeit. Weil ich damit ein paar hundert Euro spare, die man ansonsten den Handwerkern bezahlen müsste. Ich weiss nicht, ob man das als prekär bezeichnen kann, vermutlich nicht, es ist die Art der Familie, zu etwas zu kommen. Rendite ist immer auch die Folge von geringen Ausgaben. Ausgaben, die in einem Gemälde eines Totenkopfs besser angelegt sind. Was ist so eine Bibliothek ohne Memento Mori?

Unter dem Lacktopf ist ein Blatt des lokalen Anzeigenmülls, der hier endlich zu etwas nutze ist. Immobilienanzeigen, was mir vollkommen egal ist. Danke, ich habe schon. Aber die Zahlen lassen dann doch stutzig werden -wieviel? Was kostet so eine Kaluppe in Knoglersfreude, die allein in das Hinterhaus zweimal reinpassen würde? 420.000?

Ich habe keine Angst, es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Unter und neben mir ist gebaute Sicherheit, inverrückbar und zerstörungsresistent.

Und bei der Auktion werde ich mit meinem lumpigen Gebot so oder so absaufen. Vielleicht bekomme ich ja wenigstens den Degen, dann kann ich mich abreagieren, nachts, wenn man frustrierten Fussballhools im Dunkeln begegnet, die glauben, sie könnten ihre Notdurft an dem Mauern des Stammhauses verrichten.

Donnerstag, 19. Juni 2008, 22:03, von donalphons | |comment

 
ich habe gerade (legal! also nicht betrügerisch oder sonstwie "pfiffig"!) 3.500 euro von der steuer wiederbekommen und überlege, ob ich davon mein wmf fächermuster komplettieren soll, eine neue kamera kaufen und die leinentischdecke in der farbe, die mir noch fehlt, oder doch lieber das gemälde, in das ich mich vor etwa einem halben jahr verliebt habe (und das bislang noch nicht anderweitig verkauft wurde), oder ob ich das geld lieber sparen sollte. ich weiß nicht. früher hätte ich einfach was gekauft und scheiß was auf morgen, aber heute verbringe ich den abend oder das wochenende mit dem prüfen von angeboten und kaufe am ende doch nicht, und ärgere mich meist über die verpasste gelegenheit, wenn das besteck für 2/3 des erwarteten preises weggegangen ist und ich wieder mal nicht dabei war. immerhin hat mein mut heute für den erwerb von britischen tea knives und neuen laufschuhen gelangt, und darüber freue ich mich nun. aber irgendwie ist es komisch. times are a-changing, so let's be thankful for small mercies.

(also, ich meine damit: man wird kniepig!)

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WMF-Fächermuster_ Sollte für 2 Euro/Stück auf der Strasse des 17. Juni zu bekommen sein. Das kann nicht so viel kosten. Dito Tischdecken - es gibt da eine alte Türkin, die wirklich viel hat. Sage sogar ich, der ich mit Tischdecken aus einem bayerischen Gasthofsclan - Geschichte muss ich mal erzählen - eingedeckt bin

Digicam: Würde ich erst ersetzen, wenn die alte kaputt ist. Kommt eh noch früh genug.

Bild: Da hat man was, worüber man sich jeden Tag freuen kann. Ich habe ein kleines Gemälde eines Nachens am Strand in der Morgensonne, so gegen 1890, und wann immer ich es anschaue, bin ich für Momente am Meer. Unbezahlbar.

Wie auch immer, Antiquitäten werden nicht billiger. Kaufen ist gleich sparen.

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danke für die tipps. du glaubst gar nicht, wie schwer eine tischdecke für mich zu bekommen ist. die richtige farbe plus das richtige material plus das richtige muster oder uni plus richtiges format für meinen tisch. letzteres ist so gut wie unmöglich, und nähen lassen geht wegen der geringen auswahl an stoffen mit 180cm breite auch nicht so einfach - sonst wär's die lösung. achja, und dann habe ich noch den eigensinn, dass ich sowas gerne in neu hätte, also unbenutzt. ist wahrscheinlich doof, aber sozusagen persönliche hygienevorschrift.

das fächermuster habe ich gerade sehr preiswert gekauft, in berlin, aber nicht am 17. juni. und die digicam auch. ich fotografiere ja seit jahren mit meinem 2-megapixel-handy und besitze ansonsten keinen fotoapparat.

das bild des nachens am strand tät' mich interessieren. und die geschichte der bayerischen hoteldynastie natürlich auch.

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Schon Henry Ford wußte, daß man nicht von dem reich wird, was man verdient, sondern von dem, was man nicht ausgibt. Da ist was dran. Zudem bringt nicht der Kaufrausch echte und tiefe Befriedigung, sondern das eigenhändige Herstellen, Reparieren, Instandhalten. Das scheint sich allerdings mittlerweile von der Selbstverständlichkeit zum Geheimwissen gewandelt zu haben...

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... wie sagte schon Anton Svensson in Michel aus Loennberga?

"kaufen, kaufen, kaufen ... immer nur kaufen "

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Henry Ford lag dafür in anderen Dingen geradezu widerlich daneben.

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Es gab Familienmitglieder, deren Lebensfreude im Satz "Wieda wos gschport" kulminierte. Sparen galt denen nicht im Mindesten als Enthalten, sondern als indirekter Erwerb für Späteres, was dann aber nie kommen sollte. Ich denke, es ist klüger, das Geld dem Auktionator in den Rachen zu werfen, als es von den Maden der Inflation zerfressen zu lassen. Sparen in diesen Zeiten heisst: Ausgeben.

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Das klingt schon so, als hätte Heine sein Brot mit Dir geteilt ;-)

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henry ford, sparsamkeit usw.: volkswirtschaftlich gesehen ist das aber mist. je höher die sparquote, desto mieser die konjunktur. aber so ist der mensch. er verhält sich nicht antizyklisch, was er in einem wirtschaftsystem unserer art allerdings müsste.

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Brot? Heine? Heine war doch einer, der über Brot schrieb, um als Bestsellerautor Torte zu essen.

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Was nimmt der Restauratör: Fensterkitt oder Silikon?

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Sehr wenig Fensterkitt. Das wäre nochmal eine eigene Geschichte, denn die alten Gläser sind Beispiele für solide Handwerkerkunst und brauchen kaum neuen Kitt. Mit Silikon habe ich schlechte Erfahrungen in Sachen Haltbarkeit gemacht. Ich habe hier einen Glaser, der mir richtig guten Kitt besorgt.

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kitt riecht vor allem besser. nach leinöl. auch das ist nachher beim wohnen schöner.

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Verkitten ist wohl Übungssache. Wenn man also vorher ein Gewächshaus verglast hat, dann geht einem das sicher leicht von der Hand, hält und sieht auch schön aus.
Meine Versuche am Gartenhäuschen erinnerten hingegen an Knetübungen im Kindergarten; da war die Silikonkartusche dann doch mein Freund :-)

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ich weiß, es ist der neid der besitzlosen, und beim thema antiquitäten-kauf kann ich auch nicht wirklich mitreden.
aber:
machen sie mal ein experiment und leben sie von drei euro/tag. ohne mutters vorratskammer. da schlägt man dann über die stränge, indem man sich angesichts von regen mal ein s-bahn-ticket leistet (mach ich heute, gönne ich mir mal, juchu, ich irrwisch, nicht mal schwarz fahren, sondern ganz relaxt neben einem mittelständler im plüsch lehnen).
dinge bekommen eine ganz neue bedeutung. z.b. sehnsucht: bei penny über die ein-euro-fuffzig-zuckerstreudose streicheln und sie nicht kaufen.
auch angst fühlt sich anders an. interessanterweise schwächer. nur alles wollen wird geradezu unbändig.

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Ich glaube, das ist eine schwere Frage, die keine leichte Antwort im Kommentar verdient. Sie treibt mich um, und vielleicht schaffe ich es am Montag, eine Antwort zu finden, die ihr gerecht wird.

Aktuell - ich weiss es nicht. Sehr zu meiner Schande.

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Ich finde dieses Thema auch schwierig, aber ich glaube, ich wage es trotzdem, hinzuschreiben, was mir durch den Kopf geht: Auf der einen Seite sind drei Euro am Tag natürlich schon rein objektiv betrachtet sehr, sehr wenig.

Auf der anderen Seite merkt man aber, wenn das Geld richtig knapp ist, überhaupt erst, wie stark sich in unserer Kultur und Gesellschaft alles ums Kaufen dreht. Man belohnt oder tröstet sich durch Käufe, man geht gemeinsam shoppen, man trifft sich in Restaurants oder Kneipen, man spricht über seine Erwerbungen, und man verbringt seine Zeit damit, Schaufenster oder Kataloge zu betrachten und zu überlegen, was man sich kaufen könnte (selbst wenn man es am Ende nicht tut, macht es einen erheblichen Unterschied, ob es theoretisch möglich ist oder nicht). Von der allgegenwärtigen Werbung ganz zu schweigen. Selbst, wenn man stolz darauf ist, "etwas gespart zu haben", dann bereitet dieses Gefühl nur Freude, wenn es eine freiwillige Entscheidung war.

Ich glaube, das ist der Grund für das kaum erträgliche Gefühl, dass einem etwas sehr Wesentliches genommen wurde, wenn man die Mittel für all diese Handlungen nicht mehr hat. Da können andere Leute noch so oft behaupten, dass materielle Dinge nebensächlich seien, es ist eben nicht so, weil sie eine zentrale Rolle in unserem Leben spielen.

Ich bin selbst jemand, der immer von sich behauptet hat, dass Geld und Besitz ihr überhaupt nicht wichtig seien. Aber ich hatte auch mal eine Lebensphase, in der das Geld plötzlich sehr viel knapper war als in den Jahren zuvor (obwohl man es noch nicht als wirkliche Armut bezeichnen konnte). Das hat mich härter getroffen, als ich je gedacht hätte.

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Drei Euro am Tag bedeuten Kohl, zumindest im Winter, mehr als man davon essen möchte. Und niemals Torte.

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drei euro am tag gehen nicht. das, was hartz IV uns ausrechnet (und das ist in den meisten fällen mehr als drei euro, aber immer noch zu wenig), geht nicht. natürlich sind leute erfinderisch, und wenn man einigermaßen körperlich und geistig fit ist, ergänzt man das wenige irgendwie. aber es geht nicht! ich kenne die lebensumstände von der person, die mit drei euro am tag hinkommen muss, nicht, aber ich wünsche ihr von herzen, dass sich das bald ändert.

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Bei drei Euro halte ich Notwehr in Form von steuerfrei nebenherverdienen für angemessen. Wenn es denn geht.

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Hartzies müssen diese Einnahmen aber trotzdem melden und bekommen sie dann auf das ALG II entsprechend angerechnet.

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Würde ich nicht tun. Ich würde das unter solchen Prämissen auch keinem zum Vorwurf machen.

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Das Problem ist nur, es ist trotzdem strafbar. Diese Leute sind dann dran.

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Um Angst ging es übrigens heute auch im politischen Feuilleton von Josef Schmid im Deutschlandradio (auch als MP3).

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wenn die dinge sich nicht nach dem können, sondern nach dem müssen gestalten, kann man plötzlich sehr viel. man lernt z.b. den nährwert einer tüte katjes jogurtgums (300 gr, 0,99-1,09 euro, ca. 1000 kcal) unendlich zu schätzen. ;)

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Totenkopf-Einkaufs-Vorauswahl-Tipp
Falls denn dann nach (wieviel eigentlich?) auseinandergenommenen, geputzten, gespachtelten und zusammengesetzten und gekitteten Fenstern genug Familienkapital angehäufelt wurde (hier würde ich allerdings nochmal dringend die Effizienz der Maßnahme durchrechnen, manchmal ist Auslagern ja doch billiger), empfiehlt sich der Besuch der Stillleben-Ausstellung im Frankfurter Städel: jede Menge Memento Mori + tolle Fischbilder (von den Blumensträußen ganz zu schweigen).

Noch bis 17. August.

So, genug geschrieben. Carpe diem + memento mori, das isses.

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