Die Fortschreibung der Geschichte

Mal ganz ohne Zynismus: Gestern war ich bei Dallmayr.

Ich halte hier kurz ein, denn nun werde ich etwas schreiben, was vielleicht härter klingt, als es gemeint ist, aber:

An der Schokoladentheke waren neben vielen Asiatinnen zwei Frauen, die gerade bedient wurden. Eine alte, schwerhörige Dame in rosabeigegrauem Kostüm, schlank und mit gewähltem Ausdruck, die genau wusste, was sie wollte, und der sie bedienenden Verkäuferin das Gefühl zu vermitteln wusste, dass ihr "Danke" ehrlich gemeint war. Und eine Frau Mitte 30, ungefähr doppelt so schwer, mausgraublond, grünes T-Shirt und mit einer Stimme wie die junge Angela Merkel, wenn sie gerade eine Abfuhr bekommen hat. Eine Frau, die die Verkäuferin quälend lang herumscheuchte und mit ihrem unhöflichen Benehmen hier nicht reinpasste. Ich weiss, es klingt nicht freundlich, jemandem aus Ostdeutschland ohne Manieren das anzuhängen, das "nicht reinpassen", es ist ein freies Land und jeder, der Geld hat, darf bei Dallmayr Pralinen kaufen, und ich schreibe es hier auch nur, weil sie mit ihrer selbst gestalteten "Ich zahle und schaffe an"-Attitüde nachdrücklich an den Tag legte, dass es ihr vollkommen egal war, was irgendjemand von ihr dachte.



Das hier ist der sogenannte Malerwinkel. In Rottach-Egern. Wer das hier länger liest, weiss, dass ich an Rottach nicht gerade mein Herz verloren habe; es ist so eine Art überteuertes und verunstaltetes St. Tropez des Tegernsees. Auch hier kann jeder kommen und bleiben, es ist keine Gated Community, auch wenn reduzierte Poldi-Habsburg-Janker (die heissen wirklich so) über 600 Euro kosten und ein banaler Zwetschgendatschi für 3 Euro das Stück verkauft (!) wird. Und obwohl ich Rottach nicht mag, ist es die Übersteigerung einer Sicherheit, die ich hier empfinde: Die Sicherheit, dass der alte Westen nicht tot ist und die Veränderungen durch den neuen Osten, das Ende des eisernen Vorhangs und der Entsozialstaatlichung der Globalisierung nicht überall durchgeschlagen haben. Rottach könnte Wirtschaftswunderdeutschland sein, oder auch das, was daraus 2008 geworden wäre, hätte es nicht die fundamentalen Änderungen der letzten zwei Jahrzehnte gegeben. In Rottach wirbt man im ersten Hotel noch mit dem Autogramm von Roberto Blanco, und Peter Alexander würde sicher noch die Sitzreihen vor dem Musikpavillon füllen. Rottach könnte als Freilichtzoo für eine Zukunft herhalten, die nie kam. Ich mag Rottach nicht, aber ich wohne nicht weit davon, ich kann hinfahren, mich darüber aufregen, und trotz allem wissen: Selbst dieser konsequent zu Ende gedachte und in unsere Zeit entwickelte Alte Westen mit all seinen Auswüchsen ist mit immer noch lieber als die Zukunft des Landes, die früher oder später die Provinz, München oder gar Holzkirchen erreichen wird.

Rottach ist fies, weil das Leben in einem konservierten Westen mit seinen türkisblauen Elektrobooten und E-Type-Aufläufen sich aus der Ungleichheit speist, die andernorts Arbeitslosigkeit und Hartz IV bedeuten. Die Gründerin von 9live wurde mehrfach gesehen, ohne dass jemand ordinär auf sie eingeschrien hätte, jetzt für eine Wanne voll Geld anzurufen. Der Zoo lebt von Renditen, die andere generieren, nur das erlaubt die Schlangenlederschuhe der Modegeschäftsbesitzer, ihre goldenen Reversos und die Cartiers für 8.990 im Kundenauftrag. Ich würde diese Form der Wohlstandsverwahllosung nicht wählen, aber das Kommende wird auch mir kaum eine Wahl lassen, und es erscheint mir besser, im Zweifelsfalle hier angespült zu werden als in der asozialen Zukunft, in der eine pdeudolinke Propaganda eine Mischung aus Staatsbescheissen und Auflösung von festen Arbeitsverhältnissen die wohlfeilen Strichjungen für neoliberale Abzocker bereitstellt, für die Zukunft der Bailouts und der ultrakurzen Inhalte ohne Hintergründe, die Zukunft, die man nicht mehr gestaltet, aber bechattet und verlinkt, ohne sie vorher genau gelesen zu haben.



Manchmal beschleicht auch mich trotz aller Erfahrung im Osten und den Niedergangsgebieten im Westen der Gedanke, dass es nur umkehrbar sein kann, wenn man persönlich den Ausgleich lebt, aber dann erinere ich mich an die von Nazis bespielte Fabrikruine in Neustadt/Orla, an die trostlosen Einkaufsmeilen in meiner Heimat und an die Inhalte der Glotze, die ich fast nur aus Erzählungen kenne, an Einrichtungskataloge mit Prozentbapperln, an die gelackten Neumünchner Jungsöders mit ihren Handyevents und die bildungsfernen Anjatanjas mit Osthintergrund und Karrierecoachkarriere, an diese Melange aus wirtschaftlicher Freiheit und geistigem Sklaventum. Die Prozesse, die uns dieses abgelöste Fleckchen Rottach und die abgelöste Bundesrepublik beschert haben, sind irreversibel, und die Keife bei Dallmayr ist da noch das allerkleinste Problem, zumal, wenn sie endlich, ohne einen schönen Tag zu wünschen, endlich still ihrer Wege geht, die die meinen nicht mehr kreuzen.

Freitag, 22. August 2008, 01:37, von donalphons | |comment

 
Wieder einmal: Ganz toll geschrieben. Und die Vorstellung, dass man auf Frau C. zu S. "ordinär einschreie", sie solle irgendwo anrufen, macht mich schmunzeln, seit fünf Minuten.

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Sollte es eine Hölle geben, wüsste ich sehr genau, wer dort alle Ewigkeit welche Tätigkeit auf einem glühenden Gitterrost verrichten müsste, und zwar ohne Luftholen und ohne Anrufer.

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Ja, das sind so entlastende Phantasien, die man sich auch gönnen sollte. Leider speisen die, die den niedersten Dreck verkaufen, selbst vom Feinsten. Sie schützen ihre Kinder vor dem, womit sie selbst die Welt verpesten. Es hat sich da neulich eine ganz interessante Diskussion ergeben, auf die ich mir hier mal erlaube zu verweisen.

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Das Interview ist mir auch sauer aufgestossen und ist ein schwerer Schlag für das, was man vielleicht als sozialistische Grundüberzeugung bezeichnen könnte. Ein Mangel an Reichtum bedingt nun aber mal nicht einen Mangel an Skrupel, und im Prinzip wird nur das nachgelebt, was da oben vorgelebt wird.

http://api.braustuberl.de/gallery/Imag eRoot/Prominenz/Medien/Christina%20zu %20Salm-Salm%20&%20Dr.%20Hubert%20Burda.jpg

Und davon, dass Blogger des Burdas Digital Lifestyle Days boykottieren würden, weil die da dem seine Digitalberaterin geworden ist, habe ich auch noch nichts gehört. Kostenloses Fressen geht immer.

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Ist halt die Folge, wenn bei jeder Aktivität wie barcamps & Co. erst einmal die Frage kommt: Wie bekommen wir einen Sponsor? Und die nächste ist dann: Wie bekomme ich einen Billigflug?

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Nehmen, was man kriegen kann. Der Unterschied ist nur, dass die einen bessere Methoden als die anderen haben, die dann Jahr für Jahr wieder die neuen Medien am Buffet spielen dürfen, ohne je weiter zu kommen.

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Ach, die Suche nach Sponsoren
ist längst auch Standardprozedur bei der Organisation von Stadtteilfesten.

Aber den DLD müsste man als Blogger mit einem Rest an Selbstachtung wirklich auslassen. Die Pseudo-Prinzessinnen-Personalie ist ja nur ein vorläufig letzter Schritt einer langen Entwicklung im Hause Burda. Ist doch wenns hoch kommt zwei Jahre her, dass man sich auf dem DLD ganz zwonullig gab und die große Blogoffensive ankündigte. Jetzt besteht die crossmediale Strategie darin, Umfelder zu schaffen für den Verkauf von Bratpfannen. Man möchte eine hernehmen und ein paar Leuten damit paar ordentliche Beulen auf die Rübe dengeln, damit sie sich wieder darauf besinnen, was eigentlich ihr Geschäft ist oder zumindest sein sollte.

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Ich erinnere mich da an ein gesponsortes, schlechtes Essen für Blogger auf einer Buchmesse, organisiert von Oliver Gassner. Jeder so, wie er kann, selber zahlen ist definitiv out, Gunstbeweise annehmen ist dagegen der Beweis der eigenen Relevanz, denn man würde sie nicht bekommen, wäre man nicht wichtig. Als Deko oder Pausenclown.

Burda hat halt auch so seine Moden, wenn es nicht gerade direkt um das Geldverdienen geht. Passt aber auch zu den dort Auflaufenden, die seit 2005 ohnehin nur noch in kommerziellen Kategorien denken. Und weil Blogger die News nun mal unkritisch weitertragen - schliesslich sind sie ja relevant, das muss gefeiert werden - dürfen sie auch das nächste Mal ihrer angeheirateten und wieder geschiedenen Gnaden aus der Hand fressen. Und in die Blogosphäre scheissen. Wenn sie schon sonst nichts können.

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@"auch wenn reduzierte Poldi-Habsburg-Janker (die heissen wirklich so) über 600 Euro kosten" --- Das kostet meine Urlaubsbekleidung auch. Ist allerdings schwarzrot, aus Gore-Tex und heißt The North Face.

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Ein jeder definiert Urlaub eben anders. Für den einen sind die Berge das Ziel, für die anderen nur die Kulisse.

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das no-waving-after-forty kann man nur nachvollziehen, wenn man seine urlaube bislang kulissenmäßig gestaltet hat. so wie überhaupt das übrige leben. northern face ist aber eigentlich eine billige firma. ich wär' nicht ganz so sicher, ob das tatsächlich gore-tex ist. 600,- eur erscheint mir jedenfalls erheblich zu teuer, für was auch immer an bekleidung.

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Schöner Bericht, das letzte Foto könnte auch eine Mischung aus Disneyland und Las Vegas sein. Wenn man sich vorstellt: Gleicher Tag, gleiche Zeit, Berlin-Neukölln, Karl-Marx-Strasse. Irreal alles.

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Ich bin drüber und kann immer noch winken, aber ich hatte ja auch eine schweisstreibende Jugend bis ins hohe Alter. Allein das Zerren am Lenkrad, auch heute wieder. Ich finde Kulissen aber auch nicht weiter schlimm, solange das Schauspiel stimmt. Habe ich schon erwähnt, dass am 31. der grosse Rosstag in Rottach ist, mit Festzug der Fuhrknechte? Und Zehntausende, die das in Tracht sehen wollen?

Und natürlich ist Berlin dann eine andere Welt, und beide glauben, die richtige Welt zu sein.

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Es wirkt calmierend, wie das paternalistisch mitfühlende Herz, dessen Schmelz "sich aus der Ungleichheit speist, die andernorts Arbeitslosigkeit und Hartz 4 bedeuten", oder doch bedeutet, die Sorgen und Nöte selbst noch der niedrigsten Stände mitzuformulieren weiß.

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Da wirkt die gute Tempo-Schulung, wo zwar "anything goes" gilt, man sich aber selbstverständlich von allen Prolls (bayerisch "Grattler", eigentlich Zigeuner, jedoch auf alle Unterschichtler gemünzt) deutlichst distanzieren tut. Wichtig ist es, immer die Diskurshoheit zu behaupten. Das hat man dann mit ganz anderen gemein.

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