Zwei Tage im Herbst IV

Und wenn man schon daran geht, die Welt zu konservieren, sollte man auch ein paar besonders typische Exemplare in typische Gegend einsetzen und ausstellen. Das pensionierte Studiendirektorehepaar, das mit rotkarierten Hemden um den Haidersee am Reschenpass nordicwalkt. Wenn ich im Berg bin, muss ich immer an mich halten, solche Leute nicht zu beleidigen. Nordic Walker passen hier nicht rein, die sind zu hektisch und marschgeil, die SA unter den Wanderern, die sich nicht mal dafür entschuldigen, wenn sie anderen ihre Stöcke reinrammen. Aber obwohl sie nicht passen, sind sie ein gutes Beispiel für das Ende der klassischen Demographie, für Altershektik und den von ihnen mitverantworteten Niedergang des Kapitalmarkts.

Früher starben die Männer mit 67 am Herzinfarkt, die Frauen sassen im Cafe, pflegten ihre Hypochondrie und setzten die Rendite ihrer Bundesschatzbriefe in Torte um. Heute walken sie nordic, schieben ihr welkes Fleisch in Saunen, die teurer sind als der Eintritt in einen FKK-Club, und reden über die Stars der Private Equity Szene, wie man früher allenfalls über Turn und Taxis geredet hat. Die Krise, die mich in diese Alpentäler bringt, ist eine von jungen Versagern in London, Frankfurt, Dublin und New York produzierte Katastrophe, aber bezahlt haben sie alte Herrschaften, die es sich leisten können. Die Erben, denen man nicht nimmt. Die Abgesicherten, die Profiteure des letzten echten Aufschwungs bis in die 70er Jahre. Der typische Spekulant ist kein junger Schleimbatzen, er ist alt, sehr alt und immer im Glauben, er sei klüger als der Markt, auch wenn er nur auf das reinfällt, worauf alle reinfallen.



Vielleicht muss er dann auch sein historisches Cabrio verkaufen, mit dem er zum Stilfser Joch hochkriecht. Oder auch nicht, denn vier Kurven später bin ich wieder vorbei, und er steht mit offener Motorhaube da. Ein Phänomen, das ich als Bentley-Brescia-Paradox bezeichnen möchte. Ich fahre ja jedes Jahr zur Mille Miglia, und das vorletzte mal war da so ein grosser Bentley Le Mans 4,5 Litre, der es auf den tausend Meilen nach Rom und wieder zurück exakt bis zum Ortsschild von Brescia schaffte, grob geschätzt 5 Kilometer, bevor er mit offener Motorhaube im Strassengraben stand, einige Leute mit Taschenlampe um ihn herum und ohne jedes Lebenszeichen.

Ich würde hier am Stilfser Joch aber keinen Mercedes und keinen Bentley haben wollen. Die Strasse wurde im 19. Jahrhundert geplant, entsprechend eng und steil sind auch die Kurven, und wer einen kleinen Roadster hat, ist klar im Vorteil. Ich sehe in den Serpentinen mit einem Blick, ob etwas kommt, und kann schnell wieder Gas geben. Ich fahre offen. Es ist Mitte Oktober, ich fahre nicht langsam, ich bin über 2000 Meter hoch und auf dem Ortler liegt Schnee, aber ich fahre offen und es ist fast schon zu warm für meinen Feraud-Pullover. Meine Lederjacke habe ich schon am Reschenpass ausgezogen, und meine Pekarihandschuhe gegen die weissbraunen Sommerhandschuhe getauscht, die ich in Brescia gekauft habe. 2000 Meter Höhe, noch 750 Meter und 17 Kehren noch bis zur Passhöhe. Es ist Herbst, es ist heiss, und ich bin schnell unterwegs, ich habe einen Termin im Tal auf der anderen Seite, in Müstair, aber darum geht es nicht.



Es geht nur um die Strasse, die Kurven und die Strecke, die manche als "the best driving road in the world" bezeichnen. 48 Kehren in den Himmel, hinauf in das Eis, immer an der Kulisse des Ortlermassivs vorbei, und die Strasse ist ziemlich frei. Es gibt keine realistische Geschwindigkeitsbegrenzung, und wer vor mir ist, lässt mich vorbei. Ich bin schneller, der Wagen wurde für solche Strecken gebaut, und ein Teil dessen, was neben mir in der braunen Ledertasche ist, habe ich mir mit Fahren verdient. Aber kein Fahren ist wie das hier.

Sollte man jemals dieses Museum der guten alten Zeit vor dem Crash machen, sollte man auch ein Exponat mit mir einplanen. Der schlechtere Sohn aus besserem Hause, mit Rolex und Roadster, der über das Stilfser Joch in die Schweiz fährt, und darüber alles vergisst, es zählt nur noch die nächste Kurve und die Beschleunigung, das Hochdrehen des Motors, das Quietschen der Reifen auf dem schlechten Asphalt und weiter oben dann auch das Knirschen auf dem harschen Schnee, der sich im Schatten der Begrenzung gehalten hat, die Arbeit am Lenkrad, die Luft. Die Sonne. Das Gefühl, weit weg von allem zu sein. 48 Kehren entfernt von allen Ängsten ausser der einen, die mich rechtzeitig bremsen lässt. Ich mag es, wenn ich mit Klischee und Vorurteil verschmelze wie der Mozarella im Ofen mit geriebenem Scamorza und Tomate.



Ich weiss nicht, ob das Stilfser Joch wirklich die beste Strasse der Welt ist. Es ist von oben, von 2750 Meter über dem Meer, aber sicher die schönste, die atemberaubend schönste Strasse der Welt. Sie ist ein wenig wie S., bei der ich immer dachte, die ist zu gut und zu schön und zu stark, es wird mich umbringen, wenn ich mit ihr ins Bett gehe, und als es dann soweit war, war es einfach nur gut. Grandios.

Hätte S. nicht vor 9 Jahren einen Idioten geheiratet, zwei Kinder bekommen und ein Haus in Kösching gebaut, würde ich sie jetzt vielleicht anrufen und sagen, dass ich... aber ganz ehrlich, ich habe nichts gegen Kösching und Mütter mit zwei Kindern und einem Mann im mittleren Management muss es auch geben , aber sie würde es nicht verstehen. Sie war grossartig und letztlich dumm, sie hätte so viel tun können, und nun bin ich hier oben, ganz oben zwischen Meran, Bormio und Müstair, und denke an sie und an den Abgrund Köschung, an das, was sie war und was sie nie geworden ist, an den Ausblick und den Moment, an die Strasse mit ihren geilen Kurven und überhaupt nicht mehr daran, warum ich eigentlich hier bin.



Ich bleibe hier oben ziemlich lang, und wäre auf der anderen Seite nicht die Grenze, Graubünden, der Umbrailpass und im Tal unten Müstair, ich würde gleich noch mal runter. Und wieder rauf. Einfach so, für den Tag, für das Leben und genau heute, weil es noch geht. Wer weiss schon, was sein wird, wenn sie nächstes Jahr hier oben die Wintersperre aufheben, und die Schweiz vielleicht der letzte europäische Währungsraum ist, der den Namen noch verdient.

Teil 3.
Teil 5

Donnerstag, 30. Oktober 2008, 23:51, von donalphons | |comment

 
Die Serpentinendraufsicht hat was von Gurskys Bahrain-Bild.

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Man steht oben und ist fassungslos. Man kann da nicht einfach runterfahren, das muss man wirklich erst sehen, um zu begreifen, was kommt.

1 mal das Stilfser Joch im Sonnenschein in einem Cabrio. Gehört zu den 100 Dingen, die man getan haben muss.

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Ein Clarkson-Zitat? ich habe dunkel diese Fahrt mit drei fehlfarbenen SCs in Erinnerung ...

Schöne Strecke auf jeden Fall - da kann keine deutsche Waldhochstrasse mithalten.

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Richtig. Der gute jeremy, so oft er auch daneben liegt, hat damit durchaus recht.

Wobei ich vom reinen Fahrgefühl den runder und dynamischer gebauten Jaufenpass besser finde. Aber warum zwei Schönheiten gegeneinandr ausspielen, wenn man sie verbinden kann.

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à propos schatzsuche (roadmovie, wallfahrt, picaroroman...), dennoch off-topic: hat DA einen guten tipp, wo man in berlin altes porzellan bekommen kann? ich suche passende stücke zu einem bestimmten geschirr, und am 17. juni war ich schon.

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Da denke ich an den Flomarkt in Schöneberg am Rathaus, der war in meinen Tagen gut und oft günstiger als der am 17. Juni.

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merci! wenn der sonntag nicht ganz so rattenkalt wird wie heute, werde ich das gleich mal ausprobieren. ich glaub', das letzte mal war ich vor etwa zwanzig jahren dort, unglaublich.

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hast du das sloterdijk-interview im schweizerischen fernsehen schon gesehen? also, ich bin baff. ich weiß, es ist schon spät, und wir sollten alle längst im bett sein, aber guck mal! (ich hab's verlinkt.)

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Ich habe keinen Fernseher (aber auch kein gutes Verhältnis zu diesem TVilosofen)

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ein gutes verhältnis habe ich auch nicht zu dem. es ist dennoch interessant, und vieles ist richtig. sogar so, dass ich an einer stelle vor freude in die hände klatschte! (und das passiert weißgott nicht oft, in diesen tagen!)

außerdem fällt mir noch ein: bist nicht auch du ein schatzsucher?

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Die Silvretta-Hochalpenstrasse finde ich schöner.

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Als ich letztlich das Timmelsjoch gefahren bin, habe ich wieder gemerkt, wie unangenehm so eine Mautstation aus den Fahrfreuden reissen kann. Als ob man zu schnell gefahren wäre, ohne zu schnell gefahren zu sein - und gerade für mich, der ich notorisch korrekt fahre, ist das ein Problem.

Aber natürlich: Ideal wäre es, wenn sich alle diese Strecken aneinamderreihen würden.

Inzwischen haben sie da oben übrigens einen Meter Neuschnee.

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Das Stilfser Joch im Sonnenschein mit dem Rennrad hochfahren – ich finde, DAS ist etwas, das man mal getan haben muss. Das ist ein Naturerlebnis, das man im Auto nicht erreicht. Und wenn man oben ist, weiß man was man geschafft hat. :-)

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