Zwei Tage im Herbst V

Vielleicht liegt es ja auch an der Schweiz. Ich mein, dass die Leute so anders werden, wenn sie länger dort waren. Oder auch an der Schule, in der die Kinder vom B. gelandet sind. Es hat eine Weile gedauert, aber als wir sie nach dem zweiten Jahr wieder trafen, waren sie anders. Nicht klüger, immer noch etwas, sagen wir mal, also, einfach anders. Sie waren damals sehr schnell verschwunden, das dauerte nur ein paar Tage von der Ankündigung zum Abtransport, und was meine Eltern so hörten, muss es ihnen zuerst überhaupt nicht gefallen haben. Damals wurde bei uns gerade erst ein Golfclub gegründet, und die besseren Leute hatten einen Begriff von Luxus, der sich aus drei Läden speiste, einer für Männer, einer für Frauen, einer für beide, mehr gab es nicht. Die Höhepunkte bei uns waren der Standortball im Winter und die Tennismeisterschaften beim Ruderclub. Von Internaten, die jedes Jahr so viel kosteten, wie eine Kassiererin verdient, hatte man damals nur gehört. Vielleicht polt sowas alles neu: In einer Schule zu sein, in der man so viel kostet, wie die Mutter mancher Freunde daheim verdient hat. Das war bei uns nicht so: So anders, so isoliert, in meiner Schule war auch die S., die Tochter der Sekretärin meines Vaters, da war nicht alles festgeschrieben, die S. wollte damals als JU-Mitglied unbedingt auf den Standortball und hat es dann mit einem Schleimer von denen auch geschafft, auf den Ball auf den ich nie gegangen wäre, denn was will ich bei den Pionieren. Nicht Mensch, nicht Tier, Pionier, haben sie bei uns gesagt, und alle hatten Angst, beim Wehrdienst dort zu landen. Aber die Söhne vom B. waren weit weg, isoliert mit anderen Menschen, und diese Isolation der Schweiz fühle ich, als ichüber die Schneefläche vom Stelvio zum Umbrail fahre.



Man sagt ja viel über die hohen Berge und die tiefen Tresore der Schweiz, obwohl es nicht stimmt, wenn man sich die echten Routen anschaut. Der klassische Steuerhinterzieher fährt entweder nach Vorarlberg in Österreich, von wo aus der Transport gemacht wird, oder am Bodensee vorbei Richtung Zürich, oder nach Basel. Basel ist eine ziemlich hässliche Industriestadt, also, finde ich, aber irgendwo müssen die ja ihre Medikamente und was anderes als Steuerhinterziehung machen, die Schweizer. Andererseits bleibt ihnen auch nichts anderes übrig, wir haben damals in der Schule den Roman "Die schwarze Bande" über das Leben der Schornsteinfegerkinder aus der Schweiz gelesen, einer der seltenen Anklänge von sozialer Gerechtigkeit in unserer erfolgsorierten Erziehungsanstalt, da ist es mir wirklich lieber, wenn sie Banken machen, Schweizer Franken und sichere Konten. Und Internate, in denen aus den zurückgebliebenen Kindern reicher Leute zurückgebliebene Schnösel werden.



Da vorne ist schon die Schweiz, zuerst kommt die italienische Bergfestung, die heute langsam zerfällt. Links ginge es hinunter nach Bormio und dann weiter ins Tessin, wo früher die Kaminfeger herkamen und heute die Russen hinziehen. Hier oben ist eigentlich nichts ausser der Strasse und die Zollstation, vermutlich kann man hier oben auch wenig tun, ausser Geröllklettern und in die Schweiz fahren. In der italienischen Station ist niemand. Wirklich niemand, das Grenzerhaus ist leer, vollkommen ausgestorben. Keiner hält mich an und will in meine Aktentasche schauen, keiner fragt mich, was ich mit dem Geld tue und warum ich dem Euroraum nicht mehr traue. Als ob man das an einem Tag wie heute erklären müsste, da in Österreich viele Leute ihre Aktien loswerden wollen, und vor einer geschlossenen Börse stehen. Ich mein, Mitteleuropa, 21. Jahrhundert. Börsenschliessung. Da bin ich lieber hier oben. Ausserdem ist es schön hier. Und keine Menschen. Ist schon mal jemand aufgefallen, dass die Krise sofort verschwindet, wenn die Menschen verschwinden? Dann noch ein Zöllnerhaus, in dem kein Italiener ist, und noch eines die Strasse runter, in dem kein Schweizer ist, und dann bin ich angekommen.



Ich finde ja, die Schweiz sollte so eine Art Schweizertum h.c. anbieten. Also, vielleicht nicht Schweizertum, das klingt blöd, aber auf Kantonalebene. Dann würde ich jetzt Graubündner i. K. werden. Graubündner in Konto. Das sollte nicht so schwer sein, schliesslich ist Graubünden auch nur eine Zusammenrottung aufständischer Bergbauern gegen die Habsburger gewesen, die jeden aufnahmen, der Österreich und die Habsburger ablehnte. Ich halte Österreich für einen Schurkenstaat, vielleicht nehmen sie mich. Ich würde kein Zürcher sein wollen und auch kein Tessiner, aber bei Graubünden weiss ohnehin keiner so genau, was das ist. Sie haben jedenfalls ein hübsches Wappen, auf dem die drei Bünde zu sehen sind: Gotteshausbund, Grauer Bund und Zehngerichtebund haben 1450 den ersten und damit ältesten Freistaat Europas gegründet. Ich muss mal erzählen, warum ich Davos und St. Moritz nicht so mag, da habe ich nicht so gute Erfahrungen gemacht, aber Müstair, wo ich jetzt hinfahre, ist super.



Dafür muss man den Umbrail runter, und im Mittelteil ist die Strasse immer noch nicht aspahltiert, wie früher. Auch so kann man sich abschliessen: Indem man Strassen baut, die schwer passierbar sind. So muss es in den 30er Jahren gewesen sein, wenn ein Achsbruch das Ende bedeuten konnte. Oder bei der Mille Miglia der frühen Jahre. Weiter unten dann Wald, enge Kurven, ein Schweizer Pickup lässt mich freundlicherweise vorbei, dann Almwiesen und hinten im Tal Müstair, das Ziel der Reise.

Teil 4.

Dienstag, 18. November 2008, 12:13, von donalphons | |comment

 
ein bekannter wohnte und arbeitete für vier jahre in zürich. als er zurückkehrte, litt er unter etwas, was man früher einmal mit dem begriff "neurasthenie" beschrieben hat. inzwischen haben sich die nächtlichen panikattacken gelegt. er führte sie auf den gefühlten calvinismus am arbeitsplatz zurück.

wie einen, der auszieht, das fürchten zu lernen, müsste man herrn merckle mal ein bisschen in die schweiz zum schwingen und steinstoßen schicken. sobald ratiopharm verkauft ist, hätte er ja auch wieder geld, das er an der steuer vorbei in die schweiz schmuggeln kann. ist zwar nicht ganz so gut wie das ausgründen von investmentgesellschaften, aber in notzeiten wird selbst der teufel bescheiden.

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In Zürich muss ich immer an dieses Hotel denken, das seinen Service in Urlaub geschickt hatte, und am Abend davor den Frühstückskäse unter Celophan in das Speisezimmer stellte, gleich neben die bereits aktivierte Heizung - und es war dennoch kein billiges Hotel, un d die Aussicht über den Zürichsee vom Limnatkai auf die Goldküste war grandios. Am letzten Abend habe ich mir dann mit einem schlechten Käsegericht - Glarner Bergkäse - den Magen verdorben. Die Leute in Zürich waren super, aber das hat mich doch etwas, hm, geprägt.

Am Schönsten - vielleicht, weil schon gar nicht mehr Scheiz - ist Lausanne gewesen, mit seinen Antiquitätengeschäften auf dem Berg.

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wo ich noch nie war, aber mal hin will, ist toggenburg. und zwar an einem 3. oder 5. november, da gibt es bei denen so ein fest.

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Begleitlektüre: Peter Weber, Der Wettermacher (1993)

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noch eine begleitlektüre:
ulrich bräker, lebensgeschichte und natürliche ebentheuer des armen mannes im tockenburg.
bei diogenes, glaube ich (wie noch so mancherlei gutes und schönes, suters business class würde über ecken auch zum thema passen).
oder hier: http://guten berg.spiegel.de/?id=5&xid=233&kapitel=1#gb_found

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Mich wundert, dass es keine literarische Aufarbeitung des Geldtransfers in die Schweiz gibt. Armut und bauern kann jeder.

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dystopie schweiz
christian kracht, "ich werde hier sein im sonnenschein und im schatten" (out in the woods, in the shadow.)

beschreibt, was hätte passieren können, wenn lenin in der schweiz geblieben wäre.

"flammen über europa. deutsche luftschiffe bombardieren das tief in den fels gegrabene machtzentrum der schweizer sowjetrepublik..." (klappentext)

"die alpen waren, obwohl als réduit fast vollständig ausgebaut und untertunnelt, zumindest an einigen stellen noch unentdeckt zu überqueren. diese gewaltige ingenieursleistung, dieser triumph der arbeiter, vor über hundert jahren mit dem festungsausbau des kernlandes zu beginnen und bis heute weiterzubauen, ein nie endendes werk zu schaffen, das war die eigentliche stärke, die unagreifbarkeit der SSR. die alpen waren von stollen durchzogen, innen ausgehöhlt, hunderttausende soldaten konnten sich zurückziehen ins innere des massivs, dutzende werst in den stein und in das erz hinein. andere große völker der geschichte, wie die amexikaner, hatten pyramiden gebaut, wir gruben tunnels." (s. 48)

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Geht es nur mir so, oder unterscheidet sich dieser Text stilistisch ziemlich erheblich von dem, was wir sonst vom Hausherrn zu lesen bekommen? Nicht, dass es mir nicht gefiele.

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mir geht es auch so. es ist in der art des "stream-of-consciousness" geschrieben, die tonlage ist im vergleich zu sonst ein wenig zurückgenommen, und es hat einen offenen schluss, wahrscheinlich weil es in dieser serie noch weitergeht. insgesamt wirkt es weniger gestaltet und mehr biografisch. ich glaube aber fest, dass soll so, und was es soll, hat bestimmt mit der unsicherheit in der krise zu tun.

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Es ist der Text eines erheblich übermüdeten, von Ängsten getriebenen und seine eigene Existenz und die Regionalgeschichte rekapitulierenden schlechteren Sohnes aus besserem Hause, der eine Stinkwut hat, im Jahr 2008 in die Schweiz fahren zu müssen, weil all die superklugen Könner den Karren in den Abgrund fahren. Er ist müde, hat sich den Tag davor mit Leuten gestritten, beruflich unter Druck und ausserdem eigentlich alles andere als ein Freund der Schweiz, und im Ergebnis denkt er unzusammenhängend und entsprechend der Gelegenheiten. So würde ich das erklären; es basiert auf meinen Notizen des Tages, obwohl ich selbst nicht so bin. Nicht ganz so.

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nachvollziehbar. ich selbst hätte große lust, einen ähnlich gelagerten fall und gemütszustand auf noch krassere weise herauszuarbeiten, aber durch die wiederholungen der letzten jahre hat das beschreiben solcher zustände inzwischen seinen kathartischen charakter verloren. vielleicht ist es aber einfach auch eine noch tiefer empfundene müdigkeit. auch hier bricht gerade der winter an.

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Diese Geschichten mag ich sehr. Und die Schweiz mag ich auch, obwohl ich mich manchmal fürchte dort.
Vielleicht wären wir auch so geworden, wenn wir nicht so wären, wie wir sind. Aber das führt zu weit.

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Nur so...
...hieß das Buch nicht "Die schwarzen Brüder"?
Aber trotzdem Danke für die Erinnerung an jenes,
*gerade* in der momentanen Situation eine empfehlenswerte Lektüre. (Mann, hab ich damals geweint, unter der Bettdecke)

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"Die schwarzen Brüder" ist richtig, und ja, mir ist es beim Lesen auch ziemlich unter die Haut gegangen. (Ich muß es aus der Gemeindebücherei ausgeliehen haben, in meinen Bücherregalen finde ich es nicht.)

Es gab auch eine Verfilmung im Auftrag der ARD (und vermutlich in Koproduktion mit dem DRS), an die ich mich noch dunkel erinnere. Die Atmosphäre des Buchs wurde da ziemlich gut getroffen.

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Ups, ihr habt natürlich recht. Ich sag mal, das Alter...

Es war ein ziemlich schockierendes Buch, das stimmt. Vorzüglich als Erpressungspotenzial (Wenn Du nicht lernst...) geeignet.

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Schwarze Brüder
Mich hat es damals auch tief beeindruckt, das Buch, und ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich mit dem armen Giorgio(?) mitgelitten habe. Die Verfasserin heißt Lisa Tetzner und war übrigens mit Kurt Held ("Die Rote Zora und ihre Bande") verheiratet. Sind sich thematisch ja auch nicht so unähnlich, diese beiden Bücher.

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