Niemand hat es ihnen erzählt.

Was das ist, New Journalism. Maxim Biller kennen sie auch nicht, und Tempo ist ihnen kein Begriff. Vielleicht sowas wie MAD? Hunter S. Thompson sagt manchen vage etwas, und erst, als ich hier Fear and Loathung in Las Vegas erwähne, schnackelt es bei manchen. Das ist hart.

Irgendwas läuft in diesem Studium falsch. Diesem Studium, aus dem die Leute hervorgehen sollen, die ich später mal bewerten muss, deren Artikel bei mir landen. Natürlich ist Kommunikationswissenschaft eine Wissenschaft, in der es um Dinge wie Leserverhalten und Rezeptionsgewohnheiten geht. Und noch ein paar anderes Sachen, die aus keinen einen vernünftigen Schreiber macht. Aber so ein klein wenig Ahnung von der Revolution, die die 100 Zeilen Hass bedeutet haben, wäre den Leuten hier schon angemessen.



Es geht noch nicht mal um Blog oder Journalismus. Es geht nicht um Online-Werbung, Traffic und Marktpenetration. Es geht um die Freiheit, unmittelbar das zu tun und zu schreiben, was man will, im Gegensatz zu den zurchtgestutzten, kastrierten, Halbwirklichkeiten erlügenden Medien, diesem Drecksmoloch, dieser stinkenden Jauche der 4. Vergewaltigung, in der es nur noch wenig Raum gibt zwischen den Hirnficks der Zeit- und FAZ-Fäuletons und dem Infotainment-Rülpsern der RTLII-News, wo die Radischs und Schirmachers dieser inzestuös egoschwanzlutschenden Welt jeden Spass, jede Freude, jede Nichtsinnüberladenheit die Existenzberechtigung absprechen und auf der anderen Seite nur das gebracht wird, was Quote und Product Placement Fees bringt.

Dazwischen muss etwas neues entstehen, schnell, echt, subjektiv ehrlich, impulsiv und auf Augenhöhe mit den Lesern. Man kann es Blogs nennen, man kann über eine Renaissance des New Journalism debattieren, solange nur dem Infoabschaum und seinen obszönen Bizzrülpsern und PR-Stinkern etwas entgegengesetzt wird. Dass sie auch längst auf der anderen Seite versuchen, ihren Dreck zu verbreiten, liegt in der kranken Natur ihrer verkommenen Ekelbranche, aber ich denke nicht, dass sie ausser ihresgleichen Publikum dafür finden werden.

Im Limbo, in der Entwicklung noch darunter sind die Nachwachsenden, und sie haben die Freiheit, sich neben der Verwertung noch was anderes aufzubauen. Den vorgekauten Müll in ihrer privaten Publizistik beiseite zu lassen, über sich selbst zu schreiben oder was immer ihnen gefällt. Die Gargantua-Dimensionen der freien Form ausprobieren, ihre eigene Sache zu schaffen. Sie haben auch die Freiheit, es bleiben zu lassen, klar. Nur weil der eine will, muss der andere noch lange nicht. Und kann weitermachen mit dem Dienst nach Vorschrift, gerne auch mit 20 unbezahlten Überstunden.

Zu dumm nur, dass sich die Leser keine Vorschriften machen lassen. Da helfen auch keine Überstunden. Vielleicht hilft ihnen irgendwann auch einfach der Leidensdruck bei der Entscheidung. Früher musste man den als Journalist ertragen; heute kann man sich wehren. Blogs haben nichts zu verlieren – die Medien dagegen alles, ihr Monopol, damit ihre einzige Existenzberechtigung, ganz gleich, welche beknackte Jury der Bildergänzung Spiegel Online welche Preise verpasst.

Freitag, 1. Juli 2005, 01:19, von donalphons | |comment

 
Das ist doch immer das Gleiche. Als Tempo an den Start ging, studierte ich Publizistik, und wir lasen Zeitungslehre von Emil Dovifat. Die Ersten von uns, die QuarkXPress beherrschten, waren die Leute, die subversive Schriften und Underground-Magazine produzierten, nicht die Karrierestudis, die paukten, was Bleisatz von Lithografie unterscheidet :-)

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ich bin vielleicht drei, vier jahre älter als deine studenten und habe "100 zeilen hass" auch nur noch als ziemlich überflüssigen ausläufer im zeit-magazin mitbekommen, wo er sich - so meine erinnerung - zb darüber ausgelassen hat, warum er bärbel schäfer nicht mag. sonderlich originell oder wichtig fand ich das nicht (mehr). ich finde, dass man den studenten das nicht vorwerfen kann.

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100 Zeilen Hass traf dummerweise eine Generation von ITlern, PRlern und VCs ins Mark, nicht zu vergessen alle, die etwas mit Weiterbildung und Arbeitsvermittlung zu tun hatten. Er hat sich vor allem darüber ausgelassen, dass 1999 Leute wie Wippermann behauptet haben, die Zukunft im Handel gehöre dem eCommerce, und zwar dem B2C-Bereich, und heute ist von den Unternehmen, die mit zweistelligen Milliardenbeträgen an Investorengeldern damals gegründet wurden kaum noch eins existent, nur die hohlen Trendgurus, die die NE-Blase herbeigeredet und zig Leute um ihre berufliche Zukunft geprellt haben sind ungeschoren davongekommen. Das steht in dem Beitrag, und wenn Du das für "ziemlich überflüssig" hältst, dann möchte ich mal sehen, ob Du das auch vor einer Kolonne langzeitarbeitsloser Mediengestalter im Flur der Agentur vertrittst und wie lange Dein Zahnarzt hinterher braucht, um die Knabberleiste zu richten.

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"100 Zeilen Hass" fand ich großartig, der einzige Grund für mich, noch extrem minderjährig, irgendeinem großen Bruder irgendeiner Freundin die Tempo abzuschwatzen.

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100 Zeilen Hass waren zu Beginn, 1987 die 100 schuss panzerbrechende Munition, die die selbstzufriedenen Arschlöcher der damaligen Medienplutokratie in ihrem scheinbar unangreifbaren posthitlerisch-kohlschen Wendehalsmedientank verdient haben. Plötzlich war da einer, der ihre verlogenen Konsensschreiberei mit blankem Hass und sonst gar nichts anging; keine Debatte, kein Ausgleich, schlichter Wille zur Destruktion. Das gab es in Deutschland seit 1933 nicht mehr. Das war dringend nötig.

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che2001: keine ahnung, wovon du da redest. ich habe mich auf billers "100 zeilen hass" bezogen, zum schluss (1995 oder 1996) eben im magazin der zeit und eben da "ziemlich unwichtig". das mag natürlich vorher anders gewesen sein. worauf beziehst du dich mit den wippermann-sachen? sicher nicht auf biller, oder [upd.: ok,
das
war wohl gemeint. davon habe ich allerdings nicht gesprochen.]

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Man sollte nicht unbedingt den Biller von der Zeit mit dem Biller von der Tempo vergleichen. Der hätte sicn mal besser mit Trotzkis Theorie der permanenten Revolution beschäftigt, dann würde er wahrscheinlich heute nicht für das Rechtsanwältewartezimmerblättchen Cicero schreiben.

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Sorry
Sorry, Wilhelm Raspe, das war eine Bildungslücke meinerseits.
Tempo war für mich immer ein belangloses Yuppie-Wichsblättchen, das man rechts liegen ließ. Die einzigen 100 Zeilen Hass, die ich kenne, sind von Don Alphonso:

http://www.dotcomtod.org/de/kolumne/artikel/2003/10/15/008522/

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Tempo und Wiener
hatten durchaus ihre Verdienste - zumindest in den ersten Jahren. Irgendwann hat der permanente Versuch, immer neue Trends in immer kürzeren Abständen auszurufen, natürlich in eine gewisse Beliebigkeit geführt. Aber dass sie gängige Geschichten gegen den Strich gebürstet haben, hat die Presselandschaft und den Journalismus schon um eine neue Facette bereichert.

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ich sehe das auch so: die etablierten medien haben alles zu verlieren, zuerst ihre glaubwuerdigkeit und dann ihr monopol.

das was frueher technisch nicht ging, naemlich als mensch information aus vielen einzelquellen zu bekommen anstatt nur einer oder zwei, das ist jetzt fast kein problem mehr.

und wenn dieser prozess fortgeschritten ist, wird es auch nicht mehr moeglich sein, bestimmte themen politisch zu "spinnen" wie es ja momentan noch fast jeden Tag getan wird.

Da ruft Frau Merkel mal bei diesem Chefredakteur durch und Herr Schroeder bei jenem. Das ist dann eben vorbei.

Was Deine Kritik an den sich anschickenden Kommunikationswissenschaftler angeht, Don Alphonso: Lass sie mal ueber sich selbst, ihre Weltsicht und ihre Meinung zu Kommunikation reden. Vielleicht ist deren Perspektive schon so extrem anders, dass sie sich ohne Nachfragen gar nicht trauen drueber zu reden.

Man unterschaetzt die jungen Leute manchmal. Was ich so zu hoeren bekommen von 16-jaehrigen... auf der einen Seite voellig desinteressiert am Weltgeschehen. Auf der anderen Seite wissen sie aber genau warum.

Und das beeindruckt mich dann wieder.

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"Lass sie mal ueber sich selbst, ihre Weltsicht und ihre Meinung zu Kommunikation reden."

Genau dafür habe ich plädiert, habe ihnen gesagt, sie sollen es doch auch mal versuchen, den Hirnfick, den man ihnen beibringt zu vergessen, "ich" schreiben und sagen, was sie selbst sehen und erleben - nicht das, was man ihnen zum sagen vorgibt. Erfolg? Man wird sehen.

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@don alphonso
Zugegeben, in deinem Bemühen, die etablierten Medien zu stigmatisieren, bist du sehr konsequent. Dein Argument, die Medien zur Aufgabe des auch qua Stil erhobenen Anspruchs der Allgemeingültigkeit ihrer Aussagen zu bewegen, kann ich nachvollziehen. Ich selbst habe irgenwann in der Schule gelernt, subjektive Meinungen auch als solche zu kennzeichnen - und das Wenigste in den Medien ist wirklich objektiv. Dito bis hier also.

Aber mal eine ernst gemeinte Frage:

Wenn für dich FAZ, Spiegel, ZEIT (und dann sowieso auch Stern etc.) "Hirnficks" sind - was kann man dem interessierten Leser dann überhaupt noch empfehlen? Wohl kaum "BILD dir deine Meinung", auch wenn der SATZ (!) es wohl ganz gut trifft ;o)

Leider bin zumindest ich häufig abhängig von Information, die ich selbst nicht beschaffen und folglich nicht selbst bewerten kann. Ich muss folglich zumindest auf den Wahrheitsgehalt der Infos aus FAZ etc. pp. vertrauen. Und ganz ehrlich, das tue ich eher bei einem "etablierten Medium" als bei Blogs, die lese ich, wenn ich Meinungen will.

Und mal wieder zu deinen Lieblingsgebashten "Nachwuchshirnfickern": die tun nichts anderes, als dafür zu sorgen, dass sie genommen werden. Aus deiner Sicht, die von materiellen Sorgen IMO weitestgehend befreit ist, greift deine Kritik manchmal ein wenig zu kurz. Du scheinst einen persönlichen Hass auf bestimmte Institutionen zu haben und überträgst das auf Menschen, die mal Teil davon werden könnten/wollen. Ich kann das nachvollziehen, geht mir manchmal auch so.

Aber ich denke, dass man gerade bei deinem Feindbild ein Bewusstsein für das Berufsethos, oder wie immer du es nennen magst, wecken sollte. Deine Tiraden finden sicher den Beifall deiner Gefolgschaft, aber die Leute, die die Botschaft am dringendsten nötig hätten, wenden sich wohl eher ab, oder?

Ich meine, nicht dass deine Texte nicht unterhaltsam wären... :o)

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@ mark: Den Wiener habe ich bisweilen auch gelesen, was mich in meinen Kreisen schon zum Rechtsabweichler machte. Die für mich meinungsbildenden Publikationen waren die Materialien für einen neuen Antiimperialismus, Subversion und Ästhetik & Kommunikation, als bürgerliches Feuilleton wurden Konkret und Titanic gerne gelesen, fürs kämpferische Herz das RAF-Angehörigen Info, Clockwork 129a und Arbeiterkampf. Als journalistische Vorbilder betrachtete ich Bob Woodward, Egon Erwin Kisch und Frank Cappa.
Vor einem solchen Background erschienen die Unterschiede zwischen Tempo und sagen wir, Quick oder Bunte bedeutungslos.

Abgesehen davon waren Wiener und Tempo dadurch, dass sie trendsetter-Magazine waren, ohnehin Feindpresse, denn wer Trends nachläuft, ist kein Linker mehr, sondern steht unter der vollendeten Heteronomie der Kulturindustrie, so dachten wir als gute Autonome. Später, als ich als gesettelter Altlinker (wobei "Altlinker" nur meinte, über 25 zu sein) meine Lesegewohnheiten auf die fixe Kombi Konkret, Titanic, Frankfurter Rundschau, Junge Welt und Woche umstellte, waren Wiener und Tempo längst zur Massenware neben Maxim, Prinz, Men`s Health etc. geworden, ja, einer der eigenen Genossen machte jetzt selbst so ein Blatt , nämlich Max.

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Ausbildung ist Umformung
Aber selbstverständlich geht es im Studium der Publizistik /KW "um Online-Werbung, Traffic und Marktpenetration." Nur darum geht es doch. Es ist eine "Aus"-Bildung. Sie - auch ich bin einer - sollen bestimmte Fähigkeiten ausbilden, nicht sich bilden. Und natürlich heißt das, dass sie marktfähige Fähigkeiten ausbilden sollen und müssen. Die meisten machen das dann mit Überzeugung, weil sie gelernt haben, dass sie es dann besser machen. Glückliche Drohnen.
Und was die Lämmer angeht, die Du Leser nennst. Erst wenn sie die Schlachtbank sehen, wollen sie weglaufen, dann denken sie: "Hätte ich doch auch mal jemand anders als den Metzger gefragt, was in diesem Gebäude ist." Mit einem schönen Gruß und einem Kompliment, Oz

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