Real Life 04.09.2005 - Guy Bovet, Tango

Du kommst absichtlich spät. Wer spät kommt, bekommt vielleicht nicht mehr die besten Plätze, kann sich aber von gewissen Gruppen absondern. Von den Kirchenvorstandsmitgliedern zum Beispiel. Von den Chefarztgattinnen. Von den jungen Müttern, die sich das auch nicht vorgestellt hätten, beim Abitur. Von all den schalen Erinnerungen an gescheiterte Lebensentwürfe, von denen, die aufgegeben haben zu hassen und zu fühlen. Von allen, die aussehen wie ihre Mütter und heute die gleiche Moral vertreten. Irgendwo ist immer ein Platz, wo dich keiner kennt und anfaselt. Dann ertönt auch schon die Orgel, und ein Concerto von Vivaldi bringt dich auf andere Gedanken.

In der Pause fällt dir auf, dass du einen strategischen Fehler gemacht hast. Anna-Maria ist da, schräg hinter Dir. Es hätte auch schlimmer kommen können. Ihr Bruder könnte dabei sein. Der mal verheiratet war. Mit Iris. Die mit dir befreundet ist. Ziemlich gut sogar. Und Anna-Maria war immer schon die Spiessigste von allen. Hat damals so lang rumgeredet und intrigiert, bis es seit über 15 Jahren das erste mal einen Leistungskurs Religion gab. Das war der Tag, an dem die 68er starben. Auch eine Art, an 15 Punkte zu kommen, wenn man sonst sicher durch Abi gerauscht wäre. Sie hat dich gesehen, gegrüsst, und du reagierst mit einer angedeuteten Verbeugung, so wie der Hidalgo da oben an der Decke. Sobresaliente, e vero. Der hatte wenigstens eine Knarre dabei.



Du bist schutzlos, und als Guy Bovets Tango und der Applaus verklungen ist, quetscht sich Anna-Maria schnell an den anderen Honoratioren vorbei und verstellt dir den Weg. Mit diesem derb-fröhlichen Gesichtsausdruck, der hierzulande immer Betrug und Lüge verheisst. Sie weiss das mit Iris auch. Inzwischen hat es ja in Kaffekränzechen und bei Golfturnieren auf der 9-Loch-Anlage die Runde gemacht. Iris geht´s blendend, da muss es einen Lover geben, die anderen beiden Herren in ihrer Umgebung sind verheiratet, nur du bist de iure zu haben, also... wenn die wüssten... aber seit Wochen dürfte klar sein, dass du es bist.

Sie macht harmlosen Smalltalk über die letzten Jahre, über das Konzert, sie klebt an dir wie eine Klette, und als du eine Atempause nutzt um zu erklären, dass du jetzt zum Konditor gehst und Kuchen besorgst, quiekt sie laut auf und findet das toll, weil sie da auch hin will. Der korrekte Anschein für die umstehenden Spiesser ist gewahrt, und so geht es durch die Gassen hinunter nach Süden, zum Paradies der Nachwerksüchtigen. Wir sind noch keinen halben Block weiter, dann kommt die Frage. Was mit Iris ist.

Einen Moment spielst du mit dem Gedanken, ihr ein paar faustdicke Lügen in ein wenig Wahrheit zu verkaufen. Oder einfach ein wenig zu erzählen, über den Körper, den ihr Bruder einfach nicht zu schätzen wusste. Darüber, wie sie schnurren kann, wenn man ihr kleine Komplimente macht, und dass sie mit 5 Kilo mehr als zur schlimmsten Zeit, während des Scheidungskriegs, wirklich phantastisch aussieht. Dass es ihr, was immer auch passiert ist, heute gut geht. Ganz anders als an Weihnachten, als du die Scherben ihrer Persönlichkeit in einer Kneipe aufgesammelt hast. Aber du entscheidest dich für die grobe Variante, und fragst sie, warum sie das eigentlich wissen will. Wegen der Gerüchte, meint sie.

Jetzt könntest du verständige Antworten geben, was höflich wäre, oder diabolisch grinsen, was als unfein gewertet wird. Du siehst aus den Augenwinkeln, dass sie dein böses Lachen hasst, es erfüllt ihre schlimmsten Befürchtungen. Was ist los, Anna-Maria? Will er sie wieder? Klappt es mit seiner neuen Freundin nicht? Hat er es sich nochmal überlegt, oder ist es nur wegen der Kosten oder den Steuern? Oder wegen dem Ruf? Soll sich Iris jetzt öffentlich verbrennen oder was?

So sind sie, die besseren Familien, womit man nicht umgehen kann, das erduldet man schweigend, und Anna-Maria schreitet lang, blond, hochaufgerichtet weiter neben dir her, sie schluckt alles, und als du dich wieder gefangen und keine weiteren Angriffe auf das Ehepharisäertum mehr auf Lager hast, gibt sie Antworten. Er ist um ihren Ruf besorgt. Und seinen. Ja, er will sie wieder. Und wenn du ihr Bestes willst, sprichst du mit ihr darüber. Ungeschickt hangelt sie sich von Forderung zu Forderung, argumentiert mit deinem Ruf in der Stadt, das hat sie in ihrem Leben zwischen Rosenstöcken und übler Nachrede noch nie getan, hey, was für eine verkorkste Premiere. Es geht ihr nicht gut dabei, sie hat den Rubicon überschritten, jetzt muss sie da durch.

Du lässt sie reden, du kennst all die Argumente, die Wünsche, den Traum von der perfekten Ordnung des lebenden Friedhofs. Vielleicht ist es an der Zeit, wieder weiterzuziehen in eine Stadt, wo dich niemand kennt und du nochmal von vorne anfangen kannst, aber dann seid ihr beim Konditor angekommen, dein Blick fällt auf die Torten, und diese Sachertorte da hinten, das ist die, die du schon mal Iris von den Fingern gele...

Anna-Maria? sagst du draussen vor der Tür ganz leise zu ihr. Weisst du eigentlich, wie es ist, wenn sie gegangen sind und du selbst die Stellen mit den Verletzungen drückst, um es nochmal zu spüren, den Schmerz, die Lust und das alles?

Schöne Grüsse an Deine Frau Mama, Anna-Maria.

Mittwoch, 7. September 2005, 13:00, von donalphons | |comment

 
Ich weiß schon, warum ich in einer Großstadt weit weg von "daheim" lebe...

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Ohne Blog wäre das wohl auch für mich sehr schwierig. Aber wenn man es erzählt, wird es erträglich. Wenn man so will, ich das Blog mein Kaffeklatsch. Und sollten sie es je finden, sollte ich auf den Mars auswandern.

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Nachtrag: ich war gerade auf dem Wochenmarkt. Wäre ich vor dem Text dort gewesen, wäre mein Urteil nachsichtiger ausgefallen. Essen versöhnt Bayern.

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Dem großen Hühnerpuster sei´s getrommelt und gegeigt, dass ich solche Verhältnisse nie kennengelernt habe!

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Manchmal hat das auch seinen Charme. In den Zeiten vor Becker hatten Tennis- und Ruderclubs noch ein wenig den Hauch von besserer britischer Gesellschaft, es war langweilig und dünkelhaft, aber als junger Mensch merkt man das nicht, wenn man ganz in weiss neben Andrea sitzt und gerade entdeckt, dass man ihre Haut mag.

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Bei Golf- und Poloclubs ist das heute noch so. Meine Jugend verlief hingegen eher so in den Kreisen, wo erster Körperkontakt mit den Mädels sich im Clinch entwickelt: In einer gemischten Gruppe im Judoverein.

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Dann solltest Du mal oberbayerische Golfclubs von innen erleben, das hält man nicht lang aus.Links herzählt einer von einer komplizieten Nieren-OP, rechts einer was von Investmentstrategien. Furchtbar. Ich kenne allerdings einen ganz netten Club bei Würzburg, aber das ist eine ganz andere Geschichte.

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