Real Life 19.04.06 - 160 Jahre
Bücher kauft man nach Empfehlung, und auch, wenn die Empfehlung per Mail und Amazonlink kam, so gehst du doch ganz klassisch den grossen Bogen durch dein Altstadtquartier zum Buchhändler deiner Wahl; einem Rebellen, der hier in diesem geistig verkommenen, rabenschwarzen Spiessermoloch einen linken Buchladen eröffnet hat, in dem du als Schüler rote Sterne gekauft hast, die dir damals im Konflikt mit der Schulleitung und all ihren Uralt-, Mittelalt- und Neocons eröffnet hätten, in welcher Welt du lebst - hätte es dir die Familiengeschichte nicht schon lange anderweitig bewusst gemacht. Hier also kehrst du ein; du weisst, es ist ein Buch, das dem Händler gefallen wird, und deshalb hat er es sicher auch da. Und tatsächlich, es ist vorrätig.
alessandro piperno, mit bösen absichten, fischer 2006, bin auf seite 70, brilliant!
Ihr unterhaltet euch ein wenig über den Betrieb; er hat es in der FAZ gelesen und fragt, wie es so läuft. Gut läuft es, keine Frage, 70 Leute sind in den grossen Städten kein Problem, aber auch in kleineren Orten scheint es zu gehen...
Es entsteht eine kleine, gedankenschwere Pause, bis er anhebt und sagt, dass diese Stadt hier mit ihren 30 Lesungen pro Jahr gar nicht gut ist und sowieso nur die alten Leute kommen. Immer die gleichen Gesichter, die man ohnehin aus dem Theaterabo kennt und aus dem Konzertverein. Du sagst, dass du hier auch auf keinen Fall lesen wolltest, hier kennt dich jeder, du hast einen Clan, der es nicht lieben würde, würde man hier vor Ort die schmutzige Wäsche des Kaffs vortragen, derer du so viele kennst, zum Beispiel die Sache mit dem neuen Haus des Sohnes der Erfolgreichen und seinen Gone-with-the-wind-Säulen in pastellorange und den drei Edelstahlringen als Kapitelle. Oder die späte Schwangerschaft von Frau H., deren bigotter Mann ganz sicher nichts vom Tennislehrer der ältesten Tochter ahnt.
Du breitest etwas Schmutz und Schund aus der letzten Konzertpause aus, hinten im Laden spitzt eine alte Schachtel die Ohren, und die Azubine, ein hübsches junges Ding, kichert hinter der Säule. Oh, Publikum, dankbares, interessiertes Publikum. Dennoch. Hier also würdest du ganz sicher nicht lesen wollen, wer weiss, ob überhaupt jemand käme, nicht wirklich, ausserdem, ohne Partner ginge das auch nicht.
Nun, sagt der Buchhändler, man könnte natürlich mal mit der Stadtbibliothek reden... Und eigentlich, sagst du, wäre das kein Risiko, denn den Raum hättest du sogar, nämlich im Juni, wenn die Wohnung im zweiten Stock halbwegs fertig ist, dann könnte man Saal und Essimmer - 55m² - eigentlich schon was machen, schliesslich gäbe es was zu feiern, 160 Jahre gehört der Stadtpalast jetzt uns, 160 Jahre in diesem Dreckskaff mit all der Korruption, da könnte man auch mal die Geschichte von der alten S. erzählen, und wie sie damals auf der Flucht vor den Amerikanern in den Schlossgraben...
Das wäre auch mal was anderes, meint der Buchhändler, und ihr vertagt das Gespräch auf später, denn gerade kommt ein Elitestudent herein, sieht ungeduldig aus und fragt gleich nach einem Fachbuch.
alessandro piperno, mit bösen absichten, fischer 2006, bin auf seite 70, brilliant!
Ihr unterhaltet euch ein wenig über den Betrieb; er hat es in der FAZ gelesen und fragt, wie es so läuft. Gut läuft es, keine Frage, 70 Leute sind in den grossen Städten kein Problem, aber auch in kleineren Orten scheint es zu gehen...
Es entsteht eine kleine, gedankenschwere Pause, bis er anhebt und sagt, dass diese Stadt hier mit ihren 30 Lesungen pro Jahr gar nicht gut ist und sowieso nur die alten Leute kommen. Immer die gleichen Gesichter, die man ohnehin aus dem Theaterabo kennt und aus dem Konzertverein. Du sagst, dass du hier auch auf keinen Fall lesen wolltest, hier kennt dich jeder, du hast einen Clan, der es nicht lieben würde, würde man hier vor Ort die schmutzige Wäsche des Kaffs vortragen, derer du so viele kennst, zum Beispiel die Sache mit dem neuen Haus des Sohnes der Erfolgreichen und seinen Gone-with-the-wind-Säulen in pastellorange und den drei Edelstahlringen als Kapitelle. Oder die späte Schwangerschaft von Frau H., deren bigotter Mann ganz sicher nichts vom Tennislehrer der ältesten Tochter ahnt.
Du breitest etwas Schmutz und Schund aus der letzten Konzertpause aus, hinten im Laden spitzt eine alte Schachtel die Ohren, und die Azubine, ein hübsches junges Ding, kichert hinter der Säule. Oh, Publikum, dankbares, interessiertes Publikum. Dennoch. Hier also würdest du ganz sicher nicht lesen wollen, wer weiss, ob überhaupt jemand käme, nicht wirklich, ausserdem, ohne Partner ginge das auch nicht.
Nun, sagt der Buchhändler, man könnte natürlich mal mit der Stadtbibliothek reden... Und eigentlich, sagst du, wäre das kein Risiko, denn den Raum hättest du sogar, nämlich im Juni, wenn die Wohnung im zweiten Stock halbwegs fertig ist, dann könnte man Saal und Essimmer - 55m² - eigentlich schon was machen, schliesslich gäbe es was zu feiern, 160 Jahre gehört der Stadtpalast jetzt uns, 160 Jahre in diesem Dreckskaff mit all der Korruption, da könnte man auch mal die Geschichte von der alten S. erzählen, und wie sie damals auf der Flucht vor den Amerikanern in den Schlossgraben...
Das wäre auch mal was anderes, meint der Buchhändler, und ihr vertagt das Gespräch auf später, denn gerade kommt ein Elitestudent herein, sieht ungeduldig aus und fragt gleich nach einem Fachbuch.
donalphons, 13:41h
Mittwoch, 19. April 2006, 13:41, von donalphons |
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kaffeemaeulchen,
Mittwoch, 19. April 2006, 14:03
Guten Morgen
So ein Buchtipp nach dem Aufstehen ist doch was Feines - merci bien (auch wenn es gar nicht für mich gedacht war). Ich wollte auch nur fragen, was dieses Silber neben dem Buch ist - ein Zuckerdöschen? Eine Rezeptionsklingel? Ein Postbeschwerer? ...
Einen schönen Tag,
kaffeemäulchen
Einen schönen Tag,
kaffeemäulchen
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donalphons,
Mittwoch, 19. April 2006, 15:00
Dankeschön. Das da daneben ist eine Queen Anne Teekanne:
Und natürlich schreibe ich solche Buchtipps nicht hin, damit sie zwingend ignoriert werden, sondern denke dabei schon etwas an die Leser :-)
Es geht um den Niedergang einer reichen römischen Familie, aus den Augen eines schlechteren Enkels, ich fühle da eine gwisse Wesensverwandtschaft.
Und natürlich schreibe ich solche Buchtipps nicht hin, damit sie zwingend ignoriert werden, sondern denke dabei schon etwas an die Leser :-)
Es geht um den Niedergang einer reichen römischen Familie, aus den Augen eines schlechteren Enkels, ich fühle da eine gwisse Wesensverwandtschaft.
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donalphons,
Mittwoch, 19. April 2006, 15:01
@ modeste: Eine Pessach-Hasenersatz und einen Packen Photos von der letzten Lesung.
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donalphons,
Mittwoch, 19. April 2006, 15:04
Hat der Herr Papa jetzt seine Schuldigkeit getan?
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modeste,
Mittwoch, 19. April 2006, 15:12
Ja, er war ganz zerknirscht. Ich habe ihn Samstagmittag völlig aufgelöst angerufen, und ihm bittere Vorwürfe gemacht. Ach, aus den Augen, aus dem Sinn. Da ist man gerade einmal zehn Jahre ausgezogen, und schon gibt es kein Osterpäckchen mehr. Aber gestern war er gleich bei der Post, und heute nachmittag, spätestens morgen sollte das Geschenk bei mir sein.
(Ich weiß schon, warum ich keine Kinder will.)
(Ich weiß schon, warum ich keine Kinder will.)
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che2001,
Mittwoch, 19. April 2006, 16:13
Das erinnert mich jetzt an einen der coolsten Sprüche, den ich jemals von einer Frau gehört habe. Jene wusste, dass ich gegenüber Dritten erzählt hatte, wie scharf ich auf sie sei, und stellte mich zur Rede, was ich denn da genau gesagt hätte. Als ich zu ihr sagte, na ja, wenn ich ihr das jetzt im Wortlaut erzählte, hätte sie mich bei den Eiern, erwiderte sie "nun, genau da willst du mich ja wohl auch haben!".
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frau klugscheisser,
Mittwoch, 19. April 2006, 14:43
Das mittlere Management macht sich selbständig? ;o)
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donalphons,
Mittwoch, 19. April 2006, 14:48
Das mittlere Management war grad auf dem Wochenmarkt und hat auf dem Weg all die Fressen gesehen, die es dann auch sehen würde und kehrt reuig zurück zum Mutterkonzern.
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frau klugscheisser,
Mittwoch, 19. April 2006, 14:53
In diesem Kontext klingt das Wort Mutter nicht annähernd so bedrohlich, wie es das in Verbindung mit Nestbautrieb tun würde. Insofern bitte keine (nicht vorhandenen) Mutterinstinkte bei mir suchen . Solch Bemühungen wären zum Scheitern verurteilt. [die Fittiche habe ich letztens bei eBay versteigert]
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donalphons,
Mittwoch, 19. April 2006, 15:05
Und die Nester werden an die Raben verleast, nehme ich an.
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frau klugscheisser,
Mittwoch, 19. April 2006, 15:31
Die Kuckucke brauchen keine Nester. Bei denen habe ich schon nachgefragt. Nein, die Nester werden regelmäßig ausgeräuchbert oder der Baugrund an die Stadt abgetreten.
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helgab.,
Mittwoch, 19. April 2006, 16:02
Ein Heimatabend...
...mit Geschichten aus der Provinz? Ganz ohne böse Absicht versteht sich. Die Vorstellung hat doch was.
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donalphons,
Mittwoch, 19. April 2006, 16:46
Alles nur das nicht. Meine Mutter geht sowieso in den Garten und jätet, um nur ja keinen Auftritt von mir im Fernsehen oder Radio mitzubekommen.
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kaffeemaeulchen,
Mittwoch, 19. April 2006, 16:49
oh wie schön!
Dankesehr für das Foto. Aber wie finde ich jetzt heraus, was das alles für Bücher im Hintergrund sind?
:)
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tknuewer,
Mittwoch, 19. April 2006, 16:34
Ich bin schon kurz vor dem Ende des Buches und kann es - abgesehen von ein paar kruden Übersetzungshaken - nur wärmstens empfehlen!
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tknuewer,
Mittwoch, 19. April 2006, 17:23
Nein, keinesfalls. Aber es tauchen Worte auf, die es im Deutschen nicht gibt und komplett verschwurbelte Satzkonstruktionen gemischt mit ein paar Grammatikschnitzern. Nicht oft, aber oft genug um ein klein wenig ärgerlich zu sein, weil diese wunderbare Buch gewordene Boshaftigkeit besseres verdient hätte.
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