Was ist das Gegenteil von einfachen Verhältnissen?

Komplizierte Verhältnisse etwa? Das komplexe, ungeschriebene Regelwerk, in dem man sich zu bewegen hat und das man nur kann, wenn man es nie anders kennengelernt hat? Eine Welt, deren Komplexität so normal ist, wie das spanische Hofzeremoniell den Zeitgenossen Maris Theresias geläufig war? Ein Begriff, dem Umstand geschuldet, dass die Sorgen nicht kleiner werden, wenn man das Geld, das die anderen bräuchten, wieder wohin tun muss?

Normalerweise versucht man, Euphemismen zu bilden, unter denen sich kein Sicherungsnetz mehr findet. "Mittleres Management" ist so ein Wort. Es gibt kein unteres Management, und wer dort in der Mitte gelandet ist, bleibt voraussichtlich auch den Rest seines Lebens dort, solange er von Beratern und Top Management nicht irgendwann eingespart wird. Unter einfachen Verhältnissen kommt noch was, einfachste Verhältnisse etwa. Die Leute etwa, die bei uns Anfangs des vergangenen Jahrhunderts im vierten Stock wohnten, drei grössere Familien auf einem Raum, der heute einem Paar mit Zukunft ausreicht. Und dann asoziale Verhältnisse. Etwas, das auf der anderen Seite gerade in Deutschland selten von Menschenfreunden aufgewogen, sondern durch ebenfalls Asoziale verstärkt wird, die Kunstvereine gegen Spendenquittung zur Steueroptimierung und verbilligte "Jahresgaben - was würd Ihnen denn gefallen, Herr Prof. Dr. Dr." unterstützen.



Vorgestern stand ich draussen vor einem Büro in bester Lage und wartete, als wäre ich der Fahrer eines Fluchtfahrzeugs, mit laufendem Motor und Blick nach oben, wann endlich das Licht ausgeht. Gegenüber hielt ein Wagen, und heraus kletterte einer, den ich von einem vergangenen Fall, in einem anderen Leben, einer anderen Zeit kenne, und der die acht Jahre nur dank chirurgischer Eingriffe halbwegs proper aussehend überstanden hat. Er hat jetzt wieder jemanden, der ihn fährt, er ist nicht mehr ganz unten, was ganz unten für solche Leute eben ist, er darf an untergeordneter Position wieder mitmachen, unten einsortiert mit Leuten über ihm, die mit der Gnade des späteren Hochschulabschlusses die Erfahrung der New Economy nicht machen mussten unddurchstarten konnten, als er noch stürzte.

Komplizierte Verhältnisse also, kaum weniger komplex als der Anlass, warum ich an dieser Stelle in diesem viel zu grossen, hässlichen Auto sitze, den Motor laufen lasse und warte auf jemanden, der nur Sekunden brauchen wollte. Auf der anderen Seite torkelte dann ein Isar-Obdachloser vorbei, ich kenne ihn inzwischen, hier gibt es nur einen kleinen Feinkost-Supermarkt, und da kaufen alle, ich, die anderen. Er ging schwankend weiter, blieb stehen, steckte die Arme in die Luft und grölte etwas, das durch die B2-Panzerung nicht zu mir drang. Man versucht, ews sich einfach zu machen, man lässt es eben raus, wenn man kann, aber es ist nicht einfach.

Wenn ich dann umsteige und nach Hause fahre, wenn ich nicht in München bleiben muss und zurück zu meinen Büchern kann, dann habe ich meine einfachen Verhältnisse erreicht. Kompliziert genug, aber das trägt dazu bei, dass die Verhältnisse einfach bleiben, und nicht so werden, wie auf beiden Seiten des Platzes, auf dem ich warte.

Freitag, 2. November 2007, 12:00, von donalphons | |comment

 
«Spanisches Hofzeremoniell» ist ein schönes Stichwort: Wo in Ihren Büchern, Don, findet sich eine Darstellung über die Sitten am Burgundischen Hof. Wo lag das Messer, wo lag die Gabel? Assarate fabuliert etwas in seinem Manierenbuch darüber, doch konnte ich es nie verifizieren.

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Hängt davon ab, welches burgundische Hofzeremoniell, das hat sich ja auch geändert. Prinzipiell aber so wie in Avignion: Raumschläuche zum Ausdruck der Wertschätzung. Es gab mal einen famosen Ausstellungskatalog zum weissen Rössl in München, Bayerisches Nationalmuseum, da stand einiges über die Sitten und Gebräuche um 1400 (Duc de Berry, Isabelle und ähnliche) drin. Oder auch der Katalog zum Regensburger Schatzkästchen, ein ehemaliges Gewürzgefäss zur Repräsentation zu Tisch, Grisailleemail, mutmasslich aus dem Umfeld des Duc de Berry und der Gebrüder Limburg. Prinzipiell stand das Vorzeigbare auf einer pyramidenförmigen Anrichte und wurde bei Bedarf gereicht. Dauerhaft auf den Tisch kommt das alles erst in der Renaissance und dann im Manierismus, siehe auch den Katalog Quasi Centrum Europae, Nürnberg 2002 (?). da ging es um die gesamteuropäische Hofhaltung von 1400 bis 1800 und die Realien.

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"Sozial Bedürftige" passt auch in diese Kategorie von Sprachregelungen

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hey, da hast du bei mir um die Ecke gewartet...

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Unter "sozialbedürftig" könnte man auch einen gewissen Herrn bezeichnen, der die Flossen nicht von der Gehilfin lassen kann. Demnächst komme ich einem sozialen Bedürfnis nach und lasse das Fenster für eine grandiose Aussicht und allzu grosses Rauslehnen dieses Herrns über abulafias Isarufer offen. Aber gut zu wissen, dass die Leserschaft wohlbehütet in besseren Ecken lebt.

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