Der unfeine Tod des feinen Porzellans
Leider erwischt es neben Wedgwood - die Serie "english royal homes" in der Mitte - und Waterford, dem früher exquisiten irischen, jetzt leider osteuropäischen Hersteller der Glasschalen links, auch Hutschenreuther, die heute über die Rosenthal AG zum Konzern gehören. Auch Hutschenreuther hat eine besondere Geschichte; 1857 brannte die Weberstadt Selb nieder, und der Firmengründer setzte alles daran, die Bewohner mit seiner Porzellanfabrik wieder in Lohn und Brot zu setzen. 1917 übernahm Hutschenreuther dann die Firma Paul Müller, führte sich als Luxusabteilung weiter, und wenn ich wirklich etwas zu feiern habe, dann nehme ich das sog. Direktorengeschirr von Paul Müller, von dem die Sauciere abgebildet ist. Dieses Geschirr, weiss die Familientradition zu berichten, gehörte einem im Voralpenland tätigen Direktor, und war der grosse Stolz dieser gewiss nicht armen Seitenlinie, von der aus es mir nach drei Erbgängen - der letzte war geprägt von einem "wer will heute noch Goldrand" - zugefallen ist.
Ich will Goldrand. Und nicht nur, weil ich gerne auftrage, und ich ohnehin nur mit der Hand spüle. Ich mag edles Porzellan nicht nur, weil wir eine dicke Familientradition des Porzellanfetischismus haben, sondern auch, weil es für diesen Fetischismus einen Grund gibt, einen gutbürgerlichen Grund, der aus Porzellan mehr als nur Tischzierde macht. Denn anhand von Porzellan lässt sich die Aufklärung erzählen, anhand ihrer Verbreitung entstand das Bürgertum, die Demokratie, ein guter Teil der Industrialisierung, nur um jetzt möglicherweise, nachdem die Zwecke erfüllt sind und sich jeder alles überall kaufen kann, wieder zurückzufallen in die Hände der wenigen, die es sich leisten können und wollen, wie schon zu Beginn.
Als im 16. Jahrhundert zum ersten Mal asiatische Keramiken in grösserem Stil nach Europa importiert wurden, zögerte man nicht, sie mit Gold zu fassen: Seladonschalen zum Beispiel waren eine Weile die teuersten Handeslgüter der Erde, und selbst reiche Fürsten hatten selten mehr als ein paar Stücke asiatischen Porzellans in ihren Wunderkammern. Es dauerte bis ins 17. Jahrhundert, bis man überhaupt wagen konnte, davon zu essen, und abgesehen von den allerreichsten Schichten gab es keinen Markt. Das blieb auch noch im 18. Jahrhundert so, als Augarten, Meissen, Nymphenburg und KPM ein Monopol hatten und darüber wachten, dass die Preise hoch und die Kundschaft exklusiv blieb. Josiah Wedgwood war einer der frühen Rebellen, der das aufstrebende Bürgertum mit Serienfertigung und günstigeren Preisen im Auge hatte, andere folgten später in anderen Ländern und auf anderen Gebieten nach: Christofle wurde als Lieferant günstigen Silbers berühmt, Baccarat wurde erst nach der französischen Revolution vom fensterglashersteller zur Luxusmarke, und erst mit der Versilberung wurde Silber zum Gegenstand des täglichen Gebrauchs.
Gemeinhin denkt man ja, das Bürgertum wollte den Adel nur nachäffen; tatsächlich aber waren die Machthaber gar nicht so arg begeistert, wenn die Untertanen nach derartigen Dingen strebten. Für die Bürger bedeutete der Luxus vor allem, dass sie auch Zeit hatten, ihn zu nutzen, Tee zu trinken, nicht dauernd schuften mussten und sich über den Kuchen hinweg unterhalten zu können, über Politik etwa und Repression, oder Bücher von Heine lesen - Bürger, die Zeit haben, kommen auf die für Machthaber unerfreulichsten Ideen. Metternich wusste schon, warum er seine Spitzel in die Cafehäuser schickte, und warum er den Bürger mit Zeit fürchtete. Wer Porzellan besass, dokumentierte nicht nur seinen gesellschaftlichen, sondern auch indirekt seinen intellektuellen Aufstieg. Was für die Bürger seit dem 19. Jahrhundert von zentraler Wichtigkeit war, blieb für Arbeiter und andere aufsteigende Schichten auch im 20. Jahrhundert erst mal entscheidend: Etwas Gutes zu besitzen und die Zeit zu haben, es zu nutzen
Man mag das heute vielleicht als kindisch erachten, aber genau das war der Unterschied: Man schaue sich nur mal das Schokoladenmädchen von Jean-Étienne Liotard an: Der aussergewöhnliche Reichtum ihrer gnädigen Frau wird nicht nur durch das chinesische Lacktablett und die Silberarmierung des Porzellans verdeutlicht, sondern auch durch die Knicke in der Schürze: Sie kommt frisch aus der Truhe, sie wird also nicht immer getragen. Es ist ein Haushalt, der sogar seinen Dienstboten mehr als ein Kleid bezahlen kann. Für das 18. Jahrhundert: Ausserordentlich. Der Wunsch, sich selbst und der Familie, den Kindern mehr als nur den Alltag, das Normale, das Übliche bieten zu können, brachte die Arbeiter auf die Strasse, das Soziale in die Parlamente und die Gesellschaft voran, man wollte es schaffen und es auch zeigen, und so komisch es heute scheinen mag, wenn der Treiber dieser Entwicklung Goldrand und Spitzendecken waren:
Darf ich fragen, wohin eine Spielekonsole und ein neues Handy jedes Jahr uns gesellschaftlich so treiben werden?
Ich halte diese Frage, so komisch sie für manche scheinen mag, für hochgradig wichtig. Was lernt man davon? Benehmen? Kaum. Ausdrucksfähigkeit? Sicher nicht. Soziales Engagement? Wenn der andere mit einer anderen marke kein akzeptabler Mensch mehr ist? Das Leben als Ladevorgang, als Folge kurzfristiger Lebenszyklen vielleicht. Wenn ein feines Teeservice das Zeichen für die Zeit ist, die man sich erarbeitet hat, was sind dann die Mugs und Coffee2Gos? Die Negation, das Fehlen der Zeit, in der man eben arbeiten muss, um flexibel und einsatzbereit zu sein. Ich will nicht wissen, wieviele meiner Trouvaillen ich Leuten verdanke, die alles los werden wollen, um möglichst mit einer Kiste umziehen zu können, und für die der Starbucks überall das gleiche Internet hat.
Porzellan, gutes Porzellan zumal ist auch heute teuer, wenn man nicht gerade auf Antikmärkten jagen geht, aber mein nicht seltenes Entsetzen über 100 Euro teure Imaritellerchen ist lächerlich, wenn am Stand daneben demnächst wertlose Handys für 300 Euro verkauft werden. Es gibt einen Paradigmenwechsel, der einen iPOD mit 1000 bei iTunes runtergeladenen, kostenpflichtigen Modemusiken mehr Sozialprestige zuweist, als einem Schlosgartenservice; ich lese öfters, dass Leute in der Bahn etwas auf dem iPOD hören, als am Teetisch besprechen, und das ist es letztlich, was Wedgwood umgebracht hat: Ein partieller Wertewandel unter Thatchers Kindern und Ausgeburten von London über Berlin und Moskau bis Jakarta. Und wenn das ganze System wackelt, macht eine Firma eben ein 20 Pfund Bürobilligkleid aus Polyester und Viscose in China und zieht damit ein Modell mit Pappbecher am Bahnhof an.
Daraus resultieren zwei Fragen, eine für uns alle: Ist das Fortschritt? Und eine für uns Elite: Wie weit ist es noch bis zum Tag, da sich das Pack wieder soweit selbst verblödet, dass wir, mit Porzellan von Augarten und Nymphenburg im Grase sitzend, die Schlossgärten für uns alleine haben?
Das könnte ein weiterer Grund sein.
Und wer Tiefkühlpizza in den Ofen wirft, legt sie danach auch nicht auf feines Porzellan.
Porzellan bedeutet auch Zeit fürs Essen nehmen
... link
Manches deutet durchaus auf einen Retro-Trend in diese Richtung hin. Z.B. unsere Steuergesetzgebung, nach der Dienstboten seit neuerem steuerlich absetzbar sind.
Bis dahin - wenn irgendwann die aktuelle Krise mit Hilfe internationaler Bailouts und Konjukturhilfen für die gehobene Gesellschaft überstanden wurde (falls diese durchhalten und sich nicht vorher vor den Zug schmeißen), fehlt noch das geeignete Outfit für den web-zwo-null-afinen Mann von heute, ideal, um Internet-Video-Konferenzen aus dem Wohnwagen heraus zu führen, ohne zugeben zu müssen, dass man bei gutem Wetter auch gerne mal auf der Parkbank pennt:
Oberteil: Sakko nicht zu klein kariert aus Polyester und Viscose gefertigt in China mit Schlips inklusive Krepp-Binder zum Anpappen. Unter der Tischkante: kurze Bermuda-Shorts und weiße Socken. Alles zusammen im Kombi-Pack für 20 Euro.-
... link
Meine Alu-Plastik-Mug habe ich auch, aber die brauche ich zum Bergsteigen. Dazu gehören dann aber auch die Alu-Espressokanne auf dem Primuskocher im Biwak und der Single Malt aus dem Edelstahl-Flachmann auf dem Gipfel. Stil ist keine Geldfrage, sondern eben eine Stilfrage, wie der Gelegenheits-Tautologe sagt.
Btw. ich hörte kürzlich ein Interview mit Holm Friebe, in dem er von einer Demokratisierung der Marken und Einebnung von Hierachien sprach, wenn in Zeiten, in denen jeder, der etwas auf sich hält ein IPod Nano besitzt gleich gute, aber viel günstigere Falsifikate auf dem Markt seien und der alte Streit Apple oder PC angesichts von Linux und Firefox an Brisanz verliere.
Hmm, wo lebt der, wo lebe ich? Ich würde mich als technikaffinen Menschen bezeichnen, ich verdiene mein Geld mit dem Computer und u.a. auch mit Mediengestaltung, aber in meinem näheren Bekanntenkreis besitzt kaum jemand einen Ipod. Andererseits, man nenne mir mal ein Linux, auf dem QuarkXPress, Indesign, Photoshop, Flash, Director und After Effects laufen.
... link
... link
Ich kaufe, wo ich kriegen kann und was gefällt. Ich kenne da gar nichts, ich suche in den schlimmsten Kisten und in den besten Schränken.
... link
... link
Disclaimer: Ich mache das alles selbst (aber ohne Kind und nicht für einen Mann mit), einschließlich des Geldverdienens.
... link
... link
wenn man mal selbst geputzt hat und das gut kann, weiß man, dass man nie ganz ohne einkommen sein wird. ich würde jederzeit selbst wieder putzen. es ist eine ehrenvolle tätigkeit, und man braucht organisationsvermögen, eine körperliche konstitution und sogar erhebliche soziale kompetenz dafür.
... link
... link
... link
... comment
... link
... comment
Der Ipod ist vielleicht kein Fortschritt. Er ist eher so etwas wie eine Rüstung. Er trennt das Außen von den Menschen ab, schafft Privatheit in der Menge.
Das Bürobilligkleid erlaubt es mehrere dieser Kleider zu besitzen und so zu tun, als hätte Frau eine Ausstattung, die sie schon seit Generationen nicht mehr hat.
Wenn man heute Luxus beschreiben will, gibt es ein Wort das nicht fehlen darf Müßiggang. Das ist der Luxus schlechthin.
... link
Schon mal Kindererziehung versucht? Abwaschen lernt man am besten beim Tun. Mir hat es jedenfalls nicht geschadet, als es hiess: Jeder macht sein Zeug selber.
... link
... comment
Vorallem das "Beobachten". Knicke in der Schürze als Indiz für außergewöhnlichen Reichtum ...sagenhaft!
... link
Hast Du teures Geschirr, meinte eine Nachbarin, als sie darauf bestand, mir einen Kuchenteller von Hutschenreuther, der ihr zu Bruch gegangen war, zu ersetzen. Dabei gibt sie sicher mehr Geld aus als ich, aber eben nicht für Haushaltsgegenstände.
Warum man sich mit Musik abschotten will, verstehe ich nicht. Man bekommt doch die Geräusche um einen herum nicht mit, da kann einen schnell mal etwas unangenehm überraschen. Auch die schönen Geräusche, wie Vogelgezwitscher und vieles andere, hört man dann nicht.
Und die Trophäen für die Masters Series waren bis zuletzt von Waterford Crystal.
... link
Als Käufer bin ich ja eigentlich ganz froh, wenn ich sehe, was man so alles bekommt, wenn der Gegenpart mit dem alten Geschirr nichts anfangen kann. Goldrand und Spüle zusammen beim Besitzer sind eigentlich meine besten Freunde. Es ist alles eine Frage der Wertschätzung - nur manchmal wird es mir etwas zu viel mit den modernen Konsumzumutungen und ihren Folgen, dann gibt es solche Beiträge.
Sonst bin ich harmlos und als der gütige Don bekannt.
... link
... comment
... link
... link
Und imho finde ich es tatsächlich sinnvoller, für wenig Geld erworbene Gegenstände mit Stil zu besitzen und zu benutzen (nicht zu horten), als sich in den KOnsumrausch zu stürzen.
... link
... link
an solchen randexistenzen lassen sich universale handlungsmuster ablesen. ich glaube, dass die wahrung dessen, was "man gerne (gehabt) hätte" vollkommen solchen mustern folgt. es hat alles mit der definition des selbst zu tun. das ist das wichtigste ziel bei diesen dingen. auch die ipods gehen in diese richtung. mit altem geschirr sagt man natürlich gleichzeitig etwas anderes aus. beides ist aber in dieser hinsicht mit der einen oder anderen absicht "deliberately chosen". man kann sich also sinnvoll über diese absicht unterhalten, nicht aber über den besitz von solchen dingen an sich.
... link
Es gibt (gab?) also wohl doch noch eine Kulturschicht der Gesellschaft, dir ihren Status nicht an Sachen festmacht(e). Siehe auch -> Bergarbeiter im Ruhrgebiet.
Und über die püschologische Seite des Sammelns und Hortens von Gegenständen wollen wir an dieser Stelle mal höflich schweigen...
... link
den eigenen status nicht an sachen festmachen, das ist keine gesellschaftliche praxis, nirgendwo (außer vielleicht im zen-buddhismus, aber selbst da ist es ein anspruchsvolles ziel, das man nur unter schwierigkeiten oder mit anstrengung erreichen kann). wie gesagt, ist die frage wohl eher, welche dinge es sind, an denen man den eigenen status festmacht. und da meine ich, kann man heute nicht mehr einfach sagen: der und der hat ein teures auto, der ist ein bürger -- und der andere da, der hat einen billigen ipod, der ist ein proletarier.
der eigentliche wert der dinge bemisst sich auch nicht mehr am preis. preise werden heute häufig nach ganz anderen kriterien gestaltet als nach den kosten oder dem aufwand in der produktion. eine weitere schwierigkeit ist die verzerrung, die durch den unterschiedlichen wert des geldes in produktionsland und absatzland zustande kommt. mein pc kostet 600,- euro, aber er kostet eben nicht 600,- euro, sondern das fünf- bis zehnfache, vorausgesetzt, ich bemesse den preis nach dem realen aufwand, die arbeitskraft und entsorgung eigentlich kosten. so gesehen wären alle, die einen luxusprodukt wie einen 6000,- euro teuren pc besitzen, bürger. merkwürdigerweise wird man aber erst dann bürger geschimpft, wenn man ein geschirr besitzt, das auf dem flohmarkt weniger als 200,- euro gekostet hat, aber in dem ruf steht, früher einmal luxusware gewesen zu sein.
... link
... comment
... link
1. Wir sind nur zu sehr auf uns fixiert, um die Vielschichtigkeit der Vergangenheit zu akzeptieren.
2. Damals verstand man sich mit einer multipolaren Vielschichtigkeit zu umgeben, die sich schon damals sehr unterschiedlich erschlossen hat.
Oder beides. Das 18. jahrhundert wird in der Kunstgeschichte noch immer sträflich unterschätzt, fürchte ich.
... link
... comment
... link
... link
... link
... comment
gibt es die wunderbaren Benjarong Porzellane.
Allerfeinste Handarbeit und durchaus auch im Produktionsland nicht billig. Goldränder werden hier zentimeterbreit aufgelegt. Ist hier immer noch ein Statussysmbol der Mittelklasse und hat durchaus seinen einheimischen Markt.Auch als ein sehr beliebtes Geschenk.
Eine kleine Auswahl gibt es hier:
http://www.thai-kunst.de/porzellan.htm
Also wenn in Europa alles den Bach runtergeht, hier wird sich diese Kultur sicher noch eine Weile halten.
Noch ein Nachtrag :
Hier ein Thai Laden mit Benjarong,
4500 Bath sind ca 100 €
http://www.benjarong.net
... link
... link
das ist immer noch bürgertum, auch wenn es "popkulturell offen" ist. wenn man sehen will, was jenseits des bürgertums getan und gelassen wird, muss man in die kreise von herrn merckle und co. oder in den illegalen russenpuff schauen. manchmal nur in den russenpuff.
es gibt darüber hinaus aber im bürgertum immer mehr tendenzen, von bestimmten wertvorstellungen abzuweichen. hat alles meiner meinung nach mit verdrängung zu tun, also mit dem abweichen von haltungen, bei denen man weiß, dass sie einen bestimmte schuldkomplex enthalten (auch den "spießer" lehnt man ja nicht deswegen ab, weil er werteerhaltend oder bürgerlich wäre, sondern weil er sich bestimmte dinge schuldig macht, einer gewissen sozialen oder politischen passivität z.b.) - als "ausgleich" eignet man sich haltungen oder verhaltensweisen an, die zumindest erstmal ästhetisch gesehen das gegenteil bedeuten.
... link
Das kann man so pauschal nicht sagen. Bei den Handwerkern kann können als Anhaltspunkt die Kosten für eine Meisterprüfung dienen. Irgendwo zwischen 1500 Euro und 30000 Euro liegt da die Grenze zwischen Proletariat und Bürgertum. Bei den Bauern gibt es ebenfalls ein Spektrum zwischen Schafshirte und Industrie-Tycoon.
... link
es gibt darüber hinaus aber im bürgertum immer mehr tendenzen, von bestimmten wertvorstellungen abzuweichen. hat alles meiner meinung nach mit verdrängung zu tun, also mit dem abweichen von haltungen, bei denen man weiß, dass sie einen bestimmte schuldkomplex enthalten(...)
Diese Diagnose scheint mir, mit Verlaub, ziemlich überkandidelt. Warum es so kompliziert machen, wenn man es auch einfacher erklären kann. Die sogenannten "bürgerlichen Werte" in der Erziehung zu vermitteln und weiterzugeben ist nun mal anstrengender und aufwendiger als die Kurzen machen zu lassen, was sie wollen. Es wird vielfach auch überhaupt nicht der Sinn hinter dem Korsett der Verhaltensnormen und der dahinterstehenden Werte gesehen.
Ich bin wahrlich kein Fan von Elisabeth Noelle-Neumann, aber diese Frage hat sie schon vor über 30 Jahren zu recht gestellt. Ich bin mit dem Buch (einige Auszüge hier) zehn Jahre später in Kontakt gekommen und habe noch den Kopf geschüttelt. Heute, wo das traditionelle Arbeitermilieu bald zu den bedrohten Arten zählt, ist die Diagnose kurioserweise aktueller denn je.
Und ich wage die These, dass das Privatfernsehen, um nur mal einen Faktor zu nennen, an dieser Entwicklung weitaus größeren Anteil hat als irgendwelche Schuldkomplexe.
... link
Wie angedeutet, ich würde ENN weder im Wortlaut noch in allen Details und Schlussfolgerungen folgen wollen. Ich habe mit dem Verweis auf das Buch nur sagen wollen, dass die Erosion bürgerlicher Werte ein durchaus längerer Prozess ist, der auch nicht unbedingt was mit 68 und der generationsbedingten Aufarbeitung oder Nichtaufarbeitung der NS-Vergangenheit zu tun haben muss.
... link
mit schuldkomplex meinte ich nicht die "aufarbeitung" der ns-vergangenheit, sondern eher eine form von trotz, der sich einstellt, wenn man den ansprüchen der bürgerlichkeit wie bildung, erziehung, kapitalakkumulation usw. nicht mehr gerecht werden kann. ob das schon "verprollung" ist? ich glaube, es fehlt einfach an besseren angeboten, wobei die wut darüber, keine befriedigenden angebote zu erhalten, an sich auch schon wieder eine bürgerliche anspruchshaltung ist.
nach einer historischen definition gehört zum proletariat, wer in lohnabhängigen arbeitsverhältnissen steckt. ist heute ebenfalls unbrauchbar geworden.
klassenbewusstsein setzt die existenz von klassen voraus. in deutschland muss man heute wohl eher von schichten sprechen, und ob man sich zu einer bestimmten schicht zählt, scheint davon abzuhängen, wie sehr man an die einflussnahme der eigenen herkunft bzw. den erzählungen darüber glaubt. das so genannte unterschichtenfernsehen bedient ja denn wohl auch eher den voyeurismus der "anderen", die sich selbst gar nicht zur "unterschicht" zählen.
kompliziert finde ich das alles aber nicht. es gibt statt dessen eine große gleichmacherei, weil von den definitionen her alles so permeabel geworden ist.
kurz nach der wende war ich einmal mit meinem vater und dessen zwei stiefschwestern in polen auf vergangenheitssuche. als wir vier schließlich vor dem ehemaligen domizil in der zentralpolnischen pampa standen, war es in den augen meines vaters ein proletarisch-kleinbürgerliches armenhäuschen, seine schwestern klagten weh und ach ob dessen, was "die polen aus unserem schönen großbürgerlichen landgut" gemacht hatten, und ich sah bloß das durchaus nicht unaufwendig renovierte haus einer mittelständischen polnischen familie, die es sich aufgrund ihrer relativen wohlständigkeit leisten konnte, uns spontan und überaus gastfreundlich in ihr gemütlich warmes wohnzimmer zu einem fürstlichen leberwurstabendbrot mit wein und bier einzuladen. auf dem vorhof der ehemaligen volksschule des kleinen ortes hatten am nachmittag die kinder barfuß in plastiksandalen gespielt. es war ostern, es regnete und es waren ungefähr fünf oder sieben grad.
... link
Tatsächlich halte ich auch nichts davon, es mit Verprollung gleichzusetzen, wenn man sich den einen oder anderen Stock aus dem Hintern zieht, den einem die Erziehung reingesteckt hat.
... link
Man möchte doch nicht, dass in dem Platz des erfolgreich Hinausgezogenen andere Dinge gewaltsam eingeführt werden, wenn sich die oben nur gewiss genug sind, dass es wieder geht.
... link
Da ich das Pech (Glück) hatte, dass der frühe Tod des Vaters dessen möglicherweise angestrebten gesellschaftlichen Aufsteig vom Maurerpolier über den per Abendstudium erworbenen Bau-Ing. zum Architekten abgebrochen hat, ist mir die Penetration der bürgerlichen Werte erspart geblieben. Ich habe also nichts geerbt - keine Service, Bestecke, Bettwäsche, Konten, Grundstücke, Palais, Fabriken etc pp - aber auch keine steifen Stehkragen, die das Denken in anderen als materiellen Strukturen behindern.
Bin ich nach über fuffzich Jahren Lebenszeit ganz froh drum ... inzwischen.
... link
Ich denke, man wird sich überlegen müssen, was bürgerliche Werte heute noch wert sind, welche etwas bedeuten und wie man sie so lebenstauglich macht, damit man sie nicht der Reaktion überlässt oder von den Asozialen zerstören lässt. So gesehen ist das auch der Kern des Beitrags; die Frage, ob Porzellan im 21. jahrhundert nicht doch auch eine tiefere Bedeutung haben kann, als nur Tischzierde. ich sehe zwar durchaus den Abgrenzungsversuch der nichtbürgerlichen Eliten, aber umgekehrt sollte man das auf der anderen seite nicht auch noch forcieren. Ich denke, dass eine reine Umverteilung der Finanzmittel wenig bringt, wenn es dann nur darum geht, den Kik auszuräumen und sich jedes Jahr eine neue Polstergarnitur zu kaufen.
Insofern: Man müsste mir erst mal erklären, was an Bürgerlich so schlecht und unpassend ist.
... link
Was am Bürgerlichen so schlecht ist? Aus proletarischer Sicht ist es vor allem die Abwesenheit von Solidarität und in der Folge die Tendenz zum materiellen Egoismus. Kapitalismus ist nur in der bürgerlichen Gesellschaft denkbar. Ob auch andere Wirtschaftssysteme auf der Basis der bürgerlichen Werte vorstellbar sind, steht zur Debatte.
Ich merke nur, wie grundsätzlich zuwider mir die Weltbetrachtung aus Sicht der Ware ist. Natürlich ist es richtig, dass ein Umverteilung zugunsten von KiK und IKEA die Situation in jeder (ökonomisch, ökologisch, sozial, kulturell) verschlimmert - leider hat man den Resten des Proletariats Bürgerliches insofern eingepflanzt, als dass sie auch annehmen, dass Mehr besser sei. Man kann es jeden Tag im LidlPlusNorma sehen, wenn sich die Unterschichtler die Einkaufswagen mit qualitätsfreiem Kram vollschaufeln. Vielleicht ist eine Rück- bzw. Umbesinnung auf proletarische Werte der bessere Weg - gutes Benehmen gehört (wenn auch auf eine andere Art) zum Codex dieser Schicht; es basiert auf Respekt gegenüber Menschen in vergleichbarer Lage.
... link
Okay, das erklärst Du jetzt gerade jemandem, die in einer Stadt wohnt, in der alles, aber auch alles durch bürgerliches Engagement zustande gekommen ist. Universität, Zoo, Palmengarten, Museen, Forschung. Alles Bürgerstiftungen.
... link
... link
Man muss (und das sage ich im weitesten Sinne als Arbeiterkind) schon extrem sozialromantisch verklärt sein, um das Schöne, Wahre, Gute nur im Proletariat zu sehen und dem Bürgertum nur den miesen Rest von Eigenschaften zuzuschieben. Die vielgerühmte Solidarität kennt der Prolet ja auch nur allenfalls mit seinesgleichen; dass der Flüchtling, der Asylant aus Asien oder Afrika das Wanderproletariat des globalisierten Kapitalismus ist, begreift er schon nicht mehr.
Und da habe ich das Fass "Kultur" noch gar nicht aufgemacht...
... link
Ob mir das bürgerliche TheaterMuseumZooPalmengarten abgehen würden, gäb es sie nicht, ist fraglich. Gäbe es meinen Fußballverein nicht mehr, das wär schlimm. Aber ich möchte mich ganz sicher nicht als Proletarier aufspielen - ist doch bloß meine Biografie.
... link
... link
Das wenige, was ich an echter Kulturbegeisterung mittlerweile habe, habe ich deswegen auch nicht im Elternhaus gelernt, sondern von Leuten, die sich wirklich inhaltlich damit befasst haben - egal, ob aus der Unter- oder Oberschicht.
... link
Mit einer ähnlich unbefleckten Naivität bin ich dann später der bildenden Kunst anheim gefallen. Die Begegnung mit den Bildungsbürgerkindern in der Kunstakademie war allerdings ernüchternd bis abstoßend.
Von daher habe ich immer noch Probleme, in ein Museum zu gehen, weil da sind sie, die Bildungsbürger und konsumieren Kunst. Schwer erträglich. Oper kann ich gar nicht, und mit der klassischen Musik bin ich erst mit Anfang Fuffzich ernsthaft un Berührung gekommen.
Meine Liebe (ja, genau das Wort) zum Fußballverein meiner Heimat stammt dagegen aus der Zeit, als mein Vater noch lebte, und mit meinem Bruder und mir ins Stadion ging. Das hat stärker geprägt.
... link
Von daher habe ich immer noch Probleme, in ein Museum zu gehen, weil da sind sie, die Bildungsbürger und konsumieren Kunst. Schwer erträglich.
Die schlechte Nachricht ist: Der Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Akademikerkindern bleibt, der geht nicht weg, nie. Ich warte auch schon seit Jahren darauf.
Die gute Nachricht ist: Man kann sich aber durch hartes Studium, Aneignen von Wissen und Können Respekt verschaffen, egal wo man herkommt. Wenn man mich als Bildungsbürger beschimpft, dann denk ich: Boah, ich verstell mich echt gut, ich muß wirklich überzeugend sein.
... link
man muss zugeben, dass das eine ganz und gar NICHT bürgerliche idee ist, auch wenn sie natürlich auch von marx formuliert wurde (einem bürgerlichen philosophen), aber als politische manifestation oder willensäußerung ist dieser ansatz ganz und gar dem historischen proletariat zu verdanken. wenn wir bedenken, dass die bürgerlichen subjekte, die WIR sind, heute trotz unserer individualität vor problemen stehen, die alle sehr miteinander vergleichbar sind, ist aus diesem gedanken überaus viel zu gewinnen. natürlich ist das auch zum gewissen teil schon bürgerlich einkassiert, nicht zuletzt durch die spd, aber der ansatz ist nach wie vor nicht unrealistisch. eine individuelle bürgerliche emanzipation scheitert regelmäßig nämlich genau an dieser grenze.
und deswegen gehören z.b. aktiengeschäfte verboten!:)
... link
@itha: Danke. So hätte ich das gerne gesagt.
... link
Ich persönlich gehe in Mussen und Ausstellungen, weil ich das Handwerk und die Kunstfertigkeit der Ausgestellten zu schätzen weiß und die Kunstwerke "schön" finde. (Bei ganz moderner Kunst ist "schön" oft durch "ganz interessant" zu ersetzen ;-).
Ich sitze z.B. mit Hingabe und dämlich glücklichem Grinsen im Gesicht eine halbe Stunde vor den Seerosen des Herrn M. im MOMA oder vor seinen Nympheas in der Pariser Orangerie. Und wenn das jemand nicht nachvollziehen kann - Pech für ihn, er weiß ja nicht, was ihm entgeht. Ich würde allerdings niemals deswegen ein (negatives) Urteil über die betreffende Person fällen.
... link
Ohne irgendwelchen Peil vor irgendwelchen Schinken im Museum runzustehen und ernst zu gucken, weil sich das so gehört, das ist natürlich eine peinliche Pose. Aber ich bin froh, dass ich Menschen hatte, die mir vermitteln konnten, wie die Entwicklung von der figurativen zu abstrakten Malerei verlief, und dass eben nicht alle Abstraktion sinnloses Geschmiere ist, nur weil ich da keine rotnasigen Mönche im Weinkeller abgebildet sehe oder dergleichen. Das hat mit Literatur, klassischer Musik und Ballett funktioniert, mit der Oper hingegen nicht. Und diesen Mut zur Lücke muss man halt auch haben und sagen können: Sorry, Leute, ich weiß um den kulturhistorischen Wert dieser Kunstform, aber ganz subjetiv geht mir das Gejodel nun mal ganz arg auf die Gonaden.
Und genauso wenig wie mit der Oper kann ich mit Fußball anfangen. Ich fühle auch nicht Mitleid oder Verachtung, wenn ich dieses Treibens ansichtig werde. Ich verstehe es schlechterdings nicht, was so reizvoll daran soll, mit anderen Verblendeten gemeinsam im Stadion zu stehen und rumzugrölen in der Annahme, davon würde die eigene Mannschaft (Und wie kommt man überhaupt dazu, irgendeine Mannschaft als sein Team zu betrachten?) doller spielen.
Wenn sich die Frage Proletariat oder Bürgerlicher tatsächlich daran festmacht, ob zu irgendwelchem Kollektivismus neigt oder eher dem Kult des Individuums anhängt, dann bin ich wohl ziemlich bürgerlich, denn Massen und Kollektive sind mir per se suspekt. Warum? Ich sage nur Sportpalast: "Wollt Ihr Maoam?" - "NEIN!" - "Wollt Ihr den totalen Krieg?" - "JAAAAAAAAAA!" Und wenn ich jetzt mal überlege, welche großartigen kulturellen Leistungen irgendeine Form des Kollektivismus hervorgebracht hat, dann komme ich schon sehr ins Grübeln.
... link
Ähnlich ergeht es mir unter (weiblichen) Bekannten oft, wenn ich es wage, etwas Kritisches über die Finanzbranche, über Finanzmarktregulierung etc. zu sagen oder düstere Zukunftsprognosen abzugeben. Dann heißt es immer: "Amelia, lass es sein, Du kannst doch sowieso nichts ändern!!!". Oder: "Immer diese Schwarzmalerei - man sollte doch nicht immer die Dinge schlecht reden. Wer sich anstrengt, kommt doch immer zurecht, bloß nicht die Schuld den anderen geben!!!". Ich denke, dass ich mit Recht behaupten kann, dass ich bislang durchaus gut zurechtkomme. Aber ich finde, man hat auch das Recht, sich Gedanken über Dinge zu machen, die nicht direkt nur die Gestaltung des eigenen Lebens betreffen (zumal ich einen Beruf habe, in dem es nicht ganz unerheblich ist, wie man bestimmte Strukturen und Entwicklungen einschätzt -ich finde, da ist es schon meine Pflicht, mir meine eigene Meinung zu bilden und nicht einfach wie ein braves Mädchen immer nur die Aussagen irgendwelcher CDU-Honoratioren nachzubeten).
... link
... link
es ist eben nicht entweder das eine oder das andere, sondern eine klug regulierte mischung wäre gut. man muss die spitzen herausnehmen bzw. es muss grenzen geben, innerhalb derer das individuelle interesse dem kollektiven nicht dermaßen schadet. oder spitzer formuliert: man müsste dem clanverhalten der oberschicht das darin enthaltene sippensolidaritätsprinzip für eine breitere allgemeinheit abschauen. es kommt auch immer darauf an, was man gerade aktuell mehr üben muss: eigene verantwortung für sich selbst zu übernehmen (das war nach der wende ja zum bespiel so ein großes thema) oder egoismen aufzugeben (scheint jetzt gerade wieder up-to-date).
@amelia: solche reaktionen in gesprächen kenne ich auch. manchmal zeige ich auch selbst diese reaktionen, weil mir das jammern von manchen leuten auf den wecker fällt. andererseits nützt es einem auch wieder nichts, wenn sich alle gegenseitig zustimmen. ich finde, man sollte es damit halten wie in einer guten partnerschaft: man darf den ganzen tag lang streiten, aber vorm insbettgehen sollte man sich wieder vertragen;)
... link
Aber es gibt ja noch mehr bürgerliche Werte...
... link
Realistischerweise wird man in jeder gesellschaftlichen Schicht von einer 80-90-prozentigen Arschlochquote ausgehen müssen. Und wer glaubt, dass bei den Proleten (oder bei welcher Subspezies auch immer) die Deppenquote signifikant niedriger wäre, ist in meinen Augen ein Sozialromantiker. ;-)
... link
Und natürlich schwappt die bürgerliche Arschlöcherigkeit qua Aufstiegsversprechen auch in die darunter liegenden Schichten über; die treiben's genauso egozentrisch, sind aber nicht durch die bürgerlichen Sozialverträglichkeitsriten abgepolstert.
Dumm- und Dreistigkeit sind als Verhaltensmuster in allen Schichten und Klassen anzutreffen. Dafür hat die kapitalistische Rundumverblödung bzw. Umerziehung vom Mensch zum Konsument schon gesorgt.
Da schließt sich der Kreis: Das Glücksversprechen des Warenerwerbs ist ein Essential des Kapitalismusses, der wiederum ohne das Entstehen des Bürgertums (und der bürgerlichen Werte) nicht hätte entstehen bzw. erfolgreich werden konnte.
... link
... link
... comment
oder um provokant zu fragen: Was ist Wedgwood ???
... link
... link
auch den chinesen.
... link
... link
... comment