Werbefrei

Disclosure: Manche meiner besten Freunde sind Werber.

Soziale Distinktion und Grenzen zwischen Schichten können sehr unterschiedlich aussehen. Dort allerdings, wo sich Schichten räumlich zusammenballen, gibt es Merkmale, die sich durch Jahrzehnte und Herrschaftsformen bewahrt haben. Dort, wo sich Reiche, Besserverdienende, die Elite, die Bonzen, man nenne sie, wie man will, niederlassen, gibt es gewisse Dinge einfach nicht. Und es ist besonders das Ausgrenzen einer Sache, die global in das Auge sticht: Werbung.

An der Zufahrt zum guten Viertel der Provinzstadt liegt eine Kunstmühle, die im Laufe der Jahrzehnte von den Repräsentationsbauren von Ärzten, Managern und Mittelständlern eingeschlossen wurde. Sie war ein Fremdkörper in einer Gegend, die sie früher beherrschte, und der Müller hatte wenig Verständnis für seine neuen Nachbarn. Desgleichen nicht für seine Mühle, und so liess er an der Hofmauer zwei Reklametafeln anbringen. Seit nicht allzulanger Zeit jedoch ist die Mühle im Besitz seines Sohnes, der ihn zu einer Wohnanlage umbaut, und nach dem Auslaufen der Verträge mit dem Aussenwerber sieht die Wand jetzt so aus:



denn Werbung macht jetzt die Preise kaputt. Das, was das Ensemble durch die Wirkung optisch im Wert verliert, ist durch die paar Euro des Plakatklebers nicht mehr herein zu holen. In der Ecke der Stadt leben nur 2% der Bevölkerung, es ist der Teil, der diese Stadt zum grössten Teil gehört, und auf diese Menschen kommt jetzt exakt 0 % der gesamten Aussenwerbung. An den Briefkästen wird überall Werbung untersagt. Man muss hier gar nicht darüber reden: Werbung ist unfein. Dass die Werbetafeln verschwinden, war jedoch durchaus Thema: Sie störten. Und man ist froh, dass sie verschwunden sind.

Man kommt ohne Werbung aus. Man muss es laut aussprechen: Man kommt ohne Werbung aus. Und jetzt das Ganze mal inhaltlich umdrehen: Man kommt nicht ohne Werbung aus. Man vergleiche

A muss nicht darüber reden: Werbung ist unfein.
B kommt ohne Werbung aus.
C kommt nicht ohne Werbung aus. Oder noch schlimmer, C kommt nur mit Werbung aus.

So wie das Fehlen von Werbung ein Kennzeichen einer Klassengrenze ist, wird ihre Anwesenheit zum Stigma derer, die sie benötigen und betreiben. Wenn man noch bedenkt, dass Werbung nicht vom Himmel fällt und durch den Preis wieder von den Kunden bezahlt wird, wenn man sich die gesamte asoziale Dimension von kommerzieller Werbung vor Augen hält, sollte verständlich sein, warum man sich, so man kann, davon entkoppelt.

Natürlich sucht sich Werbung Lücken im System. Werbekataloge von Sotheby´s schaffen es, gekauft zu werden, weil sie die Werbung mit Gegenwert verbinden. Es ist nicht unmöglich für Werbung, sich aus dem stinkenden Pfuhl der Verarsche zu erheben, die ihr Urgrund ist. Es gibt faire Geschäfte, und faire Information. Wenn hinten in einem Buch erwähnt wird, dass es von gleichen Autor noch weitere Bände gibt - wieso nicht? Wenn Labels CDs verschenken, in denen ein Querschnitt des neuen Programms zu hören ist - feine Sache!

Aber das Reindrängeln, das Rumschreien, das Anschleimen, und besonders der Versuch, auf der sozialen Schiene anzukommen, das Kaufen von Leuten, die Beziehungen monetarisieren wollen, das geht gar nicht. Und da darf man sich dann auch nicht wundern, wenn man Werbung nötig Habender schneller aus der Freundesgalerie fliegt, als die Plakatwände bei der Kunstmühle verschwinden.

Mittwoch, 11. Juli 2007, 19:49, von donalphons | |comment

 
Die einzige Grossflächenplakatfläche, die ich hier in unsere Umgebung, immerhin eine Gemeinde mit fast 20.000 Einwohnern, kenne, liegt in einer Nebenstrasse, an der pro Tag vielleicht 20 Leute vorbeikommen. Blöderweise noch parallel zur Strasse. Fällt kaum auf. Da musste ein besonders gieriger Grundstücksbesitzer sich ein paar Mark dazuverdienen. War mal eine gute Lage, weil direkt an der Ausfahrt eines Parkplatzes der Sparkassenfilliale. Nur: Seit 15 Jahren ist die Filliale dicht. Trotzdem wird sie weiter beklebt und wahrscheinlich vom Aussenwerber als "Premiumfläche" angeboten.

Was stört ist die beleuchtete Werbung an Bushaltestellen. Das ist klassenlos, weil die Kommunen überall kein Geld haben.

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Meine aktuelle Lieblingssozialschienenwerbung kommt von einer Grimmepreisträgerin: "Abends Skat mit den Mädels. Ich bringe Becel pro-activ mit ins Spiel. Mal sehen, wer sich zu seinem Cholesterinwert bekennt."

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Hehe...
Wo ist da die Zielgruppe?
Ich sehe Wagenschmiere Margarine vorallem bei nordischen Walkern im Bereich 50+, die meinen, nach mehreren Dekaden auf der Basis von Zigaretten und schwarzem Kaffee, noch ein paar Jahre damit rausholen zu können.
Nur die lesen sowas nicht online...

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Die erwischen sie schon irgendwo. Wenn nicht beim Skatspielen, dann am POS: Die Schauspielerin Barbara Rudnik ist Testimonial einer von Juli bis Dezember 2007 laufenden „Meine drei Wochen pro-activ Aktion gegen Cholesterin“. Barbara Rudnik möchte während dieser Aktion mithilfe von Becel pro-activ ihren erhöhten Cholesterinspiegel senken. Die Kampagne wird von Werbe-, PR- und POS-Maßnahmen begleitet. Weitere Informationen gibt es unter www.meine-pro-activ-aktion.de.

Und 50+? Mit Verlaub, Frau Rudnik ist auch nicht mehr die Jüngste.

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Was ist dieses Rudnik?

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Das Verschwinden der Werbeflächen scheint in Oberschicht wie Unterschicht zu gelten. - Bei uns in einem Viertel einer Großstadt sind alle großen Werbeflächen in den letzten Jahren verschwunden. - Zum "Glück" haben wir dafür umsomehr echte schicke Litfaßsäulen. ;) Dergleichen dienen auch weniger als Produktwerbung, denn als öffentliche Ankündigungen für (Kultur-) Veranstaltungen.

Generell empfinde ich auch Werbung im öffentlichen Raum als extreme Belästigung. Die Idee von São Paulo, einfach alle Werbeflächen zu schließen, sollte schule machen! Flickr-Set: http://tinyurl.com/2phr6v

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Wenn man wenigstens die historischen Kerne frei halten könnte, wäre schon viel gewonnen.

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Außenwerbung 2.0
Die klassischen Werbeflächen ziehen nicht mehr, weil viele Gewerbetreibende Alternativen gefunden haben. So werden beispielsweise Anhänger mit Werbung auf der Plane wechselnd im Stadtgebiet abgestellt. Andere verwenden dazu ältere Mini-Busse, die gleich mit unzähligen Logos und Namen des lokalen und regionalen Gewerbes zugekleistert sind. Die Veranstalterbranche läßt wild plakatieren bis die Schwarte kracht, z.B. an Flächen und Gebäuden der lokalen Verkehrsbetriebe und der Deutschen Bahn. Praktisch so etwas wie die Verramschung der Außenwerbung, Außenwerbung China-Style oder eben Außenwerbung 2.0.

Gruß

Alex

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Das besondere an Barbara Rudnik ist, dass sie eigentlich nie in einem schlechten (Fernseh)Film mitspielt.

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Aba isch abe gar keine TV.

selbst diesen spruch kenne ich nur aus erzählungen anderer leute

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Ist mir bekannt. Ich wollte auch nur was zur Ehrenrettung von Frau Rudnik sagen.

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Nun, bei uns ist "Ehre" mit "isch geh pokern ey" jetzt nicht wirklich in Einklang zu bringen.

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@alex:
Gewerbetreibende und Werbetreibende kann man nicht unbedingt in einen Topf werfen. Wer irgendwo einen Anhänger mit Werbeaufschrift in die Landschaft stellt, hat in der Regel eher nicht das nötige Budget locker, um die vielgesehenen Plakatflächen in seiner Stadt zu belegen. Die interessanten Flächen sind ja meistens eher von Markenartiklern und anderen Platzhirschen belegt. Dass der untere Rand wegbröckelt wie in dem Bild da oben, tut der Attraktivität des Werbeträgers insgesamt eher wenig Abbruch. Denk mal an die massiv plakatierte Toyota-Auris-Kampagne und den Versuch von VW, kurz vorher noch jede denkbare Restfläche für die Golf-Werbung aufzukaufen.

Ich will bestimmt nicht behaupten, dass Werbung generell eine Bereicherung des öffentlichen Raums ist. Aber wenn man über die Zumutungen spricht, darf man auch gerne mit berücksichtigen, dass Plätzen wie dem Times Square in N.Y. oder dem Picadilly in London was fehlen würde ohne das Geflimmer.

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Werbung kann folgendermassen als neue Kirche begriffen werden:
So wie das Leuten der Kirchenglocke als Missionierungsversuch lautstark die Ruhe der nicht zur Religion gehoerenden Menschen gewaltsam durchkreuzt, so stoehrt Werbung den Konsumunwilligen.

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Applaus!
Für die gute Beobachtung. Und für das schöne Bild.

Ich glaube, ich kenne das Viertel. Das ist die Gegend, wo man in den 80ern die Nase über jene Nachbarn rümpfte, die etwas größeres oder tieferliegendes als ne E-Klasse fuhren - denn mit sowas prahlten die "Neureichen". Und Audi ging damals absolut nicht - damit bewegten sich nur Arbeiter fort.

Was Deine Freunde angeht: Die brauchen das Geld. Doch sind sie noch jung?

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Ich moechte noch Folgendes hinzufuegen, da es mir am Herzen liegt und mein Argument verstaerkt.
Genau wie Kirche kann auch Werbung als der von vorneherein zum Scheiten verurteilte Versuch, Kunst zu popularisieren, bezeichnet werden.
Werbung will nicht nur wie Kunst aussehen, sie strebt, wie Kirche, die komplette Umwandlung aller Existenz in eine Kunstnachahmung an.

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