: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Donnerstag, 5. Juli 2007

Hausbibliothek der Aufklärung IV

Werfen wir doch mal einen Blick in den Bücherschrank. Nehmen wir an, wir leben im 18. Jahrhundert in der besseren Gesellschaft, Bürgertum aufwärts, und es gibt dieses Möbel und auch den passenden Inhalt, der schon damals viel über den Besitzer aussagt. Draussen vor dem Fenster wird vielleicht gerade einer verbrannt, der eine Prozession nicht grüsste, oder man bringt auf einem Karren Leute zur Galeere, die das Pech hatten, wegen des falschen Glaubens denunziert zu werden - das übliche in dieser Zeit, aber wir sind drinnen und gucken Bücher:



Drei Bände Titus Livius über die römische Geschichte, dann ein theologisches Lexikon aus Heidelberg in zwei Bänden, ein einzelner Band der 12-bändigen Erstausgabe des Apostolischen Wörterbuchs für Landpfarrer von Hyazinthe de Montargon, die komplette Polemiken gegen die Häretiker von Sardegna, ebenfalls in der Erstausgabe, dann jesuitische Marienminne, und dann wird es heiss, ganz heiss: Boccaccios Decamerone, gedruckt 1730 in Venedig, und dann die Erstausgabe von Rousseaus Brie... aber halt, so weit sind wir noch nicht - überlegen wir mal - nach welchem Buch würden wir am wenigsten greifen?



Des Augustinermönchs Hyazinthe de Montargon Dictionnaire Apostolique von 1752, avec Approbation & Privilége du Roi, das sich explizit an die Pfaffen wendet, die auf dem Kaff bitte die Schäfchen bei der Stange halten sollen, verspricht allergrösste Langeweile und theologische Debatten auf niedrigstem Niveau. Das mag der Grund für seinen grossen Erfolg sein, denn das auf Französisch abgefasste Werk erfreut sich vieler Nachdrucke bis ins 20. Jahrhundert. Ein Grund mag auch die Stellung von Montargon gewesen sein: Er war der Hofprediger von Ludwig XV., und damit am Hof der direkte Gegenspieler von Diderot, Voltaire und vielen anderen fortschrittlichen Geistern.



Kurz, Montargon ist einer der religiösen Fanatiker, die zu der Zeit langsam ins Hintertreffen geraten und zu retten versuchen, was zu retten ist. Schon das Inhaltsverzeichnis macht klar, dass es hier um einen Kampf ohne Rücksicht auf Verluste geht. Die Pfaffen in den Käffern sollen die Hölle anheizen und den Leuten die Schrecken des jenseits grell auspinseln. Montargon hat nichts Neues zu bieten, er gibt nicht nach, er will das eigene Klientel mit Druck und Zwang gefügig machen. Die beliebte Form des Wörterbuchs verkommt unter seiner Feder zur Waffe der Gegenaufklärung, und die geneigten Leser werden sich nun fragen: Was hat ein Scheusal wie Montargon in einer Serie über Aufklärung verloren?



Nun, auch Montagon kann sich den modernen Fragen nach dem Bewusstsein des Menschen, seiner Fähigkeit zu Gut und Böse, nicht wiedersetzen. Es ist die Zeit, da Emilie de Chatelet - eine Frau! Eine Frau und damit etwas, das Montargon nicht einmal in sein Wörterbuch aufnehmen wird! - mit ihrem Discours sur le Bonheur das menschliche Bewusstsein als Unterstützer und Helfer der weltlichen Freuden definiert. Ein unfassbarer Affront, soll doch das Bewusstsein allein der Erkenntnis der Religion, der richtigen Religion dienen. Montargon verbeisst sich in das Thema "Conscience", belegt mit Bibelzitaten und älteren, kanonischen Schriften, wie es zu sein hat und was das Bewusstsein darf - bis Seite 54.

Ich weiss nicht, wem das Buch im 18. Jahrhundert gehört hat. Wer immer es war, er hatte eine diabolische Intelligenz und überhaupt kein Verständnis für Montargon, aber sehr viel bösen, zynischen Humor. Denn von Seite 55 an wurde das christliche Bewusstsein aus dem Buch herausoperiert, und statt dessen Platz für ganz andere Zeugnisse des menschlichen Bewusstseins geschaffen:



Wie gesagt: Draussen vor dem Fenster bringt man zu dieser Zeit Menschen um, wenn sie das Falsche glauben, oder auch nur das falsche Buch lesen. Justiz und Kirche lesen nicht Voltaire, sie machen kurze Prozesse. Mitunter gibt es Freiräume, aber viele Bücher erscheinen in Holland oder fingierten Druckorten. Kommt ein neues Skandalbuch, distanziert sich der Autor sofort. Nicht aus Koketterie, sondern wegen der Gefahr. Bücherverbrennungen sind ganz normal, wer Aufklärer ist, lernt oft für ein paar Monate das Innere der Bastille kennen. Da ist es gar nicht dumm, einen öden Montargon zu entdärmen, um sicher zu sein. Denn wer sollte schon nach so einem Langweiler greifen?



Selbst ich, der ich alte Bücher um ihrer selbst willen mag, hätte es beinahe wieder weggelegt. Ich habe schon ein Wörterbuch zum Thema, das mich nicht sonderlich interessiert. Nur der Einband erschien mir so prächtig und atypisch für diese banale Bauernverarsche, dass ich darin blätterte.

Und dann diese feine Gemeinheit entdeckte, und aus den Seiten fast das Kichern hörte, das in einem Salon des 18. Jahrhunderts erklungen war, wenn der elende Pfaffe endlich verschwunden war, im dummen, durch die Ansicht der Buchrücken genährten Glauben, man hätte dort wirklich Interesse am geistigen Ausfluss der römischen Krankheit.

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Empfehlung heute: Radfahren

kann trotz des Wetters schön sein, wenn man ein klassisches Herrenrad wie das von Cut sein eigen nennen kann.

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Schräg gegenüber,

in nicht idealer, aber immer noch sehr guter Lage unter dem Dach, ist diese Agentur. Sie macht laut Schild am Eingang zwar Kommunikation, aber ich finde keine Website. Auch keine Referenzen, keine Partner, keine Kunden. Nichts. Selbst unter der Adresse kommen nur die anderen Mieter. Aber dennoch scheint es sie zu geben, denn sie sind da, und vom Besprechungszimmer aus sieht man sie manchmal am Abende beim Grillen.



In durchaus wechselnder Besetzung, übrigens. Es gibt wohl sowas wie Freunde, Partner und Kunden, oder zumindest eben Leute, die vorbeikommen. Ich hatte schon früher bei vielen Kommunikationsagenturen den Verdacht, dass deren Gründung lediglich zur Verbilligung von Wohnraum und zum günstigen Betrieb der "Firmenautos" dient. Es gibt so viele davon, und effektiv tun sie in München nichts, was man von aussen erkennen könnte.

Es ist nicht so, dass jeder einen Googleschatten haben müsste. Einer meiner Auftraggeber existiert im Netz schlichtweg nicht, und die paar mal, wo ihn jemand aus Gedankenlosigkeit ins Netz gestellt hat, ging er mit allen Mitteln erfolgreich dagegen vor. Bei uns ist das ratsam, da muss nicht jeder alles wissen. Aber unsichtbare Agenturen, dafür gibt es keine rationale Erklärung. Ich glaube wirklich, dass die kaum realen Geschäftsbetrieb haben, da gibt es vielleicht ein paar ähnlich gepolte Freunde, zwischen denen wird formal der immer gleiche Betrag rundum geschoben, um alle Vorteile dere Firma und keine Nachteile mit der Steuer zu haben. Ein Haifisch meint, dass man das schon so machen kann; in einem Fond, mit dem wir zu tun haben, sind nicht umsonst alle Beteiligten als eigene GmbH organisiert.

Vielleicht ist es an der Zeit, eine Art Erweiterung von John Mandevilles Bienenfabel zu verfassen, zumindest für diese Münchner Form des Dachterassenkapitalismus, seine Freuden und seine mutmassliche Einzigartigkeit, denn wo kann man sonst nach der nicht existierenden Arbeit, dem Spielen einer Agentur, am Abend mit Blick auf die Alpenkette das nicht Erreichte feiern.

ja. ich weiss. ich bin gerade wieder zu lang in münchen. geht nicht anders. leider.

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