: : : denn sie wissen nicht was sie tun sollen : : :

Samstag, 22. Juni 2013

Patina

In der Küche hängt immer noch die Papiertüte der Buchhandlung Poetzelberger aus Meran.

Die Tüte hat länger überlebt als die Buchhandlung selbst, die von Ignoranten geschlossen und durch eine Benettonfiliale - im ersten Haus am Kirchplatz - ersetzt wurde. Früher konnte man hier einen Führer kaufen, um Meran zu erkunden, heute billiges Zeug aus Skalvenfabriken in Bangladesh. Verschwunden ist diese Geschichte, wie mein Hotel Imperial, wo heute niemand mehr zum Frühstück Nusstorte bekommt. 5 Jahre ist das her, nicht viel Zeit eigentlich, aber meine eigene Lebensgeschichte hat den fatalen Hang, sich aufzulösen in Sentimentalitäten und das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füssen wegbricht.





Manchmal ist die Geschichte aber auch überaus freundlich zu mir und taucht mit Wohltaten auf, wie eine Fregatte vor der Insel eines einsamen Schiffbrüchigen, und ist ausgesprochen wohlwollend. Ein Ausgleich, vielleicht. Aber es ändert nichts daran, dass diese Wohnung inzwischen mit mir alt geworden ist, egal wie gut ich sie behandelt habe. Überall Patina. Schäden. Dellen. Reste von Orgien und Entsagung, und ich hoffe stets, dass ich das alles gut beseitige, bevor Besuch kommt. Ikeawohnungen sind Spiegel des Kapitalismus, meine Wohnung ist, je schlechter ich sie aufräume, ein Spiegel meiner Persönlichkeit, und kein Prism-Programm könnte das erfassen. Besucher schon. Also räume ich auf, lasse aber die Tüte hängen.





Weil dieses Jahr kein echtes Frühjahr kam, konnte ich mich mit dem Frühjahrsputz herausreden. Ausserdem war ich viel unterwegs, und wenn ich hier war, war viel anderes zu tun. So fällt es mir gar nicht auf, wie die Wohnung altert, und erst der Besucher mag die Spuren neben all den neuen Gemälden entdecken. Das Alter ist nicht abwischbar, das macht seinen Reiz für manche aus, für andere ist es eine Zumutung. Die klassische Partnerschaftsvorstellung - Frau zieht ein und schafft sich ihren Bereich - zum Beispiel gonge nur, würde ich neue Räume dazu nehmen. Die Wohnung ist so egoman wie ich. Aber ich denke, das war die letzten 170 Jahre immer so, man schmilzt in die Oberfläche des Hauses ein, hinterlässt seine Zeichen und Schrunden und das ist dann am Ende das,. was man als Tradition bezeichnet, wenn noch jemand da sein sollte, den die Geschichten interessieren - woran ich aber nicht glaube. Unsere Gewgenwart ist ein Triebwerk mit Nachbrenner, in dem die Geschichte zu Plasma verheizt wird. Die einen wissen nicht, dass es anders geht und die anderen lügen sich reaktionäre Fassaden zurecht.





Vielleicht sollte ich es ja wie alle anderen machen und austauschen, was sich nicht mehr entgültig reinigen lässt. Zumindest das Bad machen lassen, irgendwann... das ist ja kein Problem, rein von der Logistik her, ich habe oben ja noch eines. Meine Angst ist, dass das Bad dann wiederum seltsam neben all den alten, bewusst unveränderten Dinge wirkt, und das fängt schon bei der Badtür an, die hier seit dem Rokoko in Eisenbändern läuft und damals Zugang zu einer Schlafkammer war. Es gibt zum Verfall nur die Alternative des Ersatzes - und als Mensch würde ich mir das genau überlegen, denn das endet nicht bei der Badewanne, sondern geht weiter und weiter in die Verzweiflung, die manche zum Irrsinn der plastischen Chirurgie treibt, und andere zu nicht wirklich schönen Entscheidungen: Weg mit allem, das nicht mehr passt. Rente mit 75, wenn man sie denn erreicht, weil man mit 60 ausgestellt wird, und die Zeit dazwischen überleben sollte. Das ist die Zukunft, und ich lebe in der Vergangenheit.

Meistens dauert es zwei Tage, dann sind die Gäste hier auch eingeschmolzen. Offene Gasrohre mit Flecken sind erträglicher, wenn daneben ein Natura Morte seine Pracht unter dem Kronleuchter in der Küche auffunkeln lässt.

... link (36 Kommentare)   ... comment