Real Life 20.06.08 - Unter eurem Himmel

So wie heute müsste es dann auch sein. Dieser perekte Provinzsommer, wie immer um diese Zeit. Warm, aber nicht zu heiss, noch nicht allzu schwül, ein paar rautenförmige Wolken am blauen Himmel, dazu dieser Garten, ein Zelt, die Stühle, eine kleine Tonanlage, ein paar Dutzend Gäste und für jeden etwas. Eine Berlingeschichte fürs bayerische Gemüt, die überleitende Rolexgeschichte über das Erwachsenwerden im besseren Viertel für ein leichtes Unbehagen, dann eine verschobene Perspektive, andersrum, etwas über Elitessen in der Heimat, die hier allgemein misstrauisch beäugt werden, und als Rausschmeisser dann noch die Geschichte von der heiligen Walburga und dem Stadtpfarrer aus einer zum Glück lange vergangenen Zeit, als Zugabe die Überleitung zu den Erdbeertorten. Das alles in der Hoffnung, dass nicht nur Iris und Susi sich dabei amüsieren und auch etwas Geld zusammenkommt, für den guten Zweck, von dem manche wieder denken würden, du hättest etwas übrig für Kinder. Dabei geht es eigentlich nur um den Test, wie das hier funktioniert, von wo alles seinen Anfang nahm, ob man es zurücktragen kann ins Herz der Nichtigkeit, die der Kitt für das Zusammenhalten in diesem Viertel ist, wo Susi den rechten Schuh auszieht und mit ihren knubbeligen Zehen Gräser ausrupft.



Es geht, es geht sogar sehr gut. Weil du die Stelle mit der Apothekerstochter verschwiegen hast, schliesslich ist ihre Tante die Kulturbeflissene, die das hier verantwortet, die besagte Tochter wird auch kommen und ihr Mann und vermutlich auch das Balg, und weil hier natürlich jeder weiss, wovon du sprichst, ist es besser, gewisse Dinge nicht zu sagen. Man ist amüsiert, man ist froh, dass es nicht um die unverständliche New Economy geht, und auch das, was das Buch hier bekannt gemacht hat - der Umstand nämlich, dass sich jeder gefragt hat, ob es sein Butzenscheibenimitat war, das in Liquide wenig vorteilhaft beschrieben wurde - kommt nicht vor. Du bist im Minenfeld geboren worden, du hast im Minenfeld gelebt, und du wirst dich am bald kommenden Sonntagsmorgen auch nicht in Gefahr lesen. So zumindest der Stand nach der dritten Geschichte.



In Geschichte vier verlierst du die beste Freundin der Veranstalterin. Alle glucksen und kichern, alle kennen die böse Geschichte: Da war nämlich der Pfarrer K., der alle Kinder in der Schule nötigte, wochenlang vor Weihnachten das Geld für die Pausenbrote, die der Hausmeister zu verkaufen pflegte, in Pappkrippen zu stecken, auf denen der Name der Schüler vermerkt war, und wer nicht genug brachte - das war allen klar - würde wenig Spass haben. Gehilfin von K. war Frau D., und die wiederum hatte eine Schwester mit Blumenladen gleich zwischen Schule und Kirche. Dorthin trug K. das ganze Geld für die hungrigen Negerkinder und kaufte Blumenschmuck für die Kirche, und als es aufkam, predigte er wutentbrannt, dass es doch gut sei, die Kirche tue sowieso alles für Afrika und es sei sowieso alles zum Ruhme des Herrn Jesu Christi, Amen, und die Gemeinde hielt brav das Maul. So war das damals, aber du verlierst die Freundin der Veranstalterin.



Sehr schön, sagt sie nach Ende des Vortrages, nur die letzte Geschichte geht nicht, das können sie hier nicht machen. Jeder weiss doch, wer K. war. Man muss das doch nicht alles aufwärmen, und er hatte auch seine guten Seiten.

Ach? Die 100% für die CSU im Altersheim, das er betreute? Die Erbschleichereien bei der alten Frau O., wegen denen es zum Prozess kam? Die fehlenden Verwendungsnachweise? Die blauen Flecke der Ministranten? insistierst du, weil hier und jetzt der Ort ist, an dem es sich zeigen wird, was geht im schönen Bayernland, über 30 Jahre nach den Ereignissen und 20 Jahre nach dem Tod von K., der so viele Tugenden wie ein Opel Astra mit einen zugekoksten New Economy Gründer am Steuer hatte.



Gut, versucht die Apothekerstochtertante zu vermitteln, es ist ja nur ein kleiner Kreis, im Internet wo viele heute alles mögliche schreiben, also diese Foren da, da wäre es natürlich unschön, solche Geschichten zu lesen, aber unter uns - er war schon schlimm. Das muss man heute schon sagen dürfen. Meine Nichte hatte auch Angst vor ihm, das war noch einer vom ganz alten Schlag. Die Geschichte zeigt ihn, wie er wirklich war.

Sodann wird die Einladungsliste herumgereicht und überlegt, ob ein "Nihil obstat" erteilt werden kann, nicht dass jemand kommt, der brüskiert sein könnte, Familie A. sicher nicht, die B.´s auch nicht, die D. bringt ihre Kinder nicht mit, das sollte auch gehen, Herr Dr. F. ist ohnehin ein Freigeist, Frau F2. hat ihre Kinder noch nicht mal taufen lassen... In dir reift solange der Plan, eine Alternative anzubieten, die natürlich erst noch zu schreiben ist, über die goldenen Tage auf der Empore des Tennisclubs - und als sie beim Klan Dr. L. ankommen, sagst du es: Ich könnte natürlich, ich mein, ich will keinesfalls einen Skandal, und man muss ja auch nicht die Leute verschrecken, das stimmt schon, also, alternativ auch etwas über das soziale Leben auf der Empore des Tennisclubs schreiben, das plane ich schon länger, über die Selbstverständlichkeit, wie dort Schichten zusammenkommen, um dort Sport zu treiben...



Es ist sehr schön, in diesem Garten. Das Grundstück ist gross, das Haus ist ganz hinten, gewissermassen fast an das andere Haus gebaut, das die Parzelle dahinter dominiert. vorne weit, hinten nah beieinander, man kennt sich, grüsst sich, und man nimmt auch das Babygeplärre nicht krumm, ach woher denn, und man redet auch nicht vom Problem, dass der Vater des spät empfangenen Kindes, und man macht auch keine schlechten Witze mit der Übertragung von den Fachwörtern des Tennislehrers auf das andere, man sagt gar nichts, man weiss, jeder weiss, aber man hat keine Ahnung und würde jetzt auch nicht direkt betonen, dass eine Lesung mit einem Tennisclubsittenbild als Höhepunkt weniger schicklich wäre, als das der ahnungslose Betrachter vermuten wollte.



Ach, das ist doch lächerlich, sie müssen sich da gar nicht weiter anstrengen, betont die Apothekerstochtertante ein wenig unwirsch, K. hat so einen Text verdient, ich finde ihn eigentlich sehr gut, und jeder der kommt, weiss doch, dass unser Herr Porcamadonna kein Kind von Traurigkeit ist.

Dann sagt erst mal keiner was, die Luft bläut und die Amsel zwitschert, dass nur sie hier ficken wird. Susi zupft mit den Zehen ein Gras aus der Wiese, und dann sagt die Freundin der Organisatorin sehr langsam, die Oberfläche des angeblichen Unwissens, Nichtgehörthabens zerbrechend: Verzeihen Sie die indiskrete Frage, aber kann es sein, dass sie noch eine offene Rechnung mit der Stadt haben?



Es ist der 20. Juni 2008. Heute feiern sie gegenüber im katholischen Gymnasium das Abiturfest. Vor 20 Jahren ist es ausgefallen. Da hatte man eine begnadete Flötistin wegen einer Lappalie durchfallen lassen, auf die ganz miese, hinterfotzige Tour, wie es nun mal so ist im katholischen Bayern, so dass ihr das erträumte Flötenbaustudium verwehrt blieb, und sie sprang vom Hochhaus. Iris und Susi waren damals dabei, als ihr euch vor der Kneipe getroffen habt, es war ein wunderschöner, blauer Abend, die Luft war mild und V. meinte, dass man jetzt da hingehen sollte und den Drecksladen anzünden. Ihr seid nicht gegangen, ihr habt nichts getan. Manche haben sich untergeordnet, es gab dann noch einen Schub Selbstmorde, du bist geflohen in andere Städte und Länder, Iris hat geheiratet, es ist 20 Jahre her, nur eine Geschichte, eine Rechnung, die noch zu begleichen sein wird, aber nicht durch das Schreiben, das verdrängt nur die Dämonen, aber es bringt sie nicht um, dazu müsste man schon die Menschen erschlagen, und das will doch keiner, in dieser schönen Stadt unter diesem unfassbar grandiosen Himmel des Sommers, der so vieles vergessen lässt.

(Himmel über der Dachterasse, heute von ca. 20.20 Uhr bis 21.40 Uhr)

Freitag, 20. Juni 2008, 23:25, von donalphons | |comment

 
Warum nur bekomme ich jetzt plötzlich Lust, ein paar Italo-Western anzuschauen ... gute, alte Rachegeschichten!

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"Es gibt zwei Arten von Menschen. Die einen haben einen geladenen Revolver und die anderen buddeln!" Manche haben auch ein Blog, und die anderen ahnen nichts davon.

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OK, vielleicht eine Geraderückung: Es gab ein paar Konstanten in diesen ersten zwei Dutzend Jahren, die nicht besser hätten sein können. Meine Elten haben sich fast zu viel um uns gekümmert, es gab jenseits des Themas des guten Benehmens, das spielerisch vermittelt wurde, kaum Restriktionen, und was es gab, ist irrelevant im Vergleich zu dem, was andere erlebt haben. Umgekehrt würde ich meinen, dass auch meine Eltern und der gesamte Clan in Bezug auf mich keinen Grund zum jammern hatte: Auf dem Papier bin ich ein erzreaktionärer Knochen, ich hatte, wenn man von der Rennradlerei in der Stadt absieht, keine Verhaltensweisen, die Anlass zur Klage gegeben hätte, und versuche nach Kräften, das, was mir gegeben wurde, wieder zurückzugeben, selbst wenn es in den letzten Jahren angesichts von einigen Todesfällen in der Familie und dem nicht leichten Vorspiel nicht das ist, was man erlebt haben muss - oder vielleicht doch? Dass ich da nicht wegschaue wie viele meiner Altergenossen aus der besseren Gesellschaft, war klar.

Die Familie kommt zuerst.

Aber aussenrum war vieles, was gar nicht gut war. Diese Stadt war bin in die 90er reaktionär und klerikal durchdrungen, scheinheilig, doppelmoralisch und bis in die Knochen korrupt. Die Schulen waren nach heutigen Massstäben vollkommen indiskutabel, viele Lehrer krank - einer wollte nicht, dass ich das Latinum bekomme, und hat mir in einem Jahr 26 mal eine mündliche 6 verpasst und gezielt falsch benotet, um mich irgendwie unter die 4,5 zu bringen. Es gab ein altbraunes Kartell der Geschichtsforschung, es gab an der Schule, auf der Susi war, einen Geschichtslehrer, der seinem Sohn zum 18. eine SS-Uniform geschenkt hat. Es gab den Karrieristen bei der CSU, der besoffen Auto fuhr und seine Tochter misbraucht hat, und es gab auf der anderen Seite den Bankdirektor, der seine Kinder in barbierosa Tüllzimmer steckte und sie auch mit 18 noch um 10 ins Bett schickte. Ich hatte in meiner Gymnasiumszeit nur drei Lehrer, die mir was für das Leben mitgegeben haben - einer wurde in der Schule wegen seiner Heirat mit einer Schülerin in den Selbstmord gemobt. Diese Stadt war eine harte Schule, ich habe sie überlebt, ich war nie auf Station 38, und nach 20 Jahren habe ich alles, was ich brauche, um in diesem immer noch latent feindlichen Umfeld existieren zu können. Es gibt inzwischen zu viele von uns, man kann das heute nicht mehr unter den Teppich kehren, was man früher aus der Stadt zu verweisen suchte. Weil es inzwischen die entscheidenden Kreise mürbe gemacht hat und sie zwingt, sich damit abzufinden.

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Mit einer kleinen Stadt hat jeder eine Rechnung offen.
Nur beglichen wird sie selten.

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In Wahrheit gibt es nichts ausser kleinen Städten. Nirgends. Es sei denn, man kommt vom Kaff. Da hat man noch mehr Rechnungen, oder absolut gar keine. Aber ich arbeite daran.

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