Begehbar

Ab einem gewissen Alter hört man auf, intensive Alpträume zu haben. Manchmal wüsste ich gern, ob es zumindest bei mir die Folge einer Lebensentwicklung ist, in der ich meine Alpträume begehen und befahren kann. Und wie das bei denen ist, die weitab in den Vorstädten nie wissen, dass es noch diese anderen Welten gibt. Sie allenfalls bei heute oder RTLII sehen. Sehen und erleben sind zweierlei, es ist ein unüberbrückbarer Gegensatz.



Daheim sind sie alle so glatt, da sind keine Narben, keine Grate, keine Brüche, das Leben fliesst in engen Bahnen und alles, was nicht direkt den Lauf kreuzt, existiert nicht wirklich. Der Schmerz, das Unglück entzündet sich am Nichts, banal und leer sind alle Konflikte derer, die nie ahnen werden, wie es ist, hinter der Mülltonne jemanden mit der Spritze zu sehen, und die Testosteronstinker, die darüber hinwegsteigen auf der Suche nach einem weniger auffälligen, mit Sperma füllbaren, vielleicht risikoloseren Zerfallsprodukt unserer Gesellschaft. Daheim kennen sie auch nicht die Schüsse und das Tablettenproblem, das langsame Abgleiten in die Katastrophe, sie kennen nur die paar kleinen Skandale, und wann immer ich zurück komme von den Boulevards der realen Alpträume zu den traumlosen Schläfern, fühle ich mich unendlich alt und durchgeprügelt, ohne dass mich je ein Schlag wirklich getroffen hätte, denn es sind nur meine Alpträume und nicht die Realität derer, die darin vorkommen. Es ist manchmal nur eine Kreuzung im vorderen Orient, ein Wald in Ostbayern, drei Blocks in Frankfurt am Fuss der Türme oder eine noch immer nicht gelöschte Website, die von denen erzählt, deren Tod die Schläfer nie verstanden haben und auch nicht verstehen wollten. Und wahrscheinlich längst vergessen haben. Warum auch nicht. Sie waren nicht dabei, sie kennen es nicht, und es ist weder ein Verdienst noch eine Ehre. Es geht auch ohne den Tanztee mit den Erynnen im Separee der Erinnerung.

Dienstag, 2. Mai 2006, 19:19, von donalphons | |comment

 
Die begeh- und befahrbaren Alpträume sind das Ergebnis zweier offener Augen und eines funktionierenden Hirnes dazwischen. Manchmal denke ich, es wäre einfacher, ein wenig dümmer zu sein, mit Scheuklappen umherzulaufen - ganz nach dem kindlichen Motto "was ich nicht sehe, ist nicht" - und mir weniger Gedanken um meine Umwelt zu machen. Aber dann hätte ich ja das Problem der Handtaschenauswahl oder der Autogrößen-Potenz-Korrelation. Und das können sehr schwerwiegende Probleme sein.

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Auf jeden Fall lieber so und anders. Übertriebene Selbstsicherheit ist oft an an Dummheit grenzende Verdrängung gekoppelt.

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Auch in der Vorstadt gibt's Probleme, arrogant, zu vermuten, dass es nur im "Ghetto" schlimm sein kann. Augen zu machen kann ich überall.

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Stimmt, aber das kennt man ja, das ist "embedded", damit kann ich umgehen. Und bei ähnlich üblen Katastrophen mit weitaus nichtigeren Anlässen versehen.

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Boulevards der realen Alpträume - Tanztee mit den Erynnien - geil!

Abgesehen davon, dass das natürlich stimmt.

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"Sehen und erleben sind zweierlei, es ist ein unüberbrückbarer Gegensatz."

Sehr wahr!

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Wenn derlei Phänomene solch tolle Texte als Reaktion darauf hervorbringen, werden sie mir fast schon wieder ansatzweise sympathisch.

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