Zeit der Extreme

Extrem sterben.



Oh, keine Frage.
Wir erleben natürlich auch Extreme des Todes.
Sogar viel anschaulicher und massiver als früher.
Damals war der Tod, das Krepieren und Gehen
nicht im Mindesten so allgegenwärtig wie heute,
da wir die Glotze nicht durchzappen können,
ohne einen stellvertretendes Tödlein zu sehen,
das zu erleben wir ansonsten - pardon - vermeiden.
Tod. Ist ja nicht so schlimm in Medien, gehört dazu,
der Held fickt nachher trotzdem die Überlebende,
Persönlichkeitskrise, warum denn, bitte Küssen,
Abspann, Tod treibt Handlung, das ist alles.

Wenn möglich, verpacken wir ihn in Zahlen,
mehrere tausend Tote wo auch immer, fern von uns,
click mich an, mach mir die Quote, schlimm, oh,
tja, nun das Wetter. Oh nein, Gewitter am Nachmittag.
Und nun zu den Produktinformationen, billiger!
Es gibt den Tod, man wird täglich darauf hingewiesen,
aber etwas anders und netter, als es früher üblich war.
Nicht so vulgär, so in der Mitte von uns allen.
Das Morbide, die Groteske, das alles packen wir
in die Kategorie Horror, ein Kitzel, aber keine Wirkung.
Wer den Tod bekommt: Nicht stören, bitte ins Altersheim.

Extrem leben.



Wir leben in bunt. Starck macht rotes Plastik,
nur Gold, da trauen wir uns nicht so richtig.
Wir Parvenüs der vergangenen Epochen
die wir Farbcodes haben und Einrichtungssendungen,
wir nehmen, was geht, und was wir uns trauen.
Wir haben Moden vom Nierentisch zu Maria Weiss
und viel Halogen, um das Elend auszuleuchten.
Nur Illusionen bauen und leben wir nicht mehr,
Grotten für den Sommer oder exotische Tapeten.
Neben uns brummt die Klimaanlage das Lied
von AKWs und Braunkohleverschwendung.

Unser Asien ist garantiert echt und nicht lackiert,
keine Illusion, sondern echt originale Kinderarbeit
Russland schenkt uns seine gepressten Holzspäne
und Kirschfurnierimitat blinkt unter Epoxyd.
Der nordische Konzern, der unser Leben liefert,
urlaubt unser Geld an den blitzenden Bahamasstrand.
Wir machen uns nichts mehr vor, keine Phantasie bitte
oder gar etwas, das Arbeit bedeutet und Putzen,
wir fressen Ritalin vom Plastikteller und alles ist gut,
viel besser als die Deppen von früher, die tot sind,
und von denen wir uns keinesfalls stören lassen.

Aber wir leben, wir leben nicht schlecht, gut sogar
und es kann uns scheissegal, wir erfinden neu,
die Industrie hilft gerne mit Pappe und Polymeren,
wir schleppen es heim, schreien in das Fernsprechgerät,
Schatzi, ganz toll, und es war superbillig und praktisch,
praktisch ist es natürlich auch. Schatzi glotzt an
und schiebt Convenience in die Mikrowelle.
Schatzi zieht sich nachher vielleicht sogar aus,
wenn der Porno als DVD rotiert, danach Studium
der aktuellen Supermarktangebote.

Wozu noch sterben?

Dienstag, 1. Juli 2008, 14:30, von donalphons | |comment

 
@"Damals war der Tod, das Krepieren und Gehen
nicht im Mindesten so allgegenwärtig wie heute,
da wir die Glotze nicht durchzappen können" ---- Da käme es drauf an, wie Du "damals" definierst. Der Totenkopf oben wurde als Memento-mori-Symbol modern, als schon die Vierjährigen auf dem Marktplatz den öffentlichen Hinrichtungen zuschauten und Galgen und Geräderte die Handelsstraßen säumten.

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"als schon die Vierjährigen auf dem Marktplatz den öffentlichen Hinrichtungen zuschauten und Galgen und Geräderte die Handelsstraßen säumten"

Mit ganz wenigen Ausnahmen war die Halsgerichtsbarkeit in der betreffenden Zeit nur eher selten anzutreffen. Es gibt Ausgrabungen auf Galgenhügeln, die auch nach Jahrhunderten der Nutzung nur 4, 5 Bestattungen aufwiesen. Befunde von Pfählung oder Rädern sind extremst selten. Die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts zu diesem Thema sind heftig übertreiben, teils auch wegen der Sensationsberichte, die damals schon mit Übertreibungen aufwarteten, oder hängen sich an spektakulären Einzelfällen auf. Ohne da etwas beschönigen zu wollen: Auch im Mittelalter pflegte man meist im Bett zu sterben.

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Ich rede ja gar nicht vom Mittelalter. Die Totenkopfsymbolik erreichte ihre weiteste Verbreitung, beginnend mit dem Dreißigjährigen leicht gestörten Frieden, im Barock.

Ansonsten kenne ich, was das späte Mittelalter betrifft, die Abrechnungsliste des Berliner Scharfrichters von 1399-1448. Sie umfasst 51 Erhängungen, 34 Enthauptungen, 20 Verbrennungen Lebendiger, 17 Räderungen und 10 Frauen, die lebendig begraben
wurden.

In Hamburg waren im 15., 16. und 17. Jahrhundert 1-2 Hinrichtungen im Jahr Schnitt, die wurden aber wie große Volksfeste inszeniert mit Tausenden von Zuschauern. Normale Formen des Strafvollzugs wie Prangerstehen, Auspeitschen und Stäupen waren hingegen an der Tagesordnung.

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Und hier wird aus alltagshistorischer Sicht das Thema perspektivisch auf eine Art beleuchtet, der ich auch zustimmen würde. Nicht die Häufigkeit der öffentlichen Leibstrafe stand im Vordergrund, sondern ihre spektakuläre volkspädagogische Inszenierung, sozusagen im Sinne von Nachhaltigkeit. Nebenbei, ich schätze die Kollegin, die sich große Verdienste zu den Nachkriegsbiografien von Shoah-Überlebenden erworben hat - aber dass eine Historikerin, die sich mit Hinrichtungen und sonstigen Körperstrafen beschäftigt, "Übelhack" heißt, nun ja, es gab auch mal eine Domina Chantal Henker....


http://www.societyofcontrol.com/library/history/uebelhack_ehrstrafen_am_koerper_n'_der_n'_der_fruehen_neuzeit.txt

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na ja, Berlin halt.
Und ansonsten: War da tatsächlich die Nachhaltigkeit im Vordergrund, nicht eher eine Mischung aus Rachegedanken und dem Spectaculum? A bisserl sollte man dem Volk ja bieten.

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Das kommt alles zusammen, mit Nachhaltigkeit meinte ich eine möglichst langanhaltende Erinnerung an die Hinrichtung, um Abschreckung zu erreichen. Ließ den Link halt mal durch.

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Mit anderen Worten, das finsterste Mittelalter war in Bezug auf Todesstrafen, Leibesstrafen und Folterungen ziviler als es beispielsweise ein großer Verbündeter in seinem Kampf "für die Demokratie" auf dem Boden fremder Länder ist.

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nicht nur die hinrichtungen, jedes jahr eine, es gibt da einen herrlichen sketch um den pfarrer jung*) und die kirchweihfeste im oberen baiern, die als elend langweilig galten, wenn da nicht eine rauferei losging und in folge der eine und andere ums leben kam.

damals starben die leute nicht nur an ihren krankheiten (kindersterblichkeit und tod im kindbett war damals die regel, nicht die ausnahme) sondern in kreis ihrer familie und die familien waren damals gross.

von daher war der tod teil des lebens, soziale realität, die unmittelbar erfahren wurde.

so ähnlich, wie man damals eben aus unmittelbarer anschauung wusste, dass, wer fleisch haben wolle, tiere schlachten musste. dass man im winter fror und im sommer schwitzte, bloss dass das frieren lästiger war.

----
pfarrer michael von jung, hier gibts was über ihn, verlinkt:
http://als.wikipedia.org/wiki/Michael_von_Jung
(fpr die kenner des oberen schwabens interessant, dass man nach tettnang strafversetzt werden konnte, welches seinerzeit württ. oberamtsstadt, später kreisstadt war)

eis gibt da auch ein (leider immer noch zu wenig) bekannte stück über ihn, sing nicht vogel! heisst es, hier, nochmals unverschnitten: http://als.wikipedia.org/wiki/Sing_nicht,_Vogel!

in dem stück werden, neben der giftmischerei und ihrer ahndung durch hinrichtung auch die kulturellen interessen der schäfchen des herrn pfarrer v. jung angesprochen, der meint, es gäbe da jedes jahr die fronleichnamsprozession und dann noch eine hinrichtung, das sei ihnen im ort kultur genug.

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Ich erinnere da gerne
an ein hierzulande oft gesungenes Volkslied - in Dur:

Do legst di nieda
und stehst nimma auf
Do legst di nieda
mia genga olle drauf.

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Das kann man auch anders singen (norddeutsche Version)
Da zitiere ich mich dann mal selbst:

http://che2001.blogger.de/stories/858431/

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"Damals war der Tod, das Krepieren und Gehen
nicht im Mindesten so allgegenwärtig wie heute,"

Das würde ich so nicht formulieren, ganz im Gegenteil: während ein durchschnittlicher Europäer gute Chancen hat, bis zu seinem 30. Lebensjahr niemals einen "leibhaftigen" Toten, also eine Leiche, zu sehen, da die Menschen immer älter werden und der Tod mehr und mehr steril im Krankenhaus abgehandelt wird, war dies im Mittelalter grundlegend anders: der Tod gehörte so selbstverständlich zum Leben wie alle anderen Aspekte des Lebens auch. Krankheiten, Hunger, Seuchen und Krieg sorgten dafür, dass man keine Chance hatte, den Tod zu vergessen: er war allgegenwärtig. Und nicht etwa irgendwie larifari weichgespült in den Tagesthemen, sondern direkt und unverfälscht im Kindsbett.

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Reinhard Mey hat übrigens während eines Auftritts mal eine Grabsteininschrift zitiert, die ich Euch hier nicht vorenthalten möchte:

"Hier liegen meine Gebeine,
ich wünschte es wären Deine."

;)

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nett ist ja auch
die bayerische Variante von

Am 30. Mai ist der Weltuntergang
Leid fresds ois zam,
mia lebm nimma lang.

Sehr, sehr bayerisch.

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Ja, so ungemein originär bayerisch wie

"Am 30.Mai ist der Weltuntergang,
wir leben nicht mehr lang,
wir leben nicht mehr lang,
doch keiner weiß,
in welchem Jahr,
und das ist wunderbar!"

zu hören auf jedem Schützenfest in Hannover.

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@Christian S.: Klasse ist die Art, wie sich das gewerkschaftliche Beerdigungsinstitut in Bremen abkürzt: GEBEIN.

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Die Wiener Variante
Es wird a Wein sein, und mir wer'n nimmer sein,
D'rum g'niaß ma 's Leb'n so lang's uns g'freut.
'S wird schöne Maderln geb'n, und wir werd'n nimmer leb'n,
D'rum greif ma zua, g'rad is's no Zeit.

Wer wird denn schon spar'n, das fallt uns gar net ein,
Das heb'n ma uns auf, bis ma sterb'n.
Da müaßt ma in Wien nöt auf d' Welt kumma sein,
Wann Ana von uns wollt was erb'n.
Mir lassen nix z'ruck, no das is schon bestimmt,
Mir ham Alles gern, nur kan Streit.
Und daß ka' Notar unsern Erben was nimmt,
Verjuck ma halt 's Geld voller Schneid.

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Der Unterschied ist die Zeile mit dem Zusammenfressen, das ist bayerisch.

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Unerwartet und gewaltig!
Schön, dass es diesen Don auch noch gibt.

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Gerne wieder, man dankt.

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